von Lirael Vanya'thiel » 20 Jul 2025, 23:15
Episode IV: Die Rückkehr nach Yew
Ankunft im heiligen Hain
Der Wald von Yew empfing sie mit jener eigentümlichen Stille, die nicht leer war, sondern angefüllt mit dem leisen Wispern von Wurzeln, dem Flattern verborgener Flügel zwischen den Ästen und jenem kaum hörbaren Summen, das sich nur jenen offenbarte, die mit offenem Herzen kamen.
Es war früher Abend, doch das Licht unter dem dichten Dach der uralten Bäume wirkte wie gedämpftes Gold, zerbrochen in flackernden Streifen, die über das Moos tanzten und in denen Staubkörner wirbelten, als wären sie kleine Wesen aus einer vergessenen Zeit.
Lirael ging langsam, fast zögerlich, mit einer Anspannung in den Schultern, die sich trotz aller bewussten Bemühung nicht lösen wollte. Jeder Schritt schien mehr zu wiegen als der vorige, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht nur Gewicht, sondern auch Erinnerung aufnehmen.
Rianon war bei ihr, stets einen halben Schritt hinter ihr, nicht aus Unsicherheit, sondern mit jener bedachten Zurückhaltung, die er oft zeigte, wenn er spürte, dass etwas in ihr zu arbeiten begann, das Worte nicht tragen konnten.
Sie hatte ihm nichts gesagt, als sie an jenem Morgen gemeinsam aufgebrochen waren – nur ein Nicken, ein Blick, ein schlichtes „Es ist Zeit.“ Und er hatte verstanden, ohne zu fragen.
Der Pfad, den sie nun gingen, war längst überwachsen, kaum mehr zu erkennen, nur durch einzelne Wurzelwölbungen und das eigenartige Muster der Farnblätter als Weg zu deuten, wenn man wusste, wonach man suchte.
„La liegt weiter nördlich“, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu ihm, und ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren, belegt von etwas, das sie nicht benennen konnte – war es Angst? Ehrfurcht? Oder nur die Nähe zu etwas, das sie tief in sich lange verschlossen gehalten hatte?
Je weiter sie vordrangen, desto mehr veränderte sich die Atmosphäre. Das Rauschen der Blätter wurde langsamer, gedehnter, als würde der Wind selbst den Atem anhalten. Die Tiere verstummten nicht, aber sie zogen sich zurück, beobachteten vielleicht – aus Bäumen, Höhlen oder aus der Luft – ohne sich zu zeigen.
Lirael blieb stehen, ihre Hand an einem moosbedeckten Stamm ruhend, und schloss für einen Moment die Augen.
In der Ferne, kaum mehr als ein Hauch, glaubte sie ein Flüstern zu hören – kein Wort, kein Ruf, sondern etwas wie ein Erinnern, das von unter der Erde kam, dort wo Wurzeln wie Adern durch das Erdreich strichen.
„Hier hat sie mich früher hingebracht“, murmelte sie, und nun klang ihre Stimme anders – weicher, durchlässiger, als wäre sie zugleich wieder das Kind, das sie einst gewesen war.
Rianon schwieg, doch sie spürte ihn neben sich – nicht aufdringlich, nicht drängend, sondern gegenwärtig wie ein ruhiger Strom, auf den man sich verlassen konnte.
Sie setzte sich auf einen halb umgestürzten Stamm, von Pilzen bewachsen und von feuchtem Farn umgeben, und ließ den Blick über die Bäume wandern.
„Ich erinnere mich an ein Lied“, sagte sie schließlich, leise und brüchig, als würde sie es aus einer dunklen Truhe in ihrem Inneren hervorholen, die seit Jahren verschlossen gewesen war. „Meine Mutter hat es gesungen… hier, an genau diesem Ort.“
Ein Zittern ging durch ihre Stimme, doch sie sprach weiter, tastete sich Satz für Satz durch die Vergangenheit, wie jemand, der in der Dämmerung nach vertrauten Konturen sucht.
„Sie sagte, die Bäume tragen unsere Namen – wenn wir still sind, flüstern sie sie im Wind. Ich habe lange nicht mehr zugehört.“
Rianon setzte sich neben sie, sagte noch immer nichts, aber seine Nähe war wie ein Mantel, der sich wärmend um sie legte, ohne sie zu bedrängen.
Lirael legte die Hand auf den Boden, spürte die Feuchtigkeit, die Kühle, das Leben darin – und für einen kurzen Moment glaubte sie, unter ihren Fingerspitzen etwas pulsieren zu fühlen, wie einen Herzschlag, tief in der Erde.
„La ist nah“, sagte sie dann, leise und sicher, und zum ersten Mal an diesem Tag trat etwas in ihre Stimme, das wie Hoffnung klang.
Der Wind drehte, und mit ihm kam ein Duft, der sie für einen Moment erstarren ließ – nicht stark, nicht fremd, sondern vertraut: der Geruch nach Harz, Erde und jenem Hauch von Blüte, der sie als Kind einst beruhigt hatte, wenn sie nachts nicht hatte schlafen können.
Sie stand auf, sah zu Rianon, und in ihren Augen lag etwas Neues – keine Angst mehr, kein Zögern, sondern etwas, das man vielleicht Vertrauen nennen konnte.
„Komm“, sagte sie nur, und ging weiter, tiefer hinein in das Herz des Waldes – dorthin, wo La wartete.
Die Suche nach La
Der Wald wurde stiller, nicht weil er verstummte, sondern weil das, was klang, tiefer sank – unter die hörbare Schwelle, in jenes Rauschen, das in den Adern vibrierte, wenn man lange genug lauschte. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in das verwobene Dickicht von Yew vordrangen, veränderte sich die Welt um sie, als würde die gewohnte Wirklichkeit zurücktreten und einem älteren, fremderen Bewusstsein Platz machen, das sich nicht in Worten zeigte, sondern in Empfindungen, Schatten, Wiederklängen von etwas längst Vergessenem.
Lirael bewegte sich nun fast wie im Traum, geführt nicht von Pfaden, sondern von Spuren, die sich nur dem erschlossen, der sie zu lesen wusste – die Neigung eines Farnes, das seltsame Aufleuchten von Sporenstaub im schrägen Licht, das Flattern eines Vogels, der plötzlich verstummte. Ihre Finger tasteten manchmal über Rinde, über feuchtes Moos, über Wurzeln, die sich wie Adern durch den Boden zogen, als suchte sie mit der Haut, was die Augen allein nicht fassen konnten.
Rianon war bei ihr, sein Schritt ruhig, sein Blick wach, aber ohne das Drängen derer, die führen wollen. Er war da – nicht hinter ihr, nicht vor ihr, sondern neben ihr, so wie man einem Fluss folgt, dessen Verlauf man nicht stören darf, wenn man an sein Ziel gelangen will.
