Wie kannst du hier sein, Kyrii‘linth?
Das Bildnis der Dunkelelfe schwieg und blickte an der Vampirin vorbei in die Dunkelheit. Wie schön es war, ihre grauenhafte, herrliche Feindin noch einmal zu erblicken. Ihre Erinnerung an die Priesterin hatte schon lange an Schärfe verloren, ein Wunder ob der Wunden, die sie geschlagen hatte. Ancanagar erhob ihre Hand, unwillkürlich, der Wange der Statue hin. Wehmut, Zorn, Verlangen, Trauer, Verzweiflung - ihr Widerstreit hatte eine Welt niedergebrannt. Die lichtlose Zeit im Kerker der Drow, der erste wahre Schmerz in ihrem Leben: So hatte sie die Elfe kennengelernt. Der Horror bleich strahlender Augen: Die Gier der Priesterin hatte sie entfacht. Dann ihr eigener Gang in den Untod: Kyrii‘linth war der Auslöser. Das Leid und der Tod ihres unschuldigen Yadrans, ihr eigenes Versagen ihn loszulassen, die Scham, den jungen Mann zu sich in die Nacht zu holen: Kyrii‘linth. Und dann jedoch ihr Blut, die krönende Belohnung ihres langen Kampfes, Blut, wie sie es noch nie zuvor und nie danach gekostet hatte, pure Ekstase, pure Erfüllung: Ebenfalls Kyrii‘linth.
Ihre Finger hatten nicht die Wange der Statue gesucht, sondern ihre Lippen. Geschwungen, ernst, würdevoll. Hart, rau und kalt hier, jedoch in ihrer Erinnerung weich und warm und getränkt im eigenen Blut. Ihr Fluch, sich in ihre Opfer zu verlieben, hatte Ancanagar mit dem Biss der Dunkelelfenpriesterin gnadenlos eingeholt. Noch in der Nacht ihres Triumphs hatte sie die Weißhaarige geküsst, und die flüchtige Berührung hatte alles auf den Kopf gestellt. Die Priesterin gehörte ab da nur ihr, Leib und Seele, und all das, was ihr dann widerfuhr, war ein Verbrechen an der Untoten. Denn, als würden ihre Lippen Tragödie heißen, fiel Kyrii‘linth. Sie wurde vom eigenen Volk verstoßen, gebrandmarkt, hingerichtet von der eigenen Göttin, die keinerlei Verrat duldete. Warum hatte sie sich in jener Nacht zurückgehalten? Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, die Elfe zu verschlingen, Blut und weiche Haut, Herz und flammendes Leben. Sie hätte an ihrer Seite durch die Nacht gehen sollen, und weh der Welt, wäre dies geschehen. Zwei Tyranninnen wie eine, schwarz wie die Nacht und fahl wie der Mond, und alle Völker Velmorras zu ihren Füßen. Oh Kyrii‘linth. Die Phantasie konnte seltsame Sehnsüchte spinnen. Denn stattdessen war sie allein, egal wer an ihrer Seite stand, Trauer statt Triumph, ein einsamer Grabesturm statt dem silbernen Palast. Zwanzig Jahre und ihr totes Herz blutete noch immer. Sie beobachtete ihre Finger, die zart über die nachgebildeten Lippen strichen.
Die raue Bronze fühlte sich eigenartig an. Die Schwere des Metalls fehlte. Keine Gravitas, obgleich die meisterhafte Statue vor den reichsten Schlössern und Tempeln hätte stehen können. Ein kleiner Schritt zurück, den kalten Lippen ein Abschied um Kinn und Hals nachzufühlen, dann Schlüsselbein und Brust, rau und nicht massiv, perfekt und zugleich hohl. Ihre kleinen, sie umkreisenden Monde warfen unverständliche Schatten, Bewegung, wo sie und das Bildnis stillstanden. Winzige Detritusflocken schwebten im Wasser, still und unbewegt, doch die streichelnde Strömung im Rücken der Vampirin war erneut stärker geworden. Sie erinnerte sich auf einmal sehr genau daran, wo sie war. Nein, auch wenn sie nicht wusste, wie alt Kyrii'linth gewesen war – es mochten Jahrhunderte gewesen sein – die Statue war zu alt. Der Geruch von Magie war subtil vorhanden, aber die unbekannte Note konnte Alles und Nichts heißen. Ein Blick zur Seite ließ sie eine der Säulen erblicken, die ominös in der ewigen Dunkelheit auf sie gewartet hatten, unwahrscheinlicherweise von den Zeiten kaum berührt. Die Schatten der Statue und ihres Leibes tanzten, tanzten, tanzten über den flachen Boden, und die fünf verteilten, sich bewegenden Lichtquellen mochten ihren Anteil an diesem Kaleidoskop haben, doch irgendetwas...
Einem Impuls folgend ließ sie vier der fünf Sterne verlöschen, ließ das überlebende Licht erstarren, und augenblicklich zeichnete sich ein verständlicheres Schattenbild auf den toten, kalten Sand. Da war die grüßende Statue Kyrii‘linths, dann der Schatten ihres schmalen Leibes, und dann, hinter ihr, dort wo Leere sein sollte, das Abbild eines wagengroßen, wimmelnden Knäuels aus Tentakeln, Stacheln und Flossen. Einige dünne Arme streckten sich nach ihrem Schatten aus, berührten sie beinahe, entfachten die Strömung, die sie verspürte.
Lähmung.
Sie blickte unendlich langsam zurück zum Bildnis ihrer Feindin, in der Hoffnung, dass das Gesehene sich irgendwie aus der Realität brechen würde.
Doch ihre geliebte Kyrii‘linth erwiderte ihren Blick. Ein ertapptes Lächeln bewegte die uralten Lippen. Dann fuhr
etwas aus dem Bildnis hinunter in den Boden und im nächsten Augenblick zerstob das vermeintliche Metall in einer Implosion zu staubigem, kaltem Sand. Der Untergrund begann zu beben und der Boden zu brodeln. Sie wirbelte herum, um dem Schrecken der Tiefe ins Angesicht zu blicken, doch da war nur Leere. Zitternde Wasser, zitternde Magie kratzten an der Wirklichkeit. Chaotische Wirbel und plötzlicher Sog rissen an der Untoten, der mitgespülte Sand wie eine Reibe. Unter dem Schlick kam vergrabene Geschichte zum Vorschein. Schillernde Muscheln inmitten von behauenen Steinfragmenten, Waffen, Rüstzeug, Ton- und Knochenscherben, vergessen und vom Salz zerfressen. Schutz suchend stolperte Ancanagar umher, Panik auf der Zunge, doch ihr erschrockener Ruf bewegte nur ihre stummen Lippen. Wie dichter Nebel verschleierte der hochgewirbelte Sand ihre Sicht. Die Säulen waren nicht mehr zu erkennen. Das tobende Wasser zerrte stärker an den schwereren Überresten, Steine begannen zu rollen, zerbrochenes Metall schoss glitzernd an ihr vorbei. Ihr Zopf löste sich und Sand und Fragmente verfingen sich im Haar.
