Leere Hallen
Zehn Jahre.
Zehn Jahre hatte sie im Dienst der Göttin verbracht – zwischen Blut und Gebet, Schmerz und Vision, Prüfung und Läuterung. Zehn Jahre an der Arach Tinilith, der finsteren Wiege der Yathrinen. Und nun… die Rückkehr. Als das Portal sich öffnete und die schwarzen Tore des Quellar in Sicht kamen, erwartete sie den Klang. Fanfaren. Fackeln. Vielleicht sogar ein feierliches Opfer – angemessen für eine Tochter des Hauses, für eine Yathrin.
Für Xael’vyra Ky’Alur.
Tochter, Blut und Erbin der Ilharess d’lil Qu’ellar Ky’Alur.
Doch stattdessen: Stille.
Nur das Knirschen ihrer eigenen Schritte auf dem dunklen Stein. Keine knienden Silhouetten. Keine Ehrbezeugung. Keine Familie. Nur zwei Schatten, die auf sie warteten – armselige Repräsentanten des Hauses, das sie einst hervorgebracht hatte. Eine niedere Dienerin, kaum mehr als ein besseres Sklavenmädchen, war die Erste, die ihr entgegentrat. Lyr’sa, wurde ihr gesagt. Nervös, überfordert – und unverschämt genug, sie durch das eigene Heim zu führen, als wäre Xael’vyra eine Fremde, ein verlorenes Kind. An ihrer Seite: That’raen. Ein Sargtlin – wenigstens bewaffnet, doch mit dem Ausdruck eines Mannes, der keine Ahnung hatte, wem er gegenüberstand. Zweitklassig, wie so vieles, das ihr heute geboten wurde.Xael’vyra sagte nichts. Nicht sofort. Ihr Blick sprach für sich – kalt, durchdringend, wie die Klinge, die sie unter ihrem Mantel trug.
„So also empfängt man die Tochter der Ilharess.“ Nicht einmal ausgesprochen – nur gedacht. Aber ihr Schweigen war schärfer als jedes Wort.
Der Rundgang war eine Farce. Lyr’sa stammelte Namen, erwähnte Änderungen, als würde Xael’vyra sich dafür interessieren. Die Halle des Gebets sei verlegt worden. Neue Quartiere für die Waffenmeister. Und natürlich… ein Zimmer für sie selbst – nah am Thronsaal, wie es hieß. Ein Hohn. Ein kleiner Flur, ein Raum mit zwei Kammern. Kaum mehr als ein ausgestatteter Kerker. Xael’vyra spürte, wie sich Bitterkeit wie ein schwelender Nebel in ihr sammelte.
Das war ihr Heim.
Ihr Geburtsrecht.
Und man hatte ihr nicht einmal einen Teppich ausgelegt. War das etwa das Urteil ihrer Mutter? Eine Prüfung? Oder war sie schlicht vergessen worden? Eine Erinnerung, die man nicht mehr zurückerwartet hatte?
In ihrer Brust pochte etwas Dunkles. Keine Trauer – nein.
Verachtung. Enttäuschung.
Verletzter Stolz.
Sie war nicht irgendeine Yathrin. Sie war Xael’vyra.
Erzogen im Namen der Göttin. Geformt in Ketten und Licht.
Und sie hatte den Tempel nicht verlassen, um sich wie eine Bittstellerin behandeln zu lassen.
Dieses Haus hatte ihre Rückkehr nicht gewürdigt.
Aber es würde sich bald an sie erinnern.
Arach Tinilith: Die Schule der Göttin
Xael’vyra stand lange still in ihrem neuen Quartier.
Die Stille schnitt tiefer als jede Begrüßung. Und doch… war sie ihr nicht fremd.
Denn sie hatte das Schweigen gelernt – dort, wo nichts vergeben und nichts vergessen wurde.
Arach Tinilith.
Der Name klang wie ein Urteil – und war doch eine Offenbarung.