Einmal, als sie innehielt, weil eine feine Verästelung silberner Pilzfäden sich über den Boden zog wie eine Karte, die nur Eingeweihten lesbar war, sagte er leise, beinahe in den Wind hinein:
„La spricht nicht wie wir – aber wer es kennt, weiß, wann es beginnt zu antworten.“
Seine Stimme klang ruhig, fast meditativ, und für einen Moment schloss sie die Augen, als wolle sie nicht nur dem Sinn der Worte lauschen, sondern dem Klang dahinter. Dann nickte sie, fast unmerklich, und ging weiter, barfuß nun, obwohl sie sich nicht daran erinnerte, die Stiefel abgestreift zu haben.
Sie durchquerten ein seichtes Bachbett, dessen Wasser so klar war, dass es fast unsichtbar wurde, einzig verraten durch das Licht, das sich in sanften Brechungen auf Kiesel und Wurzel spiegelte. Lirael kniete sich an den Rand, ließ das Wasser über ihre Fingerspitzen gleiten und fuhr sich dann mit einer feuchten Handfläche über das Gesicht – eine einfache Geste, fast zufällig, und doch hatte sie etwas von einem Ritual.
„Ich war als Kind hier“, sagte sie schließlich, kaum hörbar. „Sie hat mich geführt… nicht oft, aber immer dann, wenn sie meinte, dass ich zu viel in mir trug.“
Rianon antwortete nicht, aber sie spürte ihn – nicht nur als Körper, der neben ihr verweilte, sondern als Präsenz, die nicht festhielt, sondern mitging.
„Ich wusste nie genau, wo La beginnt und wo ich aufhöre“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Vielleicht war das der Punkt.“
Der Hang vor ihnen stieg sanft an, von alten Steinen gesäumt, die in seltsamen Mustern aus dem Boden ragten – teils von Efeu überwuchert, teils blank, als hätte eine unsichtbare Hand sie gerade erst aus der Erde gezogen. Auf manchen schimmerten Reste verwitterter Zeichen – Linien, die vielleicht Runen waren, vielleicht auch nur Risse im Gestein, aber etwas in Liraels Innerem antwortete darauf wie auf einen vertrauten Ruf.
Oben angekommen blieb sie stehen. Die Sicht öffnete sich, und unter ihnen lag eine Senke, überzogen von feinem Nebel, in dessen Innerem die Bäume wie Schattenriesen standen – schwer, uralt, wachsam.
„Da“, flüsterte sie, mehr zu sich als zu ihm. „Es ist dort.“
Rianon trat neben sie, sagte nichts, aber als sie seinen Blick spürte, wusste sie, dass er es ebenfalls fühlte – dieses andere, das dort unten pulsierte, nicht als Geräusch, sondern als Möglichkeit.
Sie stiegen hinab, schweigend, Schritt für Schritt, vorbei an Farnen, die sich zur Seite neigten, als wollten sie Platz machen.
Und dann – war es da.
Kein Donner, kein Licht, kein Ruf. Nur das plötzliche, unmissverständliche Wissen, dass sie angekommen waren.
La erhob sich nicht wie ein Monument. Es war nicht gewaltig im Äußeren, sondern in seiner Wirkung – ein Baum, ja, ein uralter Yewbaum, tief verwurzelt, von Zeit gezeichnet, mit einer Rinde, die an ein zerknittertes Gedicht erinnerte. Seine Äste ragten in einem Winkel in den Himmel, der keinem natürlichen Wachstum zu folgen schien, und doch strahlte alles an ihm eine Art von Ordnung aus – eine Stille, die so vollkommen war, dass jedes Wort unangebracht erschien.
Lirael trat näher. Ihre Hand legte sich auf den Stamm, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. Das Holz war kühl, aber nicht abweisend. Kein Flüstern, kein leuchtendes Zeichen, kein göttliches Aufleuchten.
Nur das Gefühl, dass etwas – oder alles – sie erkannt hatte.
„Es erinnert sich“, sagte sie leise. Und als sie das sagte, wusste sie, dass nicht der Baum selbst erinnerte, sondern etwas durch ihn, ein Netz, ein Fluss, das La, das sich in allem spiegelte, was Leben bedeutete – und das durch sie sprach, wenn sie still genug wurde.
Die Meditation und das Ersuchen
Die Lichtung war umfangen von einer Dichte aus Moos, Nebel und Schweigen, wie ein abgeschlossener Raum inmitten der Welt, entrückt und doch zutiefst real, als hätte der Wald selbst beschlossen, diesen Ort vor dem Zahn der Zeit zu schützen.
Lirael stand eine Weile still, das Gesicht dem alten Yewbaum zugewandt, und in ihrer Haltung lag eine Mischung aus Ehrfurcht, Sehnsucht und leiser Furcht – nicht vor dem, was sie sehen würde, sondern vor dem, was in ihr wach werden mochte, wenn sie es zuließ.
Rianon hatte sich, ohne ein Wort zu sagen, am Rand der Lichtung niedergelassen, dort wo die ersten Wurzeln sich wie tastende Finger über den Boden schoben, und begann, mit ruhigen Gesten einen schlichten Kreis aus getrocknetem Beifuß, Farn und silbergrünem Laub zu legen – kein Zauber, kein Schutz, sondern ein Zeichen der Achtung, eine Einladung an das, was hier webte.
Lirael trat näher an den Baum, kniete sich in die feuchte, weiche Erde, legte beide Hände flach gegen die Rinde, deren Oberfläche sich unter ihren Fingern anfühlte wie ein altes Pergament – rau, doch lebendig, durchzogen von feinen Rissen, aus denen ein leiser Duft von Harz und tiefem Wurzelgrund stieg.
Sie schloss die Augen. Und wartete.
Nicht auf ein Zeichen. Nicht auf Worte. Sondern auf den Moment, in dem sie selbst still genug wurde, dass das andere durch sie hindurchfließen konnte.
Ihr Atem verlangsamte sich, wurde flacher, tiefer, und sie senkte die Stirn auf das Holz, spürte, wie die Kälte des Stammes in sie überging, aber nicht als Abweisung, sondern wie das kühlende Tuch auf einer fiebernden Stirn.
Lange geschah nichts – oder besser: nichts Sichtbares.
Doch in ihrem Innern begannen sich Bilder zu lösen, nicht als klare Visionen, sondern wie Farbflecken auf Wasser – flüchtig, sich überlagernd, und doch mit einer Wahrheit, die ihr Herz erkannte, lange bevor der Verstand sie benennen konnte.