Ein Hieb, der das Wasser selbst zerteilte.
Dann Stille. Der Sturm erstarb innerhalb eines Lidschlags. All die hochgewirbelten Dinge sanken rasch zu Boden, und der ewige Sand verschlang abermals die Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit. Einen Moment lang keimte die Hoffnung eines bösen Traumes, einem Wahn der Tiefe, eines allgemeinen Irrsinns, irgendetwas, was sie allein und nicht in einer schrecklichen Falle mit einem Ding zurückließ, dessen Schattenriss allein genügte, ihr Innerstes zu zerfasern. Einen Moment lang Hoffnung. Einen Moment lang lediglich ein verängstigtes Mädchen. Dann fuhr etwas aus dem Sand direkt vor ihr empor, blutrot und unkenntlich, raste in weitem Bogen von ihr fort und schrieb in einem knöchelhohen Wall einen weiten Kreis auf den Boden.
Ihr gegenüber, jenseits des Kreises, gebar der Sand erneut die Statue Kyrii‘linths, doch nun voll und ganz belebt, groß und wunderbar und verlockend wie im Leben und das stille Herz der Vampirin wollte vor Furcht noch stiller werden. Die Elfe aus Sand schritt über den Wall, und eine herrische Geste sprach Herausforderung, die den Kreis in eine Arena verwandelte. Ungesehene Gespensteraugen lasteten schwer auf der nackten Magierin. Was sollte sie tun? Sie bedeckte ihre Blößen und starrte zu dem Wesen aus Sand.
Ein plötzlicher Schmerz an einer Schulter, dann noch einmal, kurz und scharf, auf der Anderen. Die durchtrennten Lederriemen wurden von ihren Eisengewichten zu Boden gerissen. Nun war sie noch nackter. Ohne ihre Gewichte fühlte sie sich schwerelos, als ob ein Sprung sie Spannen weit tragen könnte. Wagte sie eine Flucht? Doch der kurze Augenblick des Zögerns ließ die Chance vergehen. In ihrem Rücken begann erneut die vage, ziellose Strömung zu wirbeln. Sofort kam der Drang auf, sich umzudrehen, sofort die Furcht, für immer zu Sand und Stein zu erstarren, wenn sie dies tun würde. Doch sie hatte ohnehin keine Gelegenheit dazu, dem
Ding dauerte ihr Harren zu lange - und ein schneller, harter Stoß ließ sie über den niedrigen Wall in die Arena stolpern. Kantige Fragmente schnitten in ihre Knie, doch immerhin versiegte die Strömung in ihrem Rücken. Das Überschreiten der Grenze rief Schwere, wie auf dem Land, in ihre Glieder zurück. Sie sah auf. Kyrii‘linth war allein mit ihr. Aufrecht stand die dunkle Elfe, entspannt und zugleich herausfordernd, und die Nacktheit war der Statue kein Hindernis. Ancanagar wollte nicht kämpfen, nicht um ihr Leben, nicht mit der Erinnerung ihrer geliebten Feindin. Doch die Sandfigur ließ ihr keine Wahl. Eine weitere, gebieterische Geste - und aus dem Sandboden erhob sich die Ruine eines Schwertes, schlank und lang, zu lang für eine einhändige Führung, die Schwäche der Klinge leicht gebogen, Rost und Seepocken, keine Wehr, grau und alt, und der Ort der Waffe ein grausames Versprechen. Die Elfe ergriff das Instrument des Todes mit graziler Hand, fuhr mit der Anderen über das stumpfe Metall und hinterließ eine gleißende Schärfe. Ancanagar starrte reglos. Wie konnte sie dem Kommenden entgehen? Warum ein Schwert? Nie hatte sie eine solche Waffe in den dunklen Händen gesehen. Erneut sprach die Priesterin aus Sand ihre wortlose Herausforderung und weich floss ihre Gestalt in arrogante Haltung, ein tragisches Versprechen wider die Kniende gerichtet.
Ein spielerischer, müheloser Hieb, als wäre das schwere Wasser dünnste Luft. Ein Lächeln nahm der Arroganz die Bitterkeit, dann stand Kyrii‘linth innerhalb eines Lidschlags vor ihr und hatte uralten Stahl gegen die Stirn der Vampirin gelegt. Ein winziger Schnitt - nur die Idee von Schmerz - und ihr Band um die Stirn sank herab. Dunkelbraune Strähnen schwammen vor ihren Augen. Die Form der Elfe trat zurück, das Schwert auf Kopfhöhe gehalten, unablässig gegen die völlig entkleidete Untote gerichtet. Ancanagar erhob sich. Die Ahnung vom Ende war da. Beinahe poetisch, dass es ein Abbild ihrer ihr verweigerten Geliebten sein sollte, die sie richten würde. Warum spürte sie sich selbst lächeln?
Etwas legte sich um ihre Hand- und Fußgelenke. Schwere, die ihr Lächeln verzehrte. Der Geschmack von Eisen im Mund, ein Druck um ihre Glieder, der sich in kribbelnder Spannung entlud, mehr Gewicht. Sie wagte einen kurzen Blick weg von der Klinge. Sie war gefesselt. Von Salz geätzte Metallbänder um ihre Gelenke, befestigt an groben, dunklen Ketten, die sich im Sandboden verloren. Eine Bewegung von vorne riss ihre Aufmerksamkeit zurück. Die Elfe trat weitere Schritte zurück. Eine sandige Hand löste sich vom erhobenen Schwert, griff
in die eigene Brust, und barg eine ähnliche Kette, die den Boden der Arena mit dem Innersten der Figur verband.