Rückblickend war der Eintritt in den Tempel weniger ein Einschnitt als eine Bestimmung. Xael’vyra war ihr ganzes Leben darauf vorbereitet worden. Ihre Kindheit war kein Ort der Wärme, keine Geschichte der Nähe. Ihre Mutter – die Ilharess selbst – war keine Mutter im herkömmlichen Sinne. Sie war eine ferne Sonne, zu hell, zu brennend, als dass man ihr nahe kommen durfte. Was ihr an Zuneigung und Aufmerksamkeit vorenthalten wurde, war stets mit materiellem Überfluss kompensiert worden. Geschenke, Artefakte, Bücher, Schmuck – was immer das Herz eines Kindes begehren mochte, wurde ihr gereicht. Doch es waren leere Gaben, blass gegenüber dem Hunger nach Anerkennung. Sie war ein verwöhntes Kind eines Hauses, das nie wirklich eine Familie war. Und so wuchs sie auf – als Thronfolgerin, als Erbin, als geborene Herrscherin. Mit dem Blick einer Königin – und dem Herzen eines leeren Kelches.
Doch im Tempel wartete keine Ehrung.
Keine Privilegien.
Von dem Tag an, an dem sie die Arach Tinilith betrat, wurde sie nicht wie eine Prinzessin behandelt – sondern wie eine Zielscheibe.
Die Oberinnen erwarteten von ihr das Doppelte.
Weil es ihre Mutter so gefordert hatte.
Ihre Mitschülerinnen hassten sie aus Prinzip.
Weil es ihre Mutter so verdient hatte.
Die Taten der Ilharess hallten durch jede Grotte des Tempels – und Xael’vyra war ihr Echo.
Ein Echo, das man brechen wollte.
Sie war allein.
Nicht, weil sie nicht gelernt hätte, sich anzupassen.
Nicht, weil sie unfähig war, zu gefallen.
Sondern weil sie von Grund auf überzeugt war, dass alle anderen ihr unterlegen waren.
Sie waren es.
Und sie trug diesen Glauben wie ein Wappen auf der Stirn.
Freundschaften waren für andere. Für jene, die Gleichgesinnte brauchten. Xael’vyra hatte sich selbst. Sie musste es. Denn im Tempel galt kein Schutz – nur Stärke. Und Stärke bedeutete, niemandem zu vertrauen. Niemandem zu gehorchen außer der Göttin selbst.
Die oberste Priesterin der Arach Tinilith, die Ulathallar, hatte sie besonders im Blick.
Nicht aus Gunst – sondern aus Erwartung.
Xael’vyra wurde zu jedem Ritual befohlen, oft gezwungen, diese selbst zu leiten, zu tragen, durchzustehen.
Der Schmerz war allgegenwärtig.
Der Anspruch: unmenschlich.
Und das Urteil – stets unausgesprochen.
Doch genau das formte sie.
Während andere im Wahnsinn verloren gingen oder an Intrigen zerbrachen, wuchs Xael’vyra.
Nicht in Freundschaft. Nicht in Mitgefühl.
Sondern in Wissen. In Disziplin. In fanatischer Hingabe.
Sie wurde zu einer Waffe Lloths. Und mehr als das – zu einer Verkünderin ihrer Ankunft.
Denn Xael’vyra wusste: Die Zeit der Spinnenkönigin würde kommen.
Lloth würde die Götter stürzen, das Firmament zerreißen, und vom Netz der Sterne herabsteigen, um die Welt unter ihre Klauen zu legen.
Und wenn dieser Tag kam, würde Xael’vyra an ihrer Seite stehen – nicht als Dienerin, sondern als Stimme. Als Instrument. Vielleicht sogar als Mitregentin über alles Irdische.
Die Schule der Göttin hatte sie gebrochen, neu geformt – und zur Hohepriesterin ihres eigenen Glaubens gemacht.
Nicht durch Gnade.
Sondern durch Prüfung.
Und Lloth hatte gesehen, dass sie würdig war.
Das Wiedersehen
Die Stille hallte in ihr nach, als sie sich dem Thronsaal näherte. Lyr’sa und That’raen gingen voran – Diener, Begleiter, Beobachter. Wenngleich sie sich unterwürfig gaben, war da doch stets dieses kaum greifbare Flackern in ihren Stimmen. Ein Hauch von Spott, als kosteten sie es aus, die Yathrin begleiten zu dürfen wie ein bemitleidenswerter Neuzugang. Und doch… es war auch eine gewisse Genugtuung in Xael’vyra, dass man sie nicht allein sandte. Begleitet aufzutreten war ein Zeichen von Rang – auch wenn die Wahl der Begleiter eine Beleidigung war.
Sie war Xael’vyra Ky’Alur.
Tochter, Blut und Erbin der Ilharess d’lil Qu’ellar Ky’Alur.