Sie sah Schatten, Hände, ein Lachen, das sie vergessen hatte, eine Gestalt mit roten Haaren, die sich über sie beugte, während warme Finger über ihre Stirn strichen. Dann Dunkelheit, dann das Knacken von Holz, ein Rufen, das nie ganz verklungen war.
Sie spürte Tränen, ohne zu weinen.
Und dann war da etwas anderes – nicht ein Bild, sondern ein Empfinden. Eine Sammlung, ein Netz, ein Sog. Das Gefühl, dass sie nicht allein war in sich selbst, sondern durchzogen von Stimmen, Erinnerungen, Fragmenten jener, die ihr einst etwas bedeutet hatten – und die nun, fern jeder Grabstätte, in einem Zwischenraum verweilten, unerlöst, aber nicht vergessen.
„La“, flüsterte sie, die Stirn noch immer gegen den Stamm gelegt, „ich habe sie getragen, so lange ich denken kann. Ich weiß nicht, ob ich sie rette oder ob ich sie loslasse. Ich weiß nur, dass sie nicht verloren gehen dürfen.“
Der Wind antwortete nicht, doch ein leichter Druck ging durch ihre Handflächen, als würde das Holz unter ihnen für einen Moment nachgeben – nicht brechen, nicht weichen, sondern sie aufnehmen.
Etwas in ihr begann zu vibrieren – ein leiser Ton, kaum hörbar, aber durchdringend, wie der erste Klang eines Seiteninstruments, bevor es zu spielen beginnt.
Und dann geschah es.
Zwischen zwei Wurzeln, dort wo der Boden feucht und dunkel war, öffnete sich ohne Bewegung ein kleiner Spalt, aus dem sich, langsam und von feinem Licht durchzogen, ein zarter Trieb schob – nicht mehr als eine Handspanne groß, doch unverkennbar in seiner Form.
Ein Spross des Yewbaumes, ein Yewsetzling.
Sein Stamm war von einem tiefgrünen Braun, fast schwarz, und in seinen Adern schimmerte etwas, das kein Sonnenlicht war.
Lirael öffnete die Augen, und in ihrem Blick lag ein Staunen, das nicht laut wurde, weil es sonst zersprungen wäre. Sie hob die Hände, doch sie berührte den Setzling nicht – sie wartete, bis er sich vollständig gelöst hatte vom Erdreich, bis er, wie durch unsichtbare Kraft gehalten, in ihre Richtung neigte, und sie verstand: Es war nicht ihre Hand, die ihn pflücken durfte, sondern ihr Herz, das ihn tragen musste.
Sie nahm ihn auf – vorsichtig, mit beiden Händen, als wäre er zerbrechlich wie Glas, und doch fühlte sie darin eine Kraft, die so alt war, dass sie keine Worte mehr brauchte.
In diesem Moment vergaß sie, dass Rianon da war. Oder vielmehr: Sie erinnerte sich wieder an ihn.
Als sie sich zu ihm wandte, stand er bereits, trat zu ihr, sah den Setzling in ihren Händen, dann in ihre Augen – und sagte nichts.
Aber sie sah in seinem Blick, dass er verstanden hatte. Nicht alles, vielleicht. Aber genug.
„Ich glaube…“, begann sie, und ihre Stimme war brüchig, wie eine Brücke, die gerade erst gebaut wurde. „…ich glaube, wir können sie in Sicherheit bringen.“
Und dann, wie aus einer Bewegung geboren, stand er direkt vor ihr, seine Hände an ihren Schultern, sein Blick ruhig, tief, nicht fordernd – wartend.
Sie atmete aus. Tief. Schwer. Und ließ sich gegen ihn sinken.
Nicht, weil sie schwach war. Sondern weil sie es durfte.
Und in dieser Stille, inmitten des Raunens von Wurzeln und dem leisen Knistern des Nebels, schloss sie zum ersten Mal seit Jahren wieder die Augen, mit der Gewissheit nicht alleine zu sein.
Wiederkehr des Vertrauens
Der Nebel legte sich langsam wieder über die Lichtung, als hätte das, was geschehen war, einen Schleier aufgewühlt, der nun sanft zurücksank, um das Gewebe des Augenblicks zu wahren.
Lirael saß noch immer am Fuß des Baumes, den Setzling in ihren Händen, der nun ruhig und schwer wie ein lebendiges Versprechen wirkte – nicht mehr fragil, sondern verwurzelt in einer neuen Art von Gewissheit.
Es war kein lauter Triumph, keine aufwallende Freude, sondern eine tiefe, stille Ruhe, die sich in ihr ausbreitete – wie das letzte, lang vermisste Puzzlestück in einem Bild, das sie nie hatte zu Ende sehen dürfen.
Denn in diesem Moment wusste sie es – nicht mit dem Verstand, sondern mit dem ganzen Körper, mit jeder Ader, jedem Atemzug: Dass sie ihre Familie dieses Mal würde in Sicherheit bringen können.
Nicht durch Rache, nicht durch Aufopferung, nicht durch Schuld – sondern durch das, was sie durch La erhalten hatte: einen Weg, die Seelen ihrer Eltern, ihrer Schwestern, ihrer Blutlinie weiterzuführen, fern von den Schatten, die sich nun über Yew zu legen begannen.
Der Setzling war nicht nur Leben. Er war Heimstatt. Zuflucht. Er war das Versprechen, dass das, was war, nicht verloren gehen musste – nicht im Feuer der Welt, nicht in den Stürmen, die kommen würden.
Rianon war bei ihr geblieben, hatte keinen Moment des Wunders gestört, und nun saß er nahe bei ihr, eine Hand im Moos, die andere auf dem Knie ruhend, und in seiner Haltung lag jene Art von Stille, die mehr sagte als jedes gesprochene Wort.
Der Tag war fast vergangen – das Licht der Sonne schien nur noch in weichen Schleifen durch die Baumwipfel, berührte ihre Schultern, ihre Haare, den kleinen Setzling, als wollte es den Moment segnen, ohne ihn zu stören.
Lirael atmete ein – tief, mit jenem Ziehen in der Brust, das sich einstellt, wenn eine lange gehaltene Last plötzlich verschwunden ist und der Körper erst begreifen muss, was nun Raum einnimmt.
Dann drehte sie sich, langsam, noch immer mit dem Setzling im Schoß, und sah Rianon an.
Ihre Augen begegneten sich, und für einen Atemzug war es, als stünde die Welt still – nicht dramatisch, nicht in donnerndem Verlangen, sondern in jener leisen Klarheit, mit der zwei Wesen einander erkennen, wirklich erkennen, jenseits von Masken, Worten, Schuld oder Hoffnung.