Ancanagar konnte sich bewegen, aber die Ketten und das Wasser machten sie schwerfällig. Neben ihr schob sich eine ähnliche Klinge, wie die ihrer Gegnerin, aus dem Meeresgrund. Was blieb ihr, als das Angebot anzunehmen? Sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie das letzte Mal ein Schwert in den Händen gehalten hatte. Sie nahm die einfache Haltung an, die ihre vage Erinnerung an trainierende Soldaten und Krieger heraufbeschwor und sie schmeckte den Spott, den ihr Anblick ernten musste. Sie war Magierin!
Doch die Elfe nahm sie ernst. Ihr Anblick, der Gedanke, sie zu bekämpfen, lähmte Ancanagar. Ein langer Augenblick des Stillstands, des Messens, bis das Harren in einem unwahrscheinlich schnellen Hieb endete. Der Tod schnitt schräg nach oben, und die Untote wäre beinahe zweigeteilt worden. Ein instinktives Wegducken fort von der Bedrohung ließ das Schwert nur Wasser schneiden. Ihr eigenes: Völlig nutzlos. Sie versuchte es zu heben, irgendetwas zu tun, bevor der nächste Hieb kam, aber ihre Schulter verweigerte den Dienst. Ein Blick, eigentlich fataler Fehler, und sie sah einen fingerdicken Lappen ihres Oberarms, der sich gemächlich von ihr löste. Die Elfe aus Sand gestattete ihr den Anblick. Das Stück tote Fleisch trieb davon und begann sich in graue Asche aufzulösen, während sich die Wunde an ihrer Schulter bereits wieder schloss. Der Chor ihrer Sterne musste... Bevor sie weiterdenken konnte, ein neuer Hieb, und sie konnte der Magie keinen Augenblick schenken. Sie hob ihre Waffe in verzweifelter Wehr - und die Klinge der Anderen tanzte unter ihren Armen hindurch, öffnete ihren Bauch und spaltete einen Oberschenkel bis auf den Knochen herab. Auch dieses Klaffen schloss sich. Sie mochte unsterblich sein, ja, aber mit welchem Nutzen! Sie konnte die Klinge nicht einmal in ihrem Leib fangen, um einen wahren Gegenangriff zu starten. Dann vielleicht ein normaler Hieb, der wider Erwarten... Die Elfe umtanzte ihr Schwert in einer einfachen Endgültigkeit, als hätte sie diesen kläglichen Versuch bereits seit dem ersten Messen erwartet. Mit unglaublicher Macht hieb sie ihre Waffe beiseite, drückte sie aus ihrer Bahn und trieb das Schwert der Tiefe in das stille Herz der Vampirin, ohne selbst auch nur ansatzweise in Gefahr zu sein. Der Schmerz, der den grässlichen Wunden folgen musste, begann sich grollend aufzurichten. Die Erinnerung an Kyrii‘linth lächelte, wehmütig, traurig ob der viel zu leichten Beute. Ein rasches, routiniertes Drehen der Klinge in ihrer Brust, als ob der Herzensbruch nicht bereits tödlich genug gewesen wäre. Die Wasser verfärbten sich dunkel. Wie lange würde sie hier bestehen können, bevor ihre Heilkräfte versiegten? Ein paar Minuten? Voller Pein und Erniedrigung? Gerichtet vom falschen Leib ihrer Begehrten? Was für eine Unsterblichkeit.
Das Ende war wirklich nah. Echte Angst und echte Panik. Sie warf sich gegen die aufgezwungenen Regeln an, beschwor in dieser kürzesten Pause heiser einen rauen Ruf ihres Sternenchors, wirkte Verzweiflung und Magie in arkanen Druck und schleuderte diese Expulsion gegen die dunkle Elfe. Unsagbar grazil sprang diese zurück und führte einen lässigen Hieb gegen die unsichtbare Welle. Und das Schwert barst. Überraschung in beiden Gesichtern. Dann rasch eine erneute Äußerung von magischer Pressur, hinter der zurückweichenden Statue her. Diesmal war das Abbild nicht schnell genug. In die Ecke gedrängt, riss das Wesen aus Sand die ihrem Herzen entspringende Kette als fragwürdige Wehr hoch, empfing die Druckfront - und ein warmes Lächeln blitzte auf den uralten Lippen auf. Metall barst, als die arkane Wirkungskraft die Kette sprengte, und dunkle Metallfragmente zu Boden schleuderte.
Sand floss aus dem offenen Herzen Kyrii‘linths. Sehnsucht, selbst jetzt. Und Sehnsucht, erwidert. Sand floss herab und die Gestalt der Elfe war zerstoben. Ihr eigenes Schwert sank in den Meeresgrund zurück. Was hatte sie getan? Sie suchte ihr eigenes Herz, verzweifelt, und ihre Finger fanden nur heile, kalte Haut. War da ein Herzschlag, nach all den Jahren? Genug Erregung, Trauer, Gier um ihr Innerstes zu bewegen? Weinte sie, der verlorenen Liebe wegen? Das Meer trank jeden Beweis. Fahrig tastete sie nach dem Rest ihres Leibes. Die Wunden waren bereits vergangen, halb zu ihrer Überraschung, halb zu ihrem Erwarten.
Ein Knacken, noch durch das Wasser zu hören, riss die Aufmerksamkeit nach unten, und sie sah, dass eine ihrer Fußfesseln das gleiche Schicksal der Kette ihrer Kontrahentin erlitten hatte. Freiheit? Nein, aber nur noch dreifach gebunden. Ancanagar schmeckte jedoch keinen Sieg. Sie hatte ihre Liebe ein zweites Mal gemordet. Und wieder war sie allein und ihre fahlen Finger hielten nicht die dunkle Hand ihrer Zwillingstyrannin. Wieder war sie allein in einer Welt, die keinen Ersatz bieten konnte. Immer wenn sie andere Dunkelelfen erblicken musste, kostete sie Galle und Verachtung. Niemand kam ihrer Priesterin gleich. Sie zürnte dieser Vergangenheit, irgendwie musste sie Gerechtigkeit finden! Wenn sie hier entkommen könnte. Ihre Ketten sahen nicht aus, als ob sie diese zerreißen, aufbrechen oder irgendwie sprengen konnte. Ein erneuter Anruf an die Sterne, Druck wider dem Eisen zu senden, ließ sie selbst taumeln, und ihre verwunschenen Ketten schienen unbeeindruckt. Was nun? Kyrii'linths Herzensband war wie trockenes Holz gebrochen, als hätte es nur darauf gewartet, von ihrer Magie berührt zu werden. Sie hatte daraufhin gelächelt! Und sie selbst war mit einem Geschmack von Freiheit belohnt worden. Ihre drei verbliebenen Fesseln ließen sie nun sehr genau ahnen, was gleich geschehen würde. Sie sah auf.