Und man ließ sie auftreten wie eine Schülerin.
Insgeheim hatte sie gehofft, der Thronsaal würde alles wettmachen. Vielleicht keine Fanfaren – das wäre unangebracht gewesen. Aber ein Empfang. Ein Zeichen. Etwas, das ihre Rückkehr würdigte.
Stattdessen: Leere.
Nur der Klang ihrer Schritte auf schwarzem Stein.
Und auf dem Thron: eine Statue aus Fleisch. Jhea’kryna Ky’Alur. Ihre Mutter.
Die Ilharess saß reglos. Die Arme auf den Lehnen, das Bein übergeschlagen – nicht in Ruhe, sondern in kalter Dominanz. Die Schlangenpeitsche auf dem Schoß. Die fünf Köpfe zischten leise, als spürten sie ihre Tochter vor dem Thron.
Xael’vyra blieb stehen. Starr. Stolz.
Ilhar... Mutter... ich bin wieder da, sagte sie mit fester Stimme.
Ein Nicken. Kaum mehr.
„Du bist zurückgekehrt, wie es mir von der Ulathallar angekündigt wurde.“
Keine Freude. Kein Stolz. Nur Erwartung.
„Bist du bereit und fähig, deine Pflichten deinem Qu’ellar gegenüber aufzunehmen?“
Xael’vyra hob das Kinn. „Ja...“
Ein Hauch von Selbstzufriedenheit begleitete ihre Worte.
„Die Ausbildung war... interessant. Und lehrreich.“
Ein kaum merkliches Nicken.
„Ist dem so? Dann wirst du mir davon berichten müssen, was unsere Ulathallar dir erzählt hat.“
Die Ilharess erhob sich. Nicht gemessen – sondern fließend, präzise. Ein Schatten wurde zur Bewegung. Xael’vyra hielt den Blick, auch wenn sie innerlich bereits die Kälte spürte, die sich wie Dornen um ihr Herz legte.
Dann begann das Spiel.
Jhea’kryna trat herab, umrundete sie wie ein Raubtier seine Beute. Streifte mit Fingern über Säume, über Stoff. Der Blick analytisch, vernichtend.
„Du bist... schlampig.“
Ein einziges Wort – und Xael’vyras Welt bebte.
„Dein Kragen... er sitzt wie auswendig gelernt, nicht mit Stolz getragen.
Ein Faden am Ärmel – fehlende Achtsamkeit.
Das Wappen... du trägst es zwar. Aber ich kenne die Fadenführung. Du hast es machen lassen. Wie... nachlässig.“
Xael’vyra presste die Lippen zusammen. Ihre Haltung blieb aufrecht, das Kinn hoch. Doch mit jedem Satz sackte sie – kaum sichtbar – ein wenig mehr in sich zusammen. Der Dolch kam am Ende:
„Selbst Lyr’sa ist achtsamer als das.“
Ein Schnitt unter der Haut.
Die Ilharess beendete ihre Prüfung mit einer wegwerfenden Geste.
„Du darfst dein Zimmer beziehen.“
Xael’vyra setzte an, etwas zu sagen – ein Rest von Aufbegehren. Doch der Blick ihrer Mutter traf sie wie eine Peitsche. Sie senkte die Augen. Schweigend.
„Bwael, Ilhar...“
„Malla Ilharess.“
Der Thron nahm sie zurück, als wäre sie nie aufgestanden.
Xael’vyra wandte sich um, der Blick schweifte zu Tath’raen.
„Führt mich zu meinem Zimmer“, sagte sie mit eisiger Stimme.
Der Sargtlin nickte. „Hier.“
Zorn brannte in ihrem Blick, als sie ihm folgte.
Sie konnte kaum fassen, wie sehr man sie gedemütigt hatte.
In ihrem Quartier angekommen, ging sie auf und ab wie eine Raubkatze in einem zu kleinen Käfig. Ihr Spiegelbild musterte sie. Jedes Detail. Jeder Faden. Jeder Fehler.
Sie würde lernen. Korrigieren. Optimieren.
Und dann...
Dann würde sich keiner mehr erlauben, ihr so zu begegnen. Nicht einmal ihre Mutter.
Was die Zukunft bringen wird
Die Tür fiel mit einem leisen, metallischen Klicken ins Schloss.