„Ich habe… so lange geglaubt, dass niemand mehr da ist“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leise, fast vorsichtig, als wolle sie das, was sie spürte, nicht durch Benennung zerbrechen. „Und dann warst du einfach… hier.“
Rianons Blick war weich, aber nicht mitleidig – er war warm, wach und frei von der Angst, etwas falsch zu machen.
„Ich bin nicht hier, um dich zu halten“, antwortete er. „Nur, damit du weißt, dass du nicht mehr allein bist, wenn du es nicht willst.“
Ein Zittern ging durch ihre Schultern – nicht aus Schwäche, sondern weil sich etwas löste, das so lange still und starr in ihr gelegen hatte.
Dann streckte sie langsam eine Hand aus – nicht zögerlich, aber auch nicht sicher. Ihre Finger berührten seine, fanden Halt, ohne zu klammern, und sie spürte die Wärme seiner Haut, das sanfte Gewicht, das mehr sagte als jede Umarmung.
Sie sah ihn an – lange, mit einem Blick, der nicht suchte, sondern fand.
Und dann, ganz langsam, wie ein Sonnenstrahl, der sich über das erste Blatt des Morgens schiebt, beugte sie sich vor.
Ihre Stirn ruhte einen Moment lang an seiner, und sie spürte seinen Atem, ruhig, beständig, wie ein Versprechen, das keine Worte braucht.
Als sich ihre Lippen schließlich trafen, war es kein Sturm, kein Feuer, keine Flucht – es war ein Innehalten, ein Zulassen, das tiefer ging als jede Leidenschaft, weil es auf Vertrauen gebaut war, nicht auf Verlangen.
Der Kuss war still. Sanft. Kurz. Und doch war er wie ein Keim, der in der Erde ihrer beider Seelen einen ersten, zarten Trieb schob.
Als sie sich löste, hielt sie seinen Blick, und etwas in ihr, das sich jahrelang gegen jede Nähe gewehrt hatte, legte sich zur Ruhe – nicht weil es verschwunden war, sondern weil es zum ersten Mal nicht mehr allein war.
„Danke“, flüsterte sie, nicht für das, was geschehen war, sondern für das, was nicht gesagt werden musste.
Und in diesem Moment wusste sie, dass etwas in ihr begonnen hatte, sich zu wandeln – nicht in eine neue Person, sondern in jemanden, der wagte, zu wachsen.
Jemand, der begonnen hatte, Wurzeln zu schlagen – nicht nur im Wald, sondern in der Gegenwart.
Aufbruch mit dem jungen Yewbaum
Der Morgen kam still, beinahe lautlos, wie eine Antwort, die man nicht erwartet hatte, und dennoch verstand. Kein Ruf der Vögel durchbrach die Dämmerung, kein Tier huschte durch das Dickicht – als hätte der Wald selbst beschlossen, diesen Moment nicht zu stören.
Ein feiner Nebel lag noch immer über der Lichtung, durchzogen von den ersten silbernen Strahlen der Sonne, die sich tastend über das Laub schoben, als prüften sie, ob die Welt bereit war, erneut zu atmen.
Lirael saß bereits, als Rianon erwachte – reglos, den Setzling im Schoß, die Augen halb geschlossen, als lausche sie etwas, das sich jenseits der Sinne bewegte.
Sie sprach nicht, als er sich zu ihr setzte, und er fragte nicht, denn was zwischen ihnen lag, brauchte keine Bestätigung, kein Wiederholen, nur das einfache Weitergehen.
Eine lange Zeit verstrich in gemeinsamer Stille.
Dann richtete Lirael sich auf, hielt den Setzling nun fest in beiden Händen – nicht wie ein Schatz, sondern wie ein Versprechen.
„Ich weiß, wohin er muss“, sagte sie schließlich, ihre Stimme ruhig, geerdet. „Nicht jetzt. Aber bald. Wenn es beginnt.“
Sie meinte nicht nur die Schatten, die über Yew hinwegzogen. Nicht nur das, was sie von Lyr’sa gehört hatte, oder die wachsende Unruhe in den Bäumen. Sie meinte das Ganze – das Unvermeidliche, das sich anbahnte, langsam, wie ein Winter, den man im Geruch des Morgentaus erkennt, lange bevor das Laub fällt.
„Er wird nicht hier bleiben“, fuhr sie fort. „La hat ihn gegeben, damit ich ihn bringe. Dorthin, wo sie sicher sind. Wo niemand mehr an sie heranreicht.“
Ihre Familie. Die Seelen, die in La verwoben gewesen waren wie Erinnerungen in einem Lied – flüchtig, aber spürbar.
Nun lebte ein Teil von ihnen in diesem Setzling, getragen in der Mitte ihres Körpers, behütet von ihrer Entschlossenheit.
Rianon nickte nur. Seine Augen suchten die ihren, und in seinem Blick lag das, was Lirael nun zu erkennen begann: nicht Bedauern, nicht Angst, nicht einmal Sorge – sondern Vertrauen.
Nicht blind. Nicht naiv. Sondern gewachsen, genährt durch das, was sie ihm gezeigt hatte.
Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm, ließ sie einen Moment ruhen – kein Griff, keine Bitte, nur die schlichte, stille Antwort auf das, was er nicht hatte aussprechen müssen.
Dann standen sie gemeinsam auf.
Die Lichtung lag hinter ihnen, der alte Yewbaum wie ein letzter Blick in ein Kapitel, das nicht endet, sondern in etwas anderes übergeht.
Lirael trat ein letztes Mal zu La, neigte das Haupt, berührte die Rinde mit zwei Fingern – wie ein Gruß, wie ein Versprechen, dass sie wiederkehren würde.
Dann wandten sie sich ab, durchquerten das hohe Farnfeld, ließen das Licht hinter sich, das zwischen den Ästen hing wie vergessene Erinnerung.
Der Wald nahm sie auf, wie er sie immer aufgenommen hatte – schweigend, atmend, umarmend.
Doch diesmal war etwas anders.
Lirael trug nicht nur den Setzling. Sie trug Verantwortung. Erinnerung. Hoffnung.
Sie war nicht mehr nur Wanderin. Nicht nur Suchende.
Sie war geworden, was sie nie hatte sein wollen – aber nun mit jeder Faser war: eine Hüterin.
Und als sie mit Rianon Seite an Seite das Dickicht durchschritt, den Blick nach vorn gerichtet, spürte sie in sich zum ersten Mal nicht nur die Sehnsucht nach dem, was verloren war – sondern auch die Gewissheit, dass etwas Neues begann.
Ein stilles, leuchtendes Jetzt. Und ein Weg, der sie tiefer führen würde – zu La, zu sich selbst, und vielleicht – irgendwann – zu dem, was man Berufung nennt.