Ihr weißer Sperber stand da, streng und der Welt überlegen wie an jenem Abend, als er sie auf die Suche nach dem Meteor entsandte. Schulter an Schulter zu ihm stand Aetherium da, streng und der Welt Disziplin und Gelassenheit androhend. Beide waren heroische Männlichkeit, kein Detail verborgen, kein meisterhaft geformter Muskel von falscher Kleidung versteckt. Der Eine hatte keine Waffe nötig, der Andere begnügte sich mit einem einfachen Stab. Ketten entsprangen auch ihren Herzen und verloren sich im Sand. Auf einmal war der Magierin ihre Nacktheit auf ganz andere Weise bewusst. Kyrii‘linth hatte ihr Herz entfacht, doch es gab auch eine Gegenwart. Jedoch: keine Zeit für Peinlichkeit, keine Zeit für verstohlene Blicke. Das eine Abbild hob die Rechte, das Andere den Stab. Der arkane Horizont begann wie nach dem Fall einer Sonne zu brennen. Da war keine grazile Eleganz einer elfischen Klingenmeisterin mehr, nur das Destillat vollkommener Vernichtung. Zu schnell, zu endgültig. Inmitten des Ringes versuchte eine neue Welt sich selbst zu gebären, hellstes karminrotes Licht, konzentriert, konzentriert, konzentriert; und die bestehende Wirklichkeit stürzte mit allem Gewicht der Realität dagegen. Ancanagar konnte nur zusehen. Nicht einmal lange genug, um ihre Lider zu senken und wieder zu heben.
Alles Dasein verging.
Nach einer unbekannten Zeitspanne öffnete die Vampirin ihre Augen, die sich anfühlten, als wären sie noch nie geöffnet worden. Dunkelheit. Ihre Lichter waren erloschen. Sie spürte die Muskeln ihres Leibes, kostete allumfassenden Schmerz, zwang ein Erzittern in ihre Glieder. Sie lag auf einer glatten, glasigen Oberfläche, und das Fehlen des allgegenwärtigen Sandes rieselte langsam in ihren Geist. Irgendetwas war geschehen. Das rote, durchdringende Licht, direkt vor ihr? Ihr kompletter Leib fühlte sich wie neugeboren an. Und Hunger. Hunger lastete wie nie zuvor auf ihr. Gleich musste sie sicherlich vergehen, verdursten, hier unter einem Gebirge aus Wasser. Ihr latentes Überlegenheitsgefühl lag blutend offen, lächerlich und kümmerlich, wie die korrigierte Phantasie eines Kindes, dass das mächtige, verzauberte Holzschwert gegen einen wirklichen Krieger geführt hatte, der mit wahrem Stahl die Welt wieder in die Fugen hieb. Ancanagar sah nur Dunkelheit, doch bevor ihr Dasein endete, wollte sie ihrer Vernichtung wenigstens ins Antlitz blicken. Oh Bedauern, Welle um Welle, Gesichter ihrer Familie, Berührungen von Liebhabern, der Geschmack deren Blutes, dann ihre Finger und Lippen, die Tragödie säten. Wer war sie überhaupt? Nur ein dummes, verirrtes, trauriges Kind.
Silbernes Licht streichelte die Tiefe unter dem Meer und Ancanagar lag auf schwarzem Glas, in dem sich ihre bleichen Sterne widerspiegelten. Der Boden war kalt. Sie konnte sich kaum bewegen, denn ihre Handgelenke und ein Fuß waren weiterhin mit schwerem, ungebrochenem Eisen gefesselt und die Ketten schienen mit dem Boden verschmolzen. Mit ausgestreckten Armen war sie dem Grauen der See ausgeliefert. Bewegung neben ihr ließ sie panisch hinblicken. Zu ihrer Rechten das Abbild ihres Sperbers, arrogant und unendlich fremd. Zu ihrer Linken das Abbild Aetheriums, ruhig wie im Leben, gleichgültig wie der Tod. Er hob seinen Kampfstab und stieß ein Ende mit Wucht in den Bauch der Vampirin. Der Schmerz ließ sie beinahe erneut die Besinnung verlieren. Aus den Augenwinkeln sah sie die andere Statue erneut die Hand heben, sicherlich nun zum Gnadenstoß, und ein Teil der Untoten wünschte sich, endlich aufgeben zu können.
Am Stab des falschen Aetheriums begann bläuliches Licht aufzublitzen, daran herab zufließen und sich unter die Bauchdecke in ihre Eingeweide zu fressen. Weniger direkter Schmerz, als das Gefühl einer elementaren Auflösung. Sie erkannte den Widerschein der astralen Magie, doch was das Wesen tat, blieb ihr verschlossen. Das ultramarine Flackern indes erinnerte sie an die Loderaugen des Mannes, doch sie wollte nicht glauben, dass der wahre Aetherium solche Pein und Grausamkeit in sich verstecken könnte. Derweil tropfte aus den Fingern des falschen Sperbers Dunkelheit, perfekte Finsternis,
Nacht, und verblichene Erinnerungen uralten Blutes, noch immer in Spuren in der Essenz der Vampirin enthalten, schrie vertraute, verzweifelte Warnung, nichts, nichts,
nichts konnte schlimmer sein, als von diesen zögerlich herabsinkenden Tränen berührt zu werden.
Wie kläglich ihre Bemühung, wie schwindend ihre Kraft, aber ein letztes Aufbäumen von Widerstand beschwor ihren Chor der Sterne, noch einmal etwas Kälte zu schenken. Zwei fingerdünne Speere erstarrenden Wassers stießen nach oben, den Blitze gebärenden Stab entlang, durch die fallenden Tränen des Verderbens hindurch - und die zwei belebten, tötenden Statuen hielten schon ihre Ketten bereit, empfingen ihre Hoffnungslosigkeit mit warmen Lächeln, und Metallsplitter stoben auf, als das brüchige Eis die dicken Kettenglieder sprengte. Die vernichtenden Zauber der beiden Abbilder verklangen. Irgendein Impuls floss die verbleibenden Ketten entlang, versank im Boden aus Glas und in Herzen aus Sand. Beides wurde zerschmettert. Aetheriums Blick - weich, belebt, wie sie ihn noch nie im Leben erblickt hatte. Der Blick ihres weißen Sperbers - voller Wärme und Menschlichkeit, abseits von allem, was sie für möglich gehalten hatte. Sand blutete aus den zwei geborstenen Herzen und die beiden Gestalten verloren ihre Form im herabfallenden Staub.