Xael’vyra stand einen Moment lang wie versteinert. Dann drehte sie sich langsam um – nicht aus Ruhe, sondern aus angespannter Kontrolle. Ihre Schritte waren leise, aber hart. Zielgerichtet. Nur die Luft im Raum zitterte noch – schwer von unausgesprochener Wut.
Der Tag war vorbei. Der Empfang war erfolgt.
Und er war eine Demütigung gewesen.
Xael’vyra ließ sich auf den steinernen Sitz ihres Quartiers sinken. Die Finger verkrampft ineinandergelegt, die Kiefer angespannt. Der Blick starrte ins Nichts. Innerlich tobte ein Sturm.
Sie war die Tochter der Ilharess. Eine Yathrin.
Und man hatte sie behandelt wie eine bloße Schülerin. Wie ein Werkzeug, das man abstellte, bis es gebraucht wurde.
Sie wusste, was sie fühlen sollte: Trauer. Erschütterung.
Doch diese Phase hatte sie vor Jahren überwunden.
Illusionen…
Illusionen über Nähe, über Mutterliebe, über Anerkennung hatte sie tief in den steinernen Hallen der Arach Tinilith beerdigt – neben allem, was einmal weich, kindlich, menschlich gewesen war.
Was blieb, war Zorn. Und Ratlosigkeit. Eine gefährliche Mischung.
Sie lehnte sich zurück. Die Gedanken wollten nicht schweigen.
Die Ruhe, die sie nach ihrer Rückkehr erwartet hatte, war eine Lüge gewesen.
Als sie noch im Tempel war – unter ständigem Misstrauen, inmitten von Intrigen, Folter und Prüfungen – hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, endlich „nach Hause“ zu kommen.
Ein Platz. Ein Rang. Eine Rolle.
Und nun…
Nichts davon war wahr.
Was sie heute erlebt hatte, war schlimmer als jede Prüfung der Ulathallar.
Denn es war kein Ritual.
Keine Lektion.
Es war Realität.
Xael’vyra drehte sich auf die Seite, die Stirn in die kalte Decke gedrückt. Schlaf fand sie nicht. Der Zorn war zu frisch. Das Denken zu laut.
Sie wusste, dass sie sich gut überlegen musste, wie sie nun agieren würde.
Jede Reaktion würde beobachtet werden.
Jedes Wort, jede Geste konnte und würde gegen sie verwendet werden.
Und vor allem:
Wie sollte sie mit ihrer Mutter umgehen?
Jhea’kryna war keine Matrone, die sich mit Stärke beeindrucken ließ. Sie hatte Xael’vyra durch andere Augen gesehen – durch die Augen der Politik. Und das bedeutete: Xael’vyra war nicht Tochter. Sie war Spielstein. Rivalin. Schachfigur.
Ein kalter Gedanke kroch in ihren Geist:
Vielleicht hatte das Taktieren nie aufgehört.
Vielleicht war der Tempel nur die Vorbereitung gewesen.
Vielleicht…
war das hier erst der Anfang.
Xael’vyra schlug die Augen auf. Starrte an die Decke.
Wenn es so war – dann würde sie vorbereitet sein.
Dann würde sie nicht mehr nur Tochter sein.
Nicht mehr nur Yathrin.
Sondern das, was man aus ihr gemacht hatte:
Ein Werkzeug Lloths. Und vielleicht eines Tages – ihre Stimme.
Die Rückkehr zur Mutter
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Einfach wach bleiben, hat sie gesagt - Was soll schon passieren?
Lyr’sas Hände zitterten noch immer, als hätte sich der Schmutz des Kettenhemds in die Knochen selbst gefressen, nicht nur unter ihre Nägel oder in die feinen Linien der Fingerkuppen, die sich vom stundenlangen Schrubben wund gerieben hatten, sondern tiefer – in jene Stellen der Seele, wo der Stolz wohnt und die Demütigung ihre Spuren wie Säure zieht.
Es war ein schimmerndes Hemd aus dunklem Metall gewesen, geschmiedet nach Art des Hauses, mit eingeätzten Zeichen und filigranen Gliedern, schwer und würdevoll, und für einen Moment – einen törichten, hoffnungsvollen, geradezu kindlich dummen Moment – hatte Lyr’sa geglaubt, dass es eine Ehre sei, es überreicht zu bekommen, es reinigen zu dürfen, es zu berühren.