[size=150]Episode IV: Die Rückkehr nach Yew[/size]
[b]Ankunft im heiligen Hain[/b]
Der Wald von Yew empfing sie mit jener eigentümlichen Stille, die nicht leer war, sondern angefüllt mit dem leisen Wispern von Wurzeln, dem Flattern verborgener Flügel zwischen den Ästen und jenem kaum hörbaren Summen, das sich nur jenen offenbarte, die mit offenem Herzen kamen.
Es war früher Abend, doch das Licht unter dem dichten Dach der uralten Bäume wirkte wie gedämpftes Gold, zerbrochen in flackernden Streifen, die über das Moos tanzten und in denen Staubkörner wirbelten, als wären sie kleine Wesen aus einer vergessenen Zeit.
Lirael ging langsam, fast zögerlich, mit einer Anspannung in den Schultern, die sich trotz aller bewussten Bemühung nicht lösen wollte. Jeder Schritt schien mehr zu wiegen als der vorige, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht nur Gewicht, sondern auch Erinnerung aufnehmen.
Rianon war bei ihr, stets einen halben Schritt hinter ihr, nicht aus Unsicherheit, sondern mit jener bedachten Zurückhaltung, die er oft zeigte, wenn er spürte, dass etwas in ihr zu arbeiten begann, das Worte nicht tragen konnten.
Sie hatte ihm nichts gesagt, als sie an jenem Morgen gemeinsam aufgebrochen waren – nur ein Nicken, ein Blick, ein schlichtes „Es ist Zeit.“ Und er hatte verstanden, ohne zu fragen.
Der Pfad, den sie nun gingen, war längst überwachsen, kaum mehr zu erkennen, nur durch einzelne Wurzelwölbungen und das eigenartige Muster der Farnblätter als Weg zu deuten, wenn man wusste, wonach man suchte.
„La liegt weiter nördlich“, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu ihm, und ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren, belegt von etwas, das sie nicht benennen konnte – war es Angst? Ehrfurcht? Oder nur die Nähe zu etwas, das sie tief in sich lange verschlossen gehalten hatte?
Je weiter sie vordrangen, desto mehr veränderte sich die Atmosphäre. Das Rauschen der Blätter wurde langsamer, gedehnter, als würde der Wind selbst den Atem anhalten. Die Tiere verstummten nicht, aber sie zogen sich zurück, beobachteten vielleicht – aus Bäumen, Höhlen oder aus der Luft – ohne sich zu zeigen.
Lirael blieb stehen, ihre Hand an einem moosbedeckten Stamm ruhend, und schloss für einen Moment die Augen.
In der Ferne, kaum mehr als ein Hauch, glaubte sie ein Flüstern zu hören – kein Wort, kein Ruf, sondern etwas wie ein Erinnern, das von unter der Erde kam, dort wo Wurzeln wie Adern durch das Erdreich strichen.
„Hier hat sie mich früher hingebracht“, murmelte sie, und nun klang ihre Stimme anders – weicher, durchlässiger, als wäre sie zugleich wieder das Kind, das sie einst gewesen war.
Rianon schwieg, doch sie spürte ihn neben sich – nicht aufdringlich, nicht drängend, sondern gegenwärtig wie ein ruhiger Strom, auf den man sich verlassen konnte.
Sie setzte sich auf einen halb umgestürzten Stamm, von Pilzen bewachsen und von feuchtem Farn umgeben, und ließ den Blick über die Bäume wandern.
„Ich erinnere mich an ein Lied“, sagte sie schließlich, leise und brüchig, als würde sie es aus einer dunklen Truhe in ihrem Inneren hervorholen, die seit Jahren verschlossen gewesen war. „Meine Mutter hat es gesungen… hier, an genau diesem Ort.“
Ein Zittern ging durch ihre Stimme, doch sie sprach weiter, tastete sich Satz für Satz durch die Vergangenheit, wie jemand, der in der Dämmerung nach vertrauten Konturen sucht.
„Sie sagte, die Bäume tragen unsere Namen – wenn wir still sind, flüstern sie sie im Wind. Ich habe lange nicht mehr zugehört.“
Rianon setzte sich neben sie, sagte noch immer nichts, aber seine Nähe war wie ein Mantel, der sich wärmend um sie legte, ohne sie zu bedrängen.
Lirael legte die Hand auf den Boden, spürte die Feuchtigkeit, die Kühle, das Leben darin – und für einen kurzen Moment glaubte sie, unter ihren Fingerspitzen etwas pulsieren zu fühlen, wie einen Herzschlag, tief in der Erde.
„La ist nah“, sagte sie dann, leise und sicher, und zum ersten Mal an diesem Tag trat etwas in ihre Stimme, das wie Hoffnung klang.
Der Wind drehte, und mit ihm kam ein Duft, der sie für einen Moment erstarren ließ – nicht stark, nicht fremd, sondern vertraut: der Geruch nach Harz, Erde und jenem Hauch von Blüte, der sie als Kind einst beruhigt hatte, wenn sie nachts nicht hatte schlafen können.
Sie stand auf, sah zu Rianon, und in ihren Augen lag etwas Neues – keine Angst mehr, kein Zögern, sondern etwas, das man vielleicht Vertrauen nennen konnte.
„Komm“, sagte sie nur, und ging weiter, tiefer hinein in das Herz des Waldes – dorthin, wo La wartete.
[b]Die Suche nach La[/b]
Der Wald wurde stiller, nicht weil er verstummte, sondern weil das, was klang, tiefer sank – unter die hörbare Schwelle, in jenes Rauschen, das in den Adern vibrierte, wenn man lange genug lauschte. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in das verwobene Dickicht von Yew vordrangen, veränderte sich die Welt um sie, als würde die gewohnte Wirklichkeit zurücktreten und einem älteren, fremderen Bewusstsein Platz machen, das sich nicht in Worten zeigte, sondern in Empfindungen, Schatten, Wiederklängen von etwas längst Vergessenem.
Lirael bewegte sich nun fast wie im Traum, geführt nicht von Pfaden, sondern von Spuren, die sich nur dem erschlossen, der sie zu lesen wusste – die Neigung eines Farnes, das seltsame Aufleuchten von Sporenstaub im schrägen Licht, das Flattern eines Vogels, der plötzlich verstummte. Ihre Finger tasteten manchmal über Rinde, über feuchtes Moos, über Wurzeln, die sich wie Adern durch den Boden zogen, als suchte sie mit der Haut, was die Augen allein nicht fassen konnten.
Rianon war bei ihr, sein Schritt ruhig, sein Blick wach, aber ohne das Drängen derer, die führen wollen. Er war da – nicht hinter ihr, nicht vor ihr, sondern neben ihr, so wie man einem Fluss folgt, dessen Verlauf man nicht stören darf, wenn man an sein Ziel gelangen will.