Der glasige Boden unter ihr begann zu zerbrechen, und nach wenigen Augenblicken lag sie wieder auf dem bekannten Meeresgrund. Zwei mal knackte es nun, schmerzhaft für die Ohren, schmerzhaft für die nun befreiten Arme. Nur noch ihr Fuß nun. Sie versuchte, sich zu erheben, doch sie fand keine Kraft mehr dazu. Wie sollte sie eine weitere Begegnung überstehen? Und warum tat ihr Herz so weh, als sie die Erinnerung an die beiden Lebenden so vergehen sah? Die beiden Männer waren sehr präsent in ihrem Denken, aber da waren nur Worte gewesen, sie hatte keinen der beiden berührt, weder mit ihren Fingern noch mit ihren Fängen. Die Tiefe der Emotionen war sicherlich nicht mit denen zu ihrer Kyrii‘linth zu vergleichen. Aber wie konnte sie erwarten, diesen Irrsinn irgendwie zu verstehen?
Sie wusste plötzlich, dass sie nicht mehr allein war. Wem würde sie jetzt gegenüberstehen? Raash, Yerabeth? Sie schaffte es irgendwie, sich auf ihre Knie zu wuchten. Vor ihr sah sie bereits die Füße ihres nächsten Kontrahenten. Was für ein bitteres Spiel. Warum diese Mühe, warum wurde ihr der Sieg geschenkt, wenn sie in jeder Hinsicht unterlegen war? Mühsam hob sie den Blick, um zu sehen, wer sie nun endgültig richten würde, denn sie spürte den Hungertod bereits nach ihrem Hinterkopf greifen.
Kein Monster, kein Liebhaber, kein gestrenger Vater. Ausgerechnet Anyera stand dort, ihre Schwester, Tante, je nachdem wie sie ihre Gefühle zur Blutsverwandten gerade auslegte. Sie mochte die dunkelhaarige Vampirin, aber warum gerade sie? Auch aus ihrem Herzen erwuchs die Kette, die sie mit dem Sand verwob. Im Gegensatz zu den anderen statuenhaften Erscheinungen wirkte die bis jetzt Regungslose näher an der Wirklichkeit, keine Heroik, keine perfekte Nacktheit. Stattdessen war sie in der unerwarteten Entsprechung wunderbarer, reicher Kleidung gehüllt, getragen mit der natürlichen Haltung einer geborenen Gräfin. Die langen, schönen Haare waren zu einer aufwendigen Frisur aufgetürmt, ein gnädiges, wenn auch distanziertes Lächeln lag im Antlitz. Gerade Anyera, die doch einsam im Zwielicht weilte, gelangweilt und gequält, schatten- und naturverbunden. Nicht hier jedoch. Ancanagar konnte nur erwartungsvoll aufblicken. Immerhin hielt ihre Schwester keine Waffe in der Hand. Nach einigen Momenten trat sie näher an die Knieende und blickte durch die Tiefsee hindurch hinab auf ihre klägliche Nichte, Sand und Blut, und würdevoll erhob sie beide Hände. In der Rechten lag die eigene Herzenskette, die Linke hielt keinen Gegenstand, sondern ein Gefühl, eine Kraft, eine Erinnerung, und die Magierin glaubte einen Schimmer karminroten Lichtes zu sehen, der zwischen den sandigen Fingern tanzte. Beides wurde angeboten. Konnte sie wählen? Sie erinnerte sich an das Lächeln ihrer dunklen Elfe, ihres Sperbers, ihres Aetheriums, ihrer tiefen Freude und Erleichterung, als die Kette gesprengt wurde. Könnte sie ohne Kampf davonkommen? Hoffnung keimte nur kurz, denn selbst wenn sie dies hier überleben würde, dann würde sie doch im nächsten Moment verhungern. Lediglich nach oben zu blicken, kostete schon alle Mühe. Doch wenn es irgendeine Hoffnung gab: Voran! Sie blickte zur Kette, formte gerade so den Willen, zu tun, was das Wesen von ihr zu erhoffen schien.
Das Abbild der anderen Vampirin griff daraufhin über die letzte Distanz hinweg und berührte Ancanagars Schulter mit leeren, rot glimmenden Fingern.
Etwas floss vom Sand in ihr totes Fleisch. Der Hunger versiegte. Klarheit flutete ihren Geist. Die tiefe, tiefe Düsternis zwischen den Gedanken wurde schärfer, als würde die Nacht zwischen den Sternen noch dunkler. Ein kleiner Teil der Todesangst der Magierin erstarb: Sie würde wider Erwartung nicht verhungern.
Sie sah auf. Die falsche Anyera blickte ohne deutbare Regung auf ihre gerettete Schwester herab. Und sie bot weiterhin die Kette an, die aus dem sandigen Herzen entwuchs. Mit geschenkter Kraft hob Ancanagar eine Hand und berührte die schwere Fessel der Statue. Sie ahnte, dass die Kette leicht unter ihrer Magie brechen würde, aber in diesem Moment konnte sie das erste Mal klar auf die Ereignisse blicken, die sie hier auf die Knie gezwungen hatten. Sie mochte keine Wahl haben, sie mochte ausgeliefert sein, und die letzte Kette mochte sie vielleicht befreien, aber sie war nicht die einzige, deren Fessel brach. Die sandene Anyera wartete still und würdevoll und strahlte im Lichte der neuen Klarheit leise Bedrohung aus. Aber wie sie schon erkannt hatte - im Grunde gab es ohnehin keine Wahl. Also... voran. Ein kleiner Impuls mit neuer Kraft, ein Erstarren der Wasser unter ihren Fingern, ein sanftes Krachen von erfrorenem Metall, und dann fiel ein Kettenende gebrochen auf den Meeresgrund.