Doch Xael’vyra hatte nicht darum gebeten. Sie hatte befohlen. Nicht mit Worten, die laut hallten, sondern mit diesem gefährlichen Glanz in den Augen, mit dem süffisanten Lächeln, das mehr spottete als sprach, mit der Art, wie sie die Fingerspitze über den Saum ihres Umhangs gleiten ließ, als wäre die Welt ein Spielzeug, das sich von selbst ordnen müsste.
Und als Lyr’sa das Kettenhemd vorsichtig auf dem samtbedeckten Tisch ausgebreitet hatte, mit dem Ausdruck ehrlicher, fast kindlicher Konzentration, der sie so oft verriet, hatte Xael’vyra sie nur gemustert, einen Schritt näher getreten, und dann – ohne ein Wort – mit dem Absatz ihres Schuhs auf das Metall getreten, wieder und wieder, gedreht, gepresst, verdreht, bis eine Spur geblieben war, wie von Fett oder altem Öl, eine Unregelmäßigkeit, die sich nicht einfach mit Wasser und Seife vertreiben ließ.
„Das ist unsauber“, hatte die Yathrin gesagt, beinahe beiläufig, und sich abgewandt, als sei das Gespräch beendet, die Schuldfrage geklärt, die Strafe durch bloße Feststellung ausgesprochen. „Mach es nochmal. Besser diesmal!“, war ihr letzter Satz gewesen, über die Schulter geworfen, gleichgültig wie ein Splitter Glas, den man in der Dunkelheit fallen ließ, in der Hoffnung, dass jemand barfuß hineintreten würde.
Lyr’sa hatte nichts erwidert, hatte nur geschluckt, den Kopf gesenkt, und das Kettenhemd erneut genommen, als hinge ihr Leben davon ab – vielleicht tat es das auch, denn unter den Augen von Xael’vyra bedeutete jeder Fehler, jede zögernde Bewegung, jede Regung im Gesicht eine Schwäche, die man nicht sich selbst eingestand, sondern anderen schenkte, um sie gegen sich selbst zu verwenden.
Später, als sie das Hemd zurückgebracht hatte, sauberer als es je gewesen war – mit durchgescheuerten Knöcheln, rissigen Nägeln und der salzigen Erinnerung an zehn verschiedene Mittel, die alle nicht genügt hatten – hatte Xael’vyra es entgegengenommen wie ein müder Gott eine Opfergabe.
„Hilf mir morgen früh beim Ankleiden“, hatte sie gesagt, beiläufig wieder, mit dem Klang eines Schwerts, das man unabsichtlich auf Stein zieht.
Und Lyr’sa hatte genickt, ohne nach der Uhrzeit zu fragen. Sie hatte es vergessen.
Oder war zu eingeschüchtert gewesen, um zu fragen.
Oder zu erschöpft, zu gedemütigt, zu leer.
Vielleicht alles zugleich.
Der Weg zurück aus der Schmiede war verschwommen, eine Aneinanderreihung aus dunklen Korridoren, schrägen Stufen und dem stumpfen Klirren der Werkzeuge in ihrem Gürtel, das bei jedem Schritt wie ein Vorwurf nachhallte – du bist zu langsam, du bist zu schwach, du bist immer noch nicht gut genug.
Ihr Magen war leer, der Hals trocken, die Haut vom Dampf der Reinigungsmittel gerötet, und die Finger schmerzten bei jedem Heben des Arms – und dennoch war sie, aus irgendeinem Reflex heraus, nicht direkt ins Qu’ellar zurückgekehrt, sondern hatte sich wie ein gehetzter Schatten zur Oberfläche gewandt, dorthin, wo das Licht aus den Fenstern von Baretis Taverne wie tröstende Magie zwischen den Steinen hing.
Drinnen war es warm, zu warm, fast zu behaglich, und Liraels Stimme schnitt wie ein beruhigendes Messer durch das Gemurmel, während Bareti mit einem Lappen Krüge trocknete, ohne auch nur hinzusehen.
„Du siehst aus, als hätte man dich durch einen Schleimsee gezogen“, hatte Bareti gesagt, halb scherzhaft, halb sorgenvoll, und Lyr’sa hatte geantwortet, wie sie oft antwortete, wenn sie sich ertappt fühlte: mit einem Nuscheln, einem Fluch, einem Ausweichen.