Einmal, als sie innehielt, weil eine feine Verästelung silberner Pilzfäden sich über den Boden zog wie eine Karte, die nur Eingeweihten lesbar war, sagte er leise, beinahe in den Wind hinein:
„La spricht nicht wie wir – aber wer es kennt, weiß, wann es beginnt zu antworten.“
Seine Stimme klang ruhig, fast meditativ, und für einen Moment schloss sie die Augen, als wolle sie nicht nur dem Sinn der Worte lauschen, sondern dem Klang dahinter. Dann nickte sie, fast unmerklich, und ging weiter, barfuß nun, obwohl sie sich nicht daran erinnerte, die Stiefel abgestreift zu haben.
Sie durchquerten ein seichtes Bachbett, dessen Wasser so klar war, dass es fast unsichtbar wurde, einzig verraten durch das Licht, das sich in sanften Brechungen auf Kiesel und Wurzel spiegelte. Lirael kniete sich an den Rand, ließ das Wasser über ihre Fingerspitzen gleiten und fuhr sich dann mit einer feuchten Handfläche über das Gesicht – eine einfache Geste, fast zufällig, und doch hatte sie etwas von einem Ritual.
„Ich war als Kind hier“, sagte sie schließlich, kaum hörbar. „Sie hat mich geführt… nicht oft, aber immer dann, wenn sie meinte, dass ich zu viel in mir trug.“
Rianon antwortete nicht, aber sie spürte ihn – nicht nur als Körper, der neben ihr verweilte, sondern als Präsenz, die nicht festhielt, sondern mitging.
„Ich wusste nie genau, wo La beginnt und wo ich aufhöre“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Vielleicht war das der Punkt.“
Der Hang vor ihnen stieg sanft an, von alten Steinen gesäumt, die in seltsamen Mustern aus dem Boden ragten – teils von Efeu überwuchert, teils blank, als hätte eine unsichtbare Hand sie gerade erst aus der Erde gezogen. Auf manchen schimmerten Reste verwitterter Zeichen – Linien, die vielleicht Runen waren, vielleicht auch nur Risse im Gestein, aber etwas in Liraels Innerem antwortete darauf wie auf einen vertrauten Ruf.
Oben angekommen blieb sie stehen. Die Sicht öffnete sich, und unter ihnen lag eine Senke, überzogen von feinem Nebel, in dessen Innerem die Bäume wie Schattenriesen standen – schwer, uralt, wachsam.
„Da“, flüsterte sie, mehr zu sich als zu ihm. „Es ist dort.“
Rianon trat neben sie, sagte nichts, aber als sie seinen Blick spürte, wusste sie, dass er es ebenfalls fühlte – dieses andere, das dort unten pulsierte, nicht als Geräusch, sondern als Möglichkeit.
Sie stiegen hinab, schweigend, Schritt für Schritt, vorbei an Farnen, die sich zur Seite neigten, als wollten sie Platz machen.
Und dann – war es da.
Kein Donner, kein Licht, kein Ruf. Nur das plötzliche, unmissverständliche Wissen, dass sie angekommen waren.
La erhob sich nicht wie ein Monument. Es war nicht gewaltig im Äußeren, sondern in seiner Wirkung – ein Baum, ja, ein uralter Yewbaum, tief verwurzelt, von Zeit gezeichnet, mit einer Rinde, die an ein zerknittertes Gedicht erinnerte. Seine Äste ragten in einem Winkel in den Himmel, der keinem natürlichen Wachstum zu folgen schien, und doch strahlte alles an ihm eine Art von Ordnung aus – eine Stille, die so vollkommen war, dass jedes Wort unangebracht erschien.
Lirael trat näher. Ihre Hand legte sich auf den Stamm, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. Das Holz war kühl, aber nicht abweisend. Kein Flüstern, kein leuchtendes Zeichen, kein göttliches Aufleuchten.
Nur das Gefühl, dass etwas – oder alles – sie erkannt hatte.
„Es erinnert sich“, sagte sie leise. Und als sie das sagte, wusste sie, dass nicht der Baum selbst erinnerte, sondern etwas durch ihn, ein Netz, ein Fluss, das La, das sich in allem spiegelte, was Leben bedeutete – und das durch sie sprach, wenn sie still genug wurde.
[b]Die Meditation und das Ersuchen[/b]
Die Lichtung war umfangen von einer Dichte aus Moos, Nebel und Schweigen, wie ein abgeschlossener Raum inmitten der Welt, entrückt und doch zutiefst real, als hätte der Wald selbst beschlossen, diesen Ort vor dem Zahn der Zeit zu schützen.
Lirael stand eine Weile still, das Gesicht dem alten Yewbaum zugewandt, und in ihrer Haltung lag eine Mischung aus Ehrfurcht, Sehnsucht und leiser Furcht – nicht vor dem, was sie sehen würde, sondern vor dem, was in ihr wach werden mochte, wenn sie es zuließ.
Rianon hatte sich, ohne ein Wort zu sagen, am Rand der Lichtung niedergelassen, dort wo die ersten Wurzeln sich wie tastende Finger über den Boden schoben, und begann, mit ruhigen Gesten einen schlichten Kreis aus getrocknetem Beifuß, Farn und silbergrünem Laub zu legen – kein Zauber, kein Schutz, sondern ein Zeichen der Achtung, eine Einladung an das, was hier webte.
Lirael trat näher an den Baum, kniete sich in die feuchte, weiche Erde, legte beide Hände flach gegen die Rinde, deren Oberfläche sich unter ihren Fingern anfühlte wie ein altes Pergament – rau, doch lebendig, durchzogen von feinen Rissen, aus denen ein leiser Duft von Harz und tiefem Wurzelgrund stieg.
Sie schloss die Augen. Und wartete.
Nicht auf ein Zeichen. Nicht auf Worte. Sondern auf den Moment, in dem sie selbst still genug wurde, dass das andere durch sie hindurchfließen konnte.
Ihr Atem verlangsamte sich, wurde flacher, tiefer, und sie senkte die Stirn auf das Holz, spürte, wie die Kälte des Stammes in sie überging, aber nicht als Abweisung, sondern wie das kühlende Tuch auf einer fiebernden Stirn.
Lange geschah nichts – oder besser: nichts Sichtbares.
Doch in ihrem Innern begannen sich Bilder zu lösen, nicht als klare Visionen, sondern wie Farbflecken auf Wasser – flüchtig, sich überlagernd, und doch mit einer Wahrheit, die ihr Herz erkannte, lange bevor der Verstand sie benennen konnte.