Mit dem Fallen der Glieder wuchs die Gewissheit in Ancanagar, dass sie falsch lag. Die richtige Entscheidung wäre diese gewesen: Ihre eigene Auslöschung, selbstgewählt. Ob die falsche Anyera es auch so sah? Das adelige Abbild ihrer Schwester lächelte, wie die Statuen zuvor, warm und erfreut, aber schnell wuchs diese Äußerung zu einem wahren Lachen, herzhaft und selbstvergessen, ungläubig und ekstatisch, kalt und schrecklich. Dann zerstob das Abbild, wie die ersten Statue Kyrii‘linths, als
etwas durch den Leib hinab in den Boden fuhr. Und wie zu Beginn des Wettstreits begann der Boden zu beben, doch wurde nun mehr ihr Innerstes erschüttert, als der Untergrund. Sand und Staub und Steine und der vergessene Unrat der Zeiten begannen zu tanzen und zu brodeln und Staubfahnen wurden von Verwirbelungen nach oben gerissen. In der Mitte des ehemaligen Ringes schob sich zögerlich eine Struktur in die Höhe - oder Nein, der Boden floss davon, die Oberfläche begann zu sinken, denn in wilden Strömen floh der Sand in die Dunkelheit.
Ein erhöhter, leerer Thron aus Marmor, schlicht und grandios, wurde von uraltem Meeresgrund befreit. Der fließende Boden erzitterte unter der noch immer Knieenden. Die vier Säulen, die den Platz begrenzten, wurden sichtbar, und vier eiserne Ketten spannten sich vom Herzen jener Säulen hin zum Thron, nein, sie bündelten sich ein kleines Stück darüber, inmitten des bewegtesten Wassers. Rasche, unstete Schatten flackerten über Boden und Marmor, und das Licht ihrer Sterne brach und bog sich über den Ketten, über dem Thron, auf eine Art und Weise, die eine tiefsitzende Übelkeit verursachte. Immer mehr Sand verlor sich im Ozean. Reste davon flossen zusammen, stützten in unregelmäßigen, organischen Formen die gespannten Ketten. Mehr Details wuchs in den Formen, mehr Lebendigkeit, und bald erkannte sie Figuren, wieder einmal Statuen, wieder Gesichter, wieder Erinnerungen: Da war Raash, der triumphierend zwei geborstene Enden einer Kette in die Höhe hielt, dort Yerabeth, die nachdenklich ein anderes Ende betrachtete. Hier ihr Yadran, dort ihr Neriel. Ihre Blutsverwandten, ihre wahre Familie, und sie hoben die geöffneten Fesseln des unsichtbaren
Dinges auf dem Thron über sich hinaus. Istan, Laveniyah, Niowe, Ahmed. Auch andere Vampire, entfernter verwandt, Nathan, Julara, und auch sie hielten die Ketten über den Kopf. Dazwischen Unbekannte, eine Frau in Rüstung, zwei Männer in Roben, eine vage bekannte Elfe, noch mehr Gestalten, alte Freunde, Dalex, Katajo, Adurias und die Gesichter einer lange vergangenen Gemeinschaft. Und jetzt erkannte Ancanagar auch ihren leiblichen Vater, wohl den Flammentod gestorben, ihren Bruder, an den sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, ihre liebe Stiefmutter, ihren unglückseligen Verlobten, Verderben hole seine Seele. Und nah daneben eine Frau, die sie nicht kannte, aber etwas in ihr anrührte, eine Saite anschlug, in bittersüßem Leidenston, und sie wollte weinen, denn sie wusste, ihre wirkliche Mutter, die sie nie gekannt hatte, stand vor ihr.
Und all die Erinnerungen berührten die vier gebrochenen Ketten und hielten sie dem Thron hin.
Unter ihren Füßen und Händen floh der letzte ungebundene Sand. Kühler, rauer Marmor in quadratischen Platten, länger und breiter als ihr Arm lang war, bedeckte den Platz zwischen den Säulen. Dieses oder vergangene Beben hatten die Platten bewegt, leicht gegeneinander verschoben, so dass trotz der perfekten Aufteilung Chaos die Szenerie beherrschte. Die Statuen ihrer Erinnerung standen still.
Aus den dunklen, wässrigen Himmeln fiel ein dünner Streifen hellen Sandes auf den Thron hinab. Ein tiefes, plötzliches Geräusch brandete durch die Welt, und Ancanagar sah eine der Säulen zerbrechen und in Bruchstücken zu Boden zu sinken. Immer mehr heller, fast weißer Sand auf dem Thron. Ein erneutes Knacken, gleich darauf ein anderes. Noch zwei Säulen zerborsten. Der gleißende Sand nahm Gestalt an. Ancanagar kroch langsam zurück, weg vom Zentrum, weg von ihrer Mutter. Ein Krachen. Die letzte Säule fiel. Und auf dem erhabenen Thron saß eine fremde, unscharfe Gestalt, die direkt in die Tiefen ihres Ichs blickte.
Ein letztes Erzittern der Wasser.
Kondensierender Sand vor ihr erzwang ihre Aufmerksamkeit. Noch ein Bild, noch mehr Allegorie, Erinnerung, Herausforderung. Jede Wahrnehmung fühlte sich taub an, und was konnte sie noch tun, als zuzusehen? Zwei Figuren diesmal, geformt aus demselben hellen Sand wie die Gestalt auf dem Thron. Keinen Schritt vor ihr standen ein Mann und eine Frau, nackt, Rücken an Rücken. Unbehagen beim Anblick der schmächtigen Frau. Sie sah sich selbst, traurig, verloren und gefangen. Ketten, Ketten, Ketten, die sie fesselten, an den Boden banden, an den Thron zwangen, an den Mann direkt hinter sich, den unbekannten Mann, der ebenso gebunden und gefangen war. Haut an Haut. Nur Sand zwar, aber der Anblick ließ sie erbeben. Wer war er, der da stand und ein Schwert aus vergangenem Eisen in der Hand hielt, als wäre es eine Feder zum Verfassen von Lyrik? Er war größer als sie, und ihr Abbild schmiegte sich in seinen schmalen, starken Rücken. Ihre echten Finger tasteten nach ihrem stillen Herzschlag und sie konnte dem Mann mit den kurzen Haaren nur zusehen, wie er das Schwert mit Fingern hob, die keine Waffen berühren sollten. Die Ancanagar aus Sand senkte ergeben das Haupt, als er das wehmütige Schwert gegen sich richtete. Staub stob auf, Ketten, Ketten, Ketten sprangen, brachen, barsten, und die Klinge fand zwei Herzen aus Sand. Blutende Momente harrte das Bild, dann zerfloss auch diese Vision in die nebligen Wasser.
