von Negon Ataran » 06 Jul 2025, 17:43
Die dritte Woche der Arbeiten hatte begonnen. Der Schacht war mittlerweile über 150 Meter tief ins Erdreich gegraben, die Luft schwer, feucht und angereichert mit dem staubigen Geruch aufgewühlter Jahrhunderte. Die Männer arbeiteten schweigend, in routinierten Ablösungen, die Runen an den Balken glimmten gedämpft wie schlafende Augen in der Dunkelheit.
Doch mit der Tiefe kamen neue Probleme. Feine Risse im Deckgewölbe, unvermutete Taschen aus mürbem Gestein, ein leises Tropfen, das niemand erklären konnte. Ulaf, der Zwerg, runzelte die Stirn. Turgon spürte es in den Vibrationen des Bodens unter seinen Stiefeln. Und Shezar, der nie leicht zu beunruhigen war, rief in einer mondlosen Nacht Negon Ataran.
Negon war ein schweigsamer Mann, hager, mit einem Gesicht wie aus grauem Stein gemeißelt. Seine Haare waren von der Farbe bleicher Asche, und seine Augen schimmerten blassblau wie das Eis eines toten Sees. Man sagte, er könne die Sprache der Erde hören und lesen, was die Jahrhunderte darunter verborgen hatten. Wo andere Blind gruben, wusste Negon, wohin sie greifen mussten.
Er erschien ohne Vorankündigung. Am Rand der Stadt, zur Stunde, als selbst die Hunde verstummten. Celdion führte ihn schweigend zum Schacht, reichte ihm eine kleine Öllampe und eine Ledermappe mit den Plänen. Negon nahm sie nicht. Er nickte nur und stieg hinab.
In der Tiefe angekommen, begutachtete er den Tunnel nicht wie die anderen mit Maßstab und Seil. Er legte die bloßen Hände an die feuchten Wände, schloss die Augen und verharrte. Minuten vergingen. Die anderen Arbeiter hielten den Atem an. Selbst das Tropfen schien zu verstummen.
Dann sprach Negon zum ersten Mal.
„Ihr grabt gut“, sagte er mit einer Stimme, die klang wie Kiesel, die in einem alten Brunnen versinken. „Aber ihr grabt blind.“
Er bedeutete Turgon und zwei andere, ihm zu folgen. Einige Schritte weiter, bei einem bereits verstärkten Abschnitt, blieb er stehen, zeigte auf einen schmalen Riss im Deckengewölbe, kaum einen Finger breit. „Hier verläuft ein alter Hohlraum. Noch geschlossen, aber der Druck steigt. Zwei Nächte, vielleicht drei — und es fällt euch auf die Köpfe.“
Ulaf fluchte leise, als er es selbst erkannte. Niemand hatte den feinen Linienbruch gesehen.
„Wie groß?“, fragte Shezar.
Negon kniete nieder, zog ein schmales Messer aus dem Stiefel und schabte etwas Gestein heraus. Er hielt es ans Licht der Runen. „Ein alter Lagerstollen aus der Zeit vor eurer Stadt. Vielleicht 20 Meter lang. Einsturzgefährdet. Wir umgehen ihn.“
„Das kostet Zeit“, brummte Ulaf.
„Das kostet Leben, wenn ihr es nicht tut“, entgegnete Negon.
Sie änderten die Trasse. In derselben Nacht begann Negon, mit farblosem Pulver Markierungen an den Wänden zu setzen, unsichtbar für alle außer ihm. Er spürte den Druck im Gestein, das Zittern der Schichten, das Wispern alter Risse. Drei weitere kritische Stellen entdeckte er in den nächsten Nächten — allesamt unsichtbar für Auge und Werkzeug.
Mehr noch: Er schlug vor, einen natürlichen, vergessenen Hohlraum für die Lagerung des Aushubs zu nutzen. Eine kleine Kammer, dreißig Meter abseits des geplanten Tunnels. Niemand außer ihm hatte sie gefunden. Der Raum war stabil, trocken und weit genug entfernt, um nicht zu kollabieren.
Dank Negons Führung gewannen sie Tage.
Am Ende der Woche standen weitere 40 Meter Tunnel. Sicher, verstärkt, und niemand war zu Schaden gekommen. In der Tiefe erzählten sich die Männer, dass Negon nicht nur die Erde hörte, sondern auch die Schatten der Vergangenheit sehen konnte. Turgon jedenfalls glaubte daran, als Negon ihn eines Nachts mit einem einzigen Blick zurückhielt, Sekunden bevor ein morsch gewordener Träger brach.
Sie sprachen nicht viel miteinander. Ein Nicken reichte. Ein stilles Band unter Männern, die mehr mit der Dunkelheit vertraut waren als mit dem Licht.
In der fünften Nacht verschwand Negon, so lautlos, wie er gekommen war.
Doch an den Stützbalken der letzten Kammer hinterließ er ein Zeichen — drei vertikale Striche, eingeritzt ins Holz. Ein uraltes Erdwächterzeichen. Es bedeutete: Der Weg ist sicher. Für jetzt.