Sie sah Schatten, Hände, ein Lachen, das sie vergessen hatte, eine Gestalt mit roten Haaren, die sich über sie beugte, während warme Finger über ihre Stirn strichen. Dann Dunkelheit, dann das Knacken von Holz, ein Rufen, das nie ganz verklungen war.
Sie spürte Tränen, ohne zu weinen.
Und dann war da etwas anderes – nicht ein Bild, sondern ein Empfinden. Eine Sammlung, ein Netz, ein Sog. Das Gefühl, dass sie nicht allein war in sich selbst, sondern durchzogen von Stimmen, Erinnerungen, Fragmenten jener, die ihr einst etwas bedeutet hatten – und die nun, fern jeder Grabstätte, in einem Zwischenraum verweilten, unerlöst, aber nicht vergessen.
„La“, flüsterte sie, die Stirn noch immer gegen den Stamm gelegt, „ich habe sie getragen, so lange ich denken kann. Ich weiß nicht, ob ich sie rette oder ob ich sie loslasse. Ich weiß nur, dass sie nicht verloren gehen dürfen.“
Der Wind antwortete nicht, doch ein leichter Druck ging durch ihre Handflächen, als würde das Holz unter ihnen für einen Moment nachgeben – nicht brechen, nicht weichen, sondern sie aufnehmen.
Etwas in ihr begann zu vibrieren – ein leiser Ton, kaum hörbar, aber durchdringend, wie der erste Klang eines Seiteninstruments, bevor es zu spielen beginnt.
Und dann geschah es.
Zwischen zwei Wurzeln, dort wo der Boden feucht und dunkel war, öffnete sich ohne Bewegung ein kleiner Spalt, aus dem sich, langsam und von feinem Licht durchzogen, ein zarter Trieb schob – nicht mehr als eine Handspanne groß, doch unverkennbar in seiner Form.
Ein Spross des Yewbaumes, ein Yewsetzling.
Sein Stamm war von einem tiefgrünen Braun, fast schwarz, und in seinen Adern schimmerte etwas, das kein Sonnenlicht war.
Lirael öffnete die Augen, und in ihrem Blick lag ein Staunen, das nicht laut wurde, weil es sonst zersprungen wäre. Sie hob die Hände, doch sie berührte den Setzling nicht – sie wartete, bis er sich vollständig gelöst hatte vom Erdreich, bis er, wie durch unsichtbare Kraft gehalten, in ihre Richtung neigte, und sie verstand: Es war nicht ihre Hand, die ihn pflücken durfte, sondern ihr Herz, das ihn tragen musste.
Sie nahm ihn auf – vorsichtig, mit beiden Händen, als wäre er zerbrechlich wie Glas, und doch fühlte sie darin eine Kraft, die so alt war, dass sie keine Worte mehr brauchte.
In diesem Moment vergaß sie, dass Rianon da war. Oder vielmehr: Sie erinnerte sich wieder an ihn.
Als sie sich zu ihm wandte, stand er bereits, trat zu ihr, sah den Setzling in ihren Händen, dann in ihre Augen – und sagte nichts.
Aber sie sah in seinem Blick, dass er verstanden hatte. Nicht alles, vielleicht. Aber genug.
„Ich glaube…“, begann sie, und ihre Stimme war brüchig, wie eine Brücke, die gerade erst gebaut wurde. „…ich glaube, wir können sie in Sicherheit bringen.“
Und dann, wie aus einer Bewegung geboren, stand er direkt vor ihr, seine Hände an ihren Schultern, sein Blick ruhig, tief, nicht fordernd – wartend.
Sie atmete aus. Tief. Schwer. Und ließ sich gegen ihn sinken.
Nicht, weil sie schwach war. Sondern weil sie es durfte.
Und in dieser Stille, inmitten des Raunens von Wurzeln und dem leisen Knistern des Nebels, schloss sie zum ersten Mal seit Jahren wieder die Augen, mit der Gewissheit nicht alleine zu sein.
[b]Wiederkehr des Vertrauens[/b]
Der Nebel legte sich langsam wieder über die Lichtung, als hätte das, was geschehen war, einen Schleier aufgewühlt, der nun sanft zurücksank, um das Gewebe des Augenblicks zu wahren.
Lirael saß noch immer am Fuß des Baumes, den Setzling in ihren Händen, der nun ruhig und schwer wie ein lebendiges Versprechen wirkte – nicht mehr fragil, sondern verwurzelt in einer neuen Art von Gewissheit.
Es war kein lauter Triumph, keine aufwallende Freude, sondern eine tiefe, stille Ruhe, die sich in ihr ausbreitete – wie das letzte, lang vermisste Puzzlestück in einem Bild, das sie nie hatte zu Ende sehen dürfen.
Denn in diesem Moment wusste sie es – nicht mit dem Verstand, sondern mit dem ganzen Körper, mit jeder Ader, jedem Atemzug: Dass sie ihre Familie dieses Mal würde in Sicherheit bringen können.
Nicht durch Rache, nicht durch Aufopferung, nicht durch Schuld – sondern durch das, was sie durch La erhalten hatte: einen Weg, die Seelen ihrer Eltern, ihrer Schwestern, ihrer Blutlinie weiterzuführen, fern von den Schatten, die sich nun über Yew zu legen begannen.
Der Setzling war nicht nur Leben. Er war Heimstatt. Zuflucht. Er war das Versprechen, dass das, was war, nicht verloren gehen musste – nicht im Feuer der Welt, nicht in den Stürmen, die kommen würden.
Rianon war bei ihr geblieben, hatte keinen Moment des Wunders gestört, und nun saß er nahe bei ihr, eine Hand im Moos, die andere auf dem Knie ruhend, und in seiner Haltung lag jene Art von Stille, die mehr sagte als jedes gesprochene Wort.
Der Tag war fast vergangen – das Licht der Sonne schien nur noch in weichen Schleifen durch die Baumwipfel, berührte ihre Schultern, ihre Haare, den kleinen Setzling, als wollte es den Moment segnen, ohne ihn zu stören.
Lirael atmete ein – tief, mit jenem Ziehen in der Brust, das sich einstellt, wenn eine lange gehaltene Last plötzlich verschwunden ist und der Körper erst begreifen muss, was nun Raum einnimmt.
Dann drehte sie sich, langsam, noch immer mit dem Setzling im Schoß, und sah Rianon an.
Ihre Augen begegneten sich, und für einen Atemzug war es, als stünde die Welt still – nicht dramatisch, nicht in donnerndem Verlangen, sondern in jener leisen Klarheit, mit der zwei Wesen einander erkennen, wirklich erkennen, jenseits von Masken, Worten, Schuld oder Hoffnung.