Verloren und verstört kniete sie auf Marmor, ignoriert von der Welt und den Statuen ihrer Erinnerungen. Zu viel, zu viel, zu schrecklich viel. War dies ein Orakel, eine Prophezeiung, ein Rätsel gewesen? Was bedeutete es, dass die Gesichter ihrer Vergangenheit diesem Thron huldigten? Sie wagte es kaum, die helle Gestalt darauf anzublicken. Diese starrte noch immer in die dunkelsten Winkel ihrer verlorenen Seele. Die Aufmerksamkeit des Wesens wog mehr als das Gewicht des Ozeans auf ihren Schultern. Sie wünschte sich den Schlick und den Schlamm des Meeresgrundes zurück, um sich darin zu vergraben und zu verbergen und ihre strauchelnden Wahrnehmungen darin zu bedecken. Das Abbild des Wesens begann sich zu erheben. Der Moment streckte sich quälend in die Unendlichkeit.
Unvermittelt stand plötzlich der Herr der tiefen See vor ihr, als würde er Distanz oder Zeit ignorieren können. Sie wich zurück, ihr Denken blank und heiser. Der belebte Sand zeigte einen schlanken Körper eines Jünglings, kaum erwachsen, und hier schien die heroische Komposition seines Leibes keine künstlerische Freiheit zu sein. Wo Anyeras Abbild wie das einer Gräfin gewirkt hatte, kniete sie nun vor einem Halbgott. Knöchellanges Haar umspielte die Gestalt in sanfter Strömung, strich über Muskeln und wohlgeformte Glieder. Sie war zu benommen um noch klare Gedanken zu fassen. Ein schlanker Finger aus Sand hob sich zärtlich, und Ancanagar - von einem Augenblick auf den nächsten - stand auf ihren Füßen. Ein leichter Schwindel. Sie blickte in fremde Augen und fand keine Worte der Beschreibung. Wieder ein Fingerzeig, minimal und weich. Im Hintergrund zerstoben die vielen Statuen ihrer Erinnerung und trübten das Wasser. Edle Züge, edles Lächeln, und der Schwindel wurde stärker. Falsch und wunderbar, er kam näher, jede Bewegung von Sehnen und Muskeln unter der Haut dargestellt, und die beschworenen Lichter brachen und bogen und reflektierten brillante Schatten, strahlende Kaustik, ein Halo aus Gestirnen, und er kam immer näher, und ein Bild aus ihrer Jugend trieb heran, der atemlose Moment unter dem Wasser eines klaren, kalten Baches und ein Blick nach oben, und das Sonnenlicht tanzte in wahnsinnigem Leben und herzzerreißender Schönheit, gerade außerhalb ihrer Reichweite und dann kam er noch näher und hielt erst an, als die seidigen Haare aus Sand ihre Hüfte und Brust streichelten. Ancanagar atmete scharf ein, und nur Wasser berührte ihre Kehle und Lungen. Die Statue hob bedacht die Linke, zu nah, zu weich, und die feinen Lippen küssten die Spitzen des eigenen Zeige- und Mittelfingers. Lider aus Meeressediment senkten sich, die Wasser erschauderten, und das fremde Wesen führte den Kuss an die eigene Brust über dem Herzen hin. Dann trieben die schlanken Finger zu ihr herüber und fanden samt beseeltem Kuss Ruhe auf Ancanagars Lippen.
Was hatte sie getan? Unmissverständliche Dankbarkeit und das Bewusstsein, einen unverzeihlichen Fehler begangen zu haben, floss von seinen kalten Fingern in ihr Wesen. Seine Schönheit war absolut, und den Empfindungen der Untoten wurde der Fokus entrissen, denn nun waren es die fernen Sterne, die diesen Augenblick der Berührung betrachteten und entgegen ihrer gleichgültigen, himmlischen Natur dieser unwirklichen Begegnung den kleinsten vorstellbaren Hauch an Interesse schenkten, den Gestalten, die ungleicher noch als eine Ameise und ein Bergmassiv waren, und doch war die Berührung ihrer Blicke aus Augen voller Sand und Augen voller Tod ein echtes Aufeinandertreffen, voller ungesagtem Austausch, voller Verzweiflung und Wachsamkeit, nur für diesen einen Moment, und gleich ob sich die Ameise in die Höhen warf, der Berg sich duckte, oder sich beide in der Mitte trafen: es existierte Balance zwischen der Sünderin und der Sünde, der Unglücklichen und dem Unglück, der Sprengerin der uralten, verbotenen Ketten und der nicht mehr gefangenen
Kreatur, alt und älter als die tiefste Erinnerung des verwunschenen Blutes, dass die Vampirin am Unleben erhielt. Profunde Furcht vor dem Halbgott riss ihr Denken wieder in ihren Leib zurück. Alle Fragen nach seinem Namen, nach seiner Kultur, seinen Erfahrungen, seiner Gestalt verdorrten, denn solches Wissen musste den Kindern dieses Zeitalters verboten bleiben. Die Finger fielen von den Lippen Ancanagars, und der Moment endete. Sie spürte sich herabsinken, sah noch sein Abbild sich abwenden.
Der helle Sand verlor an Konsistenz. Der Herr der tiefen Wasser ließ sie im Nebel ihrer zerstobenen Erinnerungen allein mit ihrem schrecklichen Fehler. Der marmorgedeckte Platz war nun leer, der Thron verwaist und die äonenalten Ketten lagen geborsten am Meeresgrund. Die schwebenden Staubpartikel begannen sich ebenfalls zu sammeln, klärten das Wasser in langen Spuren und verloren sich in der Dunkelheit über ihr. Allein, allein, allein. Sie fand nicht einmal mehr die Klarheit, ihre Dummheit zu schelten, hierher zu kommen, der Neugierde an diesem Ort zu folgen, überhaupt hier in dieses bösartige Reich herabgestiegen zu sein - überhaupt je ihren Turm verlassen zu haben, denn was sonst konnte all dieses Unglück bedingt haben, als ihre Müdigkeit von der eigenen Müdigkeit?
Ein Doppelschlag ließ den Boden erbeben. Noch einer, und noch einer. Ein grauenhafter Herzschlag brandete durch das Wasser herab, stark genug, um die Marmorplatten erzittern und springen zu lassen. Wie von einem karminroten Vollmond hinter dünner werdenden Wolken erhellt, tauchte das nasse Firmament in einen blutigen Widerschein. Sie erblickte über sich einen ausladenden Wirbel schwebenden Sandes, der in weiten Spiralarmen ein Herz aus gleißendem Rot umkreiste. Der Herzschlag wurde lauter, schneller, wütender.