„Oh nau... ich... ich darf nicht schlafen“, hatte sie irgendwann gestanden, den Kopf an den kühlen Holzrahmen des Fensters gelehnt, während ihre Lider bereits wie Blei an den Wimpern zogen, jeder Gedanke eine Anstrengung wurde, jeder Satz eine Prüfung. „Wenn ich verschlafe, bringt sie mich um. Also... also wirklich. Also vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht... nur fast. Oder sie lässt mich irgendwo hängen. Mit dem Kopf nach unten. Über Pilzen. Nacktschnecken. Blutegel.“
Lirael hatte die Stirn gerunzelt, Bareti ihr wortlos einen Becher mit kaltem Wasser gereicht – den sie sich über das Gesicht kippte, mit einem erschreckten Japsen und einem zittrigen Lachen, das mehr Verzweiflung war als Humor.
„Wenn ich jetzt heimgeh... bin ich zu früh“, murmelte sie, halb zu Lirael, halb zu sich selbst, „aber wenn ich zu spät bin... dann... dann bin ich... nicht mehr. Dann war ich. Dann gibt's mich nur noch in Stücken. An der Wand. Oder im Tempel.“
Niemand lachte. Und das war das Schlimmste. Bareti reichte ihr eine dampfende Tasse, aus der der frische, belebende Duft von Zitronenschale und Ingwer aufstieg – scharf, hell und ein wenig kratzig in der Nase. Zwischen den goldgelben Schlieren schwammen feine Stücke getrockneter Wurzel, ein Hauch Minze rundete das Aroma ab. Der Tee roch, als könne er Müdigkeit vertreiben – oder zumindest kurz vergessen machen.
„Ich... ich geh. Ich geh jetzt“, sagte sie irgendwann, als sie das Gefühl hatte, dass die Müdigkeit sich wie feine Ranken um ihre Knie legte, schwer und süß.
Sie schwankte leicht beim Aufstehen, schüttelte sich, schüttelte die Gedanken ab, schüttelte die Angst nicht ab.
„Wenn sie fragt, sagt ihr, ich war... standhaft“, flüsterte sie, halb grinsend, halb aufrichtig flehend, und verließ die Taverne in der Hoffnung, dass allein der Wille stark genug wäre, um den Körper wach zu halten.
Die Hallen des Qu’ellar lagen still wie ein Grab, die Schatten zogen sich an den Wänden entlang wie flüchtige Gespenster, und die Luft roch nach altem Weihrauch, kaltem Stein und dem leisen, unsichtbaren Druck von Jahrhunderten. Lyr’sa erreichte die Tür zur Kammer der Priesterin mit tauben Füßen, der Boden unter ihr fühlte sich an wie Wasser, oder wie dicker Nebel, oder wie nichts – und sie sank an die Wand, die Knie angezogen, die Stirn auf die Rüstung gestützt, die sie sich nicht auszuziehen wagte.
Tath’raen war da, wie ein Schatten, der sich nie bewegte, nur die Augen vielleicht, ein flüchtiges Glühen, das ihr sagte, dass er sie gesehen hatte, aber nicht bewertete, nicht richtete, nicht mitleidig wurde – und das allein war schon Trost genug. Sie versuchte, sich wach zu halten, indem sie zählte – zuerst rückwärts, dann vorwärts, dann in Sprachen, die sie kaum verstand –, dann sprach sie mit sich selbst, murmelte verworrene Gedanken, brabbelte halbe Listen von Werkzeugen, von Metallen, von den Göttern, die sie hasste und fürchtete.
„Nur kurz die Augen... nur blinzeln“, sagte sie irgendwann, nicht laut, aber deutlich genug, dass Tath’raen vielleicht hätte reagieren können – doch er blieb still, und das war schlimmer als alles andere.
Die Halle war still, so still, dass selbst ihr Atem ihr plötzlich laut erschien, wie ein störendes Geräusch in einer Welt, die längst zur Ruhe gekommen war. Sie versuchte, ihn zu dämpfen, ihn zu verlangsamen, als könne sie dadurch wacher wirken, stärker, bereit – doch ihr Brustkorb hob und senkte sich wie von selbst, schwerer mit jedem Zug, träger mit jedem Herzschlag, bis selbst das Atmen wie ein Wiegenlied wirkte.