„Ich habe… so lange geglaubt, dass niemand mehr da ist“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leise, fast vorsichtig, als wolle sie das, was sie spürte, nicht durch Benennung zerbrechen. „Und dann warst du einfach… hier.“
Rianons Blick war weich, aber nicht mitleidig – er war warm, wach und frei von der Angst, etwas falsch zu machen.
„Ich bin nicht hier, um dich zu halten“, antwortete er. „Nur, damit du weißt, dass du nicht mehr allein bist, wenn du es nicht willst.“
Ein Zittern ging durch ihre Schultern – nicht aus Schwäche, sondern weil sich etwas löste, das so lange still und starr in ihr gelegen hatte.
Dann streckte sie langsam eine Hand aus – nicht zögerlich, aber auch nicht sicher. Ihre Finger berührten seine, fanden Halt, ohne zu klammern, und sie spürte die Wärme seiner Haut, das sanfte Gewicht, das mehr sagte als jede Umarmung.
Sie sah ihn an – lange, mit einem Blick, der nicht suchte, sondern fand.
Und dann, ganz langsam, wie ein Sonnenstrahl, der sich über das erste Blatt des Morgens schiebt, beugte sie sich vor.
Ihre Stirn ruhte einen Moment lang an seiner, und sie spürte seinen Atem, ruhig, beständig, wie ein Versprechen, das keine Worte braucht.
Als sich ihre Lippen schließlich trafen, war es kein Sturm, kein Feuer, keine Flucht – es war ein Innehalten, ein Zulassen, das tiefer ging als jede Leidenschaft, weil es auf Vertrauen gebaut war, nicht auf Verlangen.
Der Kuss war still. Sanft. Kurz. Und doch war er wie ein Keim, der in der Erde ihrer beider Seelen einen ersten, zarten Trieb schob.
Als sie sich löste, hielt sie seinen Blick, und etwas in ihr, das sich jahrelang gegen jede Nähe gewehrt hatte, legte sich zur Ruhe – nicht weil es verschwunden war, sondern weil es zum ersten Mal nicht mehr allein war.
„Danke“, flüsterte sie, nicht für das, was geschehen war, sondern für das, was nicht gesagt werden musste.
Und in diesem Moment wusste sie, dass etwas in ihr begonnen hatte, sich zu wandeln – nicht in eine neue Person, sondern in jemanden, der wagte, zu wachsen.
Jemand, der begonnen hatte, Wurzeln zu schlagen – nicht nur im Wald, sondern in der Gegenwart.
[b]Aufbruch mit dem jungen Yewbaum[/b]
Der Morgen kam still, beinahe lautlos, wie eine Antwort, die man nicht erwartet hatte, und dennoch verstand. Kein Ruf der Vögel durchbrach die Dämmerung, kein Tier huschte durch das Dickicht – als hätte der Wald selbst beschlossen, diesen Moment nicht zu stören.
Ein feiner Nebel lag noch immer über der Lichtung, durchzogen von den ersten silbernen Strahlen der Sonne, die sich tastend über das Laub schoben, als prüften sie, ob die Welt bereit war, erneut zu atmen.
Lirael saß bereits, als Rianon erwachte – reglos, den Setzling im Schoß, die Augen halb geschlossen, als lausche sie etwas, das sich jenseits der Sinne bewegte.
Sie sprach nicht, als er sich zu ihr setzte, und er fragte nicht, denn was zwischen ihnen lag, brauchte keine Bestätigung, kein Wiederholen, nur das einfache Weitergehen.
Eine lange Zeit verstrich in gemeinsamer Stille.
Dann richtete Lirael sich auf, hielt den Setzling nun fest in beiden Händen – nicht wie ein Schatz, sondern wie ein Versprechen.
„Ich weiß, wohin er muss“, sagte sie schließlich, ihre Stimme ruhig, geerdet. „Nicht jetzt. Aber bald. Wenn es beginnt.“
Sie meinte nicht nur die Schatten, die über Yew hinwegzogen. Nicht nur das, was sie von Lyr’sa gehört hatte, oder die wachsende Unruhe in den Bäumen. Sie meinte das Ganze – das Unvermeidliche, das sich anbahnte, langsam, wie ein Winter, den man im Geruch des Morgentaus erkennt, lange bevor das Laub fällt.
„Er wird nicht hier bleiben“, fuhr sie fort. „La hat ihn gegeben, damit ich ihn bringe. Dorthin, wo sie sicher sind. Wo niemand mehr an sie heranreicht.“
Ihre Familie. Die Seelen, die in La verwoben gewesen waren wie Erinnerungen in einem Lied – flüchtig, aber spürbar.
Nun lebte ein Teil von ihnen in diesem Setzling, getragen in der Mitte ihres Körpers, behütet von ihrer Entschlossenheit.
Rianon nickte nur. Seine Augen suchten die ihren, und in seinem Blick lag das, was Lirael nun zu erkennen begann: nicht Bedauern, nicht Angst, nicht einmal Sorge – sondern Vertrauen.
Nicht blind. Nicht naiv. Sondern gewachsen, genährt durch das, was sie ihm gezeigt hatte.
Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm, ließ sie einen Moment ruhen – kein Griff, keine Bitte, nur die schlichte, stille Antwort auf das, was er nicht hatte aussprechen müssen.
Dann standen sie gemeinsam auf.
Die Lichtung lag hinter ihnen, der alte Yewbaum wie ein letzter Blick in ein Kapitel, das nicht endet, sondern in etwas anderes übergeht.
Lirael trat ein letztes Mal zu La, neigte das Haupt, berührte die Rinde mit zwei Fingern – wie ein Gruß, wie ein Versprechen, dass sie wiederkehren würde.
Dann wandten sie sich ab, durchquerten das hohe Farnfeld, ließen das Licht hinter sich, das zwischen den Ästen hing wie vergessene Erinnerung.
Der Wald nahm sie auf, wie er sie immer aufgenommen hatte – schweigend, atmend, umarmend.
Doch diesmal war etwas anders.
Lirael trug nicht nur den Setzling. Sie trug Verantwortung. Erinnerung. Hoffnung.
Sie war nicht mehr nur Wanderin. Nicht nur Suchende.
Sie war geworden, was sie nie hatte sein wollen – aber nun mit jeder Faser war: eine Hüterin.
Und als sie mit Rianon Seite an Seite das Dickicht durchschritt, den Blick nach vorn gerichtet, spürte sie in sich zum ersten Mal nicht nur die Sehnsucht nach dem, was verloren war – sondern auch die Gewissheit, dass etwas Neues begann.
Ein stilles, leuchtendes Jetzt. Und ein Weg, der sie tiefer führen würde – zu La, zu sich selbst, und vielleicht – irgendwann – zu dem, was man Berufung nennt.