Die dritte, gewaltigste Eruption aus Licht warf die Vampirin zum wiederholten Male auf den Boden. Ein Ruf flutete ihren Geist und unbekannte Silben meißelten sich mit scharfen Eisen in den Hohlraum, der einst ihre Seele hielt. Vorfreude, Zorn, Befreiung, Schmach, Erheiterung und Würde folgten in einer schwächeren Nachwehe, dann setzte sich der blutende Stern in Bewegung, riss den Sand seiner Statuen und ihrer Erinnerungen mit sich und gewann so schnell an Geschwindigkeit, dass sie kaum mit den Augen folgen konnte. Erleichterung und Unverständnis folgten, als das Ding nicht in die Himmel zur Oberfläche fuhr, sondern in einem weiten Bogen weiter in die Tiefe tauchte, weit und weiter, und das Licht verlor erst nach Meilen und Meilen seine durchdringende Schärfe, bevor es unter den Horizont der abyssalen Ebene versank, und wer konnte sagen, was es in den tiefsten und dunkelsten Abgründen der Welt suchte. Ancanagars Gedanken bluteten, und der schreckliche Ruf, der ihre Natur mit Silben verwundet hatte, verlor nach und nach an Intensität. Doch das Bild einer Inschrift auf nacktem, glattem Stein hatte sich tief in ihr Wesen geschrieben.

Es war wieder still geworden. Die Dunkelheit außerhalb ihres beschworenen Lichtscheins erstreckte sich in alle Richtungen. Gebrochener Marmor stach in ihre Füße und die Kälte und der unvorstellbare Druck umhüllte sie wie ein Gewand aus Blei. Die Stille war absolut, vollkommen, abseits des Irdischen, und auf einmal verstand sie, weshalb es so unnatürlich klang: All ihre Erfahrungen unter Wasser waren zu Lebzeiten entstanden, und immer hörte sie das Rauschen ihres eiligen Blutes und das Pochen ihres aufgeregten Herzens. Niemand, der auf der belebten Seite des Todes stand, konnte wahre Stille vernehmen. Was für ein Privileg.
Es dauerte lange, bis sie sich wieder in Bewegung setzte, und mit einer schweren Hand über der schweigenden Brust verließ Ancanagar diesen Ort. Die zerbrochenen Säulen mit den geborstenen Ketten lagen da, als wären bereits Jahrhunderte vergangen. Sie trat aus dem zerschmetterten Bannkreis, und das Gefühl des sandigen Meeresbodens unter ihr hatte seine Unschuld verloren. Noch einmal sah sie zurück, dorthin, wo die Erinnerung an ihre Geliebte auf sie gewartet hatte, wo sie unter ihrer Klinge fiel, starb und erschlagen wurde. Dorthin, wo die Abbilder zweier Magier sie auslöschten, und beinahe jede Erinnerung an ihre Existenz aus der Realität gebrannt hatten. Die Fremdheit der Erfahrung begann bereits an den Rändern zu verschwimmen. Die Gabe der falschen Anyera, der unbekannte Mann, der das Herz ihrer Statue brach, die Schönheit des Herrn der tiefen See, den sie wider die Welt entlassen hatte - all dies erschien ihr wie ein Traum, aus dem sie gerade erwachte. Wie oft hätte sie zu Lebzeiten hier den Tod gefunden? Wäre sie überhaupt beachtet worden? Durfte sie endlich wahre Dankbarkeit für ihre düstere Natur empfinden, die ihr erlaubte, solche wundersamen Dinge zu erleben?
Die Erinnerung an Kyrii‘linth jedoch blieb bitter. Sie vermisste die Elfe so sehr. Und es störte sie nicht einmal sonderlich, dass sich die Bilder ihrer wahren Begegnungen mit der sandigen Erscheinung der belebten Statue vermischten. Ihr Schwertkampf, der Kontrast ihrer Unfähigkeit und wahrer Meisterschaft, das wahnwitzige Schreien ihres Leibes, die Begegnung zu überstehen, das Gefühl eines sandigen Mundes unter ihren bleichen Fingern, die brodelnde Begierde, und dagegen jetzt das Alleinsein, dass sie noch harscher einhüllte. Ihre Geliebte war geraubt worden. Ein alter, halb vergessener Racheschwur kam ihr in den Sinn, und nur das Wasser hörte die stille Erneuerung. Wehe allen dunklen Elfen. Und dabei ein Hauch von Vorfreude, denn vielleicht würde ihr eine der Elenden einen ähnlich intensiven Kampf, so wie die Inkarnation der Priesterin, liefern können.
Sie erreichte den Ort, an dem sie sich entschieden hatte, ihrer Neugierde nach der ersten Lichteruption nachzugehen. Für einen langen Augenblick wollte sie nach Hause zurückkehren, sich mit einem Schlaflied ihrer Sterne zurück in ihr Bett im alten Grabesturm wirken, doch dann wandte sie sich der ursprünglichen Richtung hin. Sie fühlte sich stark genug, noch eine Weile weiterzuwandern. Was auch immer ihr das Abbild Anyeras gegeben hatte - sie fühlte sich mutig und erholt.
Die Vampirin hatte etwas Unnennbares befreit, hatte dem
Ding in die Augen gesehen und war nicht vergangen. Die Schmerzen und der Schrecken begannen sich in einen schüchternen Triumph zu wandeln. Sie hatte überlebt. Und auch wenn es wie ein Zwang erschienen war - hätte sie nicht der Neugierde willen allein die letzte Kette gesprengt? War es also nicht sie selbst, ihr eigener Wille, der ihr Überleben gesichert hatte, und alle Konsequenzen seien verdammt? Was dieses gleißende Wort wohl bedeutete, das ihr der Herr der tiefen See überließ, als er wohin auch immer schwamm?
Ancanagar begann wieder auf ihrem ursprünglichen Pfad hin zum Meteor zu wandern. Sie hatte ihre leibliche Mutter erblickt. Was sie wohl denken würde, über das Leben und Unleben ihrer Tochter?
Doch sie fühlte sich gut. Was konnte ihr schon passieren? Sie mochte vielleicht die Magie dieses Wesens und der beschworenen Statuen nicht nachvollziehen können, aber war sie nicht mit wahrer Unsterblichkeit gesegnet?
Der Leichnam ihres gefallenen Sterns wartete auf sie.