Die Geräusche in der Ferne – ein Tropfen, ein leiser Schritt, das Wispern der anderen in Tunneln und Gängen – begannen sich zu verändern. Nicht lauter, nicht deutlicher – aber bedeutungsloser. Sie hörte sie noch, aber sie prallten ab wie Regentropfen auf Metall. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zerfloss, kaum merklich, und irgendetwas in ihr ließ los – nicht aus Willen, sondern aus Erschöpfung. Nur ein Wimpernschlag… nur einer. Und dann fiel alles.
Dann glitt sie an der Wand hinab, für den Beobachter lautlos, fast würdevoll, ohne Hast, ohne Kampf – als hätte der Schlaf sich leise hinter sie geschlichen und ihr das letzte Stück Willen geraubt. Ihre Wange berührte das schmückende Banner des Qu'ellar Ky'Alur mit einer Zärtlichkeit, die ihr selbst fremd gewesen wäre, und ihre Arme sanken an die Seite, entwaffnet, leer. In der Dunkelheit des Qu’ellar lag sie nun da, klein zwischen Stein und Schatten – und schlief. Nicht friedlich. Nur völlig erschöpft.

Es war ein schimmerndes Hemd aus dunklem Metall gewesen, geschmiedet nach Art des Hauses, mit eingeätzten Zeichen und filigranen Gliedern, schwer und würdevoll, und für einen Moment – einen törichten, hoffnungsvollen, geradezu kindlich dummen Moment – hatte Lyr’sa geglaubt, dass es eine Ehre sei, es überreicht zu bekommen, es reinigen zu dürfen, es zu berühren.
Doch Xael’vyra hatte nicht darum gebeten. Sie hatte befohlen. Nicht mit Worten, die laut hallten, sondern mit diesem gefährlichen Glanz in den Augen, mit dem süffisanten Lächeln, das mehr spottete als sprach, mit der Art, wie sie die Fingerspitze über den Saum ihres Umhangs gleiten ließ, als wäre die Welt ein Spielzeug, das sich von selbst ordnen müsste.
Und als Lyr’sa das Kettenhemd vorsichtig auf dem samtbedeckten Tisch ausgebreitet hatte, mit dem Ausdruck ehrlicher, fast kindlicher Konzentration, der sie so oft verriet, hatte Xael’vyra sie nur gemustert, einen Schritt näher getreten, und dann – ohne ein Wort – mit dem Absatz ihres Schuhs auf das Metall getreten, wieder und wieder, gedreht, gepresst, verdreht, bis eine Spur geblieben war, wie von Fett oder altem Öl, eine Unregelmäßigkeit, die sich nicht einfach mit Wasser und Seife vertreiben ließ.
„Das ist unsauber“, hatte die Yathrin gesagt, beinahe beiläufig, und sich abgewandt, als sei das Gespräch beendet, die Schuldfrage geklärt, die Strafe durch bloße Feststellung ausgesprochen. „Mach es nochmal. Besser diesmal!“, war ihr letzter Satz gewesen, über die Schulter geworfen, gleichgültig wie ein Splitter Glas, den man in der Dunkelheit fallen ließ, in der Hoffnung, dass jemand barfuß hineintreten würde.
Lyr’sa hatte nichts erwidert, hatte nur geschluckt, den Kopf gesenkt, und das Kettenhemd erneut genommen, als hinge ihr Leben davon ab – vielleicht tat es das auch, denn unter den Augen von Xael’vyra bedeutete jeder Fehler, jede zögernde Bewegung, jede Regung im Gesicht eine Schwäche, die man nicht sich selbst eingestand, sondern anderen schenkte, um sie gegen sich selbst zu verwenden.
Später, als sie das Hemd zurückgebracht hatte, sauberer als es je gewesen war – mit durchgescheuerten Knöcheln, rissigen Nägeln und der salzigen Erinnerung an zehn verschiedene Mittel, die alle nicht genügt hatten – hatte Xael’vyra es entgegengenommen wie ein müder Gott eine Opfergabe.
„Hilf mir morgen früh beim Ankleiden“, hatte sie gesagt, beiläufig wieder, mit dem Klang eines Schwerts, das man unabsichtlich auf Stein zieht.
Und Lyr’sa hatte genickt, ohne nach der Uhrzeit zu fragen. Sie hatte es vergessen.
Oder war zu eingeschüchtert gewesen, um zu fragen.
Oder zu erschöpft, zu gedemütigt, zu leer.
Vielleicht alles zugleich.