Die Männer verstanden. Und sie gruben weiter
Die dritte Woche der Arbeiten hatte begonnen. Der Schacht war mittlerweile über 150 Meter tief ins Erdreich gegraben, die Luft schwer, feucht und angereichert mit dem staubigen Geruch aufgewühlter Jahrhunderte. Die Männer arbeiteten schweigend, in routinierten Ablösungen, die Runen an den Balken glimmten gedämpft wie schlafende Augen in der Dunkelheit.
Doch mit der Tiefe kamen neue Probleme. Feine Risse im Deckgewölbe, unvermutete Taschen aus mürbem Gestein, ein leises Tropfen, das niemand erklären konnte. Ulaf, der Zwerg, runzelte die Stirn. Turgon spürte es in den Vibrationen des Bodens unter seinen Stiefeln. Und Shezar, der nie leicht zu beunruhigen war, rief in einer mondlosen Nacht Negon Ataran.
Negon war ein schweigsamer Mann, hager, mit einem Gesicht wie aus grauem Stein gemeißelt. Seine Haare waren von der Farbe bleicher Asche, und seine Augen schimmerten blassblau wie das Eis eines toten Sees. Man sagte, er könne die Sprache der Erde hören und lesen, was die Jahrhunderte darunter verborgen hatten. Wo andere Blind gruben, wusste Negon, wohin sie greifen mussten.
Er erschien ohne Vorankündigung. Am Rand der Stadt, zur Stunde, als selbst die Hunde verstummten. Celdion führte ihn schweigend zum Schacht, reichte ihm eine kleine Öllampe und eine Ledermappe mit den Plänen. Negon nahm sie nicht. Er nickte nur und stieg hinab.
In der Tiefe angekommen, begutachtete er den Tunnel nicht wie die anderen mit Maßstab und Seil. Er legte die bloßen Hände an die feuchten Wände, schloss die Augen und verharrte. Minuten vergingen. Die anderen Arbeiter hielten den Atem an. Selbst das Tropfen schien zu verstummen.
Dann sprach Negon zum ersten Mal.
„Ihr grabt gut“, sagte er mit einer Stimme, die klang wie Kiesel, die in einem alten Brunnen versinken. „Aber ihr grabt blind.“
Er bedeutete Turgon und zwei andere, ihm zu folgen. Einige Schritte weiter, bei einem bereits verstärkten Abschnitt, blieb er stehen, zeigte auf einen schmalen Riss im Deckengewölbe, kaum einen Finger breit. „Hier verläuft ein alter Hohlraum. Noch geschlossen, aber der Druck steigt. Zwei Nächte, vielleicht drei — und es fällt euch auf die Köpfe.“
Ulaf fluchte leise, als er es selbst erkannte. Niemand hatte den feinen Linienbruch gesehen.
„Wie groß?“, fragte Shezar.
Negon kniete nieder, zog ein schmales Messer aus dem Stiefel und schabte etwas Gestein heraus. Er hielt es ans Licht der Runen. „Ein alter Lagerstollen aus der Zeit vor eurer Stadt. Vielleicht 20 Meter lang. Einsturzgefährdet. Wir umgehen ihn.“
„Das kostet Zeit“, brummte Ulaf.
„Das kostet Leben, wenn ihr es nicht tut“, entgegnete Negon.
Sie änderten die Trasse. In derselben Nacht begann Negon, mit farblosem Pulver Markierungen an den Wänden zu setzen, unsichtbar für alle außer ihm. Er spürte den Druck im Gestein, das Zittern der Schichten, das Wispern alter Risse. Drei weitere kritische Stellen entdeckte er in den nächsten Nächten — allesamt unsichtbar für Auge und Werkzeug.
Mehr noch: Er schlug vor, einen natürlichen, vergessenen Hohlraum für die Lagerung des Aushubs zu nutzen. Eine kleine Kammer, dreißig Meter abseits des geplanten Tunnels. Niemand außer ihm hatte sie gefunden. Der Raum war stabil, trocken und weit genug entfernt, um nicht zu kollabieren.
Dank Negons Führung gewannen sie Tage.
Am Ende der Woche standen weitere 40 Meter Tunnel. Sicher, verstärkt, und niemand war zu Schaden gekommen. In der Tiefe erzählten sich die Männer, dass Negon nicht nur die Erde hörte, sondern auch die Schatten der Vergangenheit sehen konnte. Turgon jedenfalls glaubte daran, als Negon ihn eines Nachts mit einem einzigen Blick zurückhielt, Sekunden bevor ein morsch gewordener Träger brach.
Sie sprachen nicht viel miteinander. Ein Nicken reichte. Ein stilles Band unter Männern, die mehr mit der Dunkelheit vertraut waren als mit dem Licht.
In der fünften Nacht verschwand Negon, so lautlos, wie er gekommen war.
Doch an den Stützbalken der letzten Kammer hinterließ er ein Zeichen — drei vertikale Striche, eingeritzt ins Holz. Ein uraltes Erdwächterzeichen. Es bedeutete: Der Weg ist sicher. Für jetzt.
Die Männer verstanden. Und sie gruben weiter