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Der Weg zurück aus der Schmiede war verschwommen, eine Aneinanderreihung aus dunklen Korridoren, schrägen Stufen und dem stumpfen Klirren der Werkzeuge in ihrem Gürtel, das bei jedem Schritt wie ein Vorwurf nachhallte – du bist zu langsam, du bist zu schwach, du bist immer noch nicht gut genug.
Ihr Magen war leer, der Hals trocken, die Haut vom Dampf der Reinigungsmittel gerötet, und die Finger schmerzten bei jedem Heben des Arms – und dennoch war sie, aus irgendeinem Reflex heraus, nicht direkt ins Qu’ellar zurückgekehrt, sondern hatte sich wie ein gehetzter Schatten zur Oberfläche gewandt, dorthin, wo das Licht aus den Fenstern von Baretis Taverne wie tröstende Magie zwischen den Steinen hing.
Drinnen war es warm, zu warm, fast zu behaglich, und Liraels Stimme schnitt wie ein beruhigendes Messer durch das Gemurmel, während Bareti mit einem Lappen Krüge trocknete, ohne auch nur hinzusehen.
„Du siehst aus, als hätte man dich durch einen Schleimsee gezogen“, hatte Bareti gesagt, halb scherzhaft, halb sorgenvoll, und Lyr’sa hatte geantwortet, wie sie oft antwortete, wenn sie sich ertappt fühlte: mit einem Nuscheln, einem Fluch, einem Ausweichen.
„Oh nau... ich... ich darf nicht schlafen“, hatte sie irgendwann gestanden, den Kopf an den kühlen Holzrahmen des Fensters gelehnt, während ihre Lider bereits wie Blei an den Wimpern zogen, jeder Gedanke eine Anstrengung wurde, jeder Satz eine Prüfung. „Wenn ich verschlafe, bringt sie mich um. Also... also wirklich. Also vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht... nur fast. Oder sie lässt mich irgendwo hängen. Mit dem Kopf nach unten. Über Pilzen. Nacktschnecken. Blutegel.“
Lirael hatte die Stirn gerunzelt, Bareti ihr wortlos einen Becher mit kaltem Wasser gereicht – den sie sich über das Gesicht kippte, mit einem erschreckten Japsen und einem zittrigen Lachen, das mehr Verzweiflung war als Humor.
„Wenn ich jetzt heimgeh... bin ich zu früh“, murmelte sie, halb zu Lirael, halb zu sich selbst, „aber wenn ich zu spät bin... dann... dann bin ich... nicht mehr. Dann war ich. Dann gibt's mich nur noch in Stücken. An der Wand. Oder im Tempel.“
Niemand lachte. Und das war das Schlimmste. Bareti reichte ihr eine dampfende Tasse, aus der der frische, belebende Duft von Zitronenschale und Ingwer aufstieg – scharf, hell und ein wenig kratzig in der Nase. Zwischen den goldgelben Schlieren schwammen feine Stücke getrockneter Wurzel, ein Hauch Minze rundete das Aroma ab. Der Tee roch, als könne er Müdigkeit vertreiben – oder zumindest kurz vergessen machen.
„Ich... ich geh. Ich geh jetzt“, sagte sie irgendwann, als sie das Gefühl hatte, dass die Müdigkeit sich wie feine Ranken um ihre Knie legte, schwer und süß.
Sie schwankte leicht beim Aufstehen, schüttelte sich, schüttelte die Gedanken ab, schüttelte die Angst nicht ab.
„Wenn sie fragt, sagt ihr, ich war... standhaft“, flüsterte sie, halb grinsend, halb aufrichtig flehend, und verließ die Taverne in der Hoffnung, dass allein der Wille stark genug wäre, um den Körper wach zu halten.
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Die Hallen des Qu’ellar lagen still wie ein Grab, die Schatten zogen sich an den Wänden entlang wie flüchtige Gespenster, und die Luft roch nach altem Weihrauch, kaltem Stein und dem leisen, unsichtbaren Druck von Jahrhunderten. Lyr’sa erreichte die Tür zur Kammer der Priesterin mit tauben Füßen, der Boden unter ihr fühlte sich an wie Wasser, oder wie dicker Nebel, oder wie nichts – und sie sank an die Wand, die Knie angezogen, die Stirn auf die Rüstung gestützt, die sie sich nicht auszuziehen wagte.
Tath’raen war da, wie ein Schatten, der sich nie bewegte, nur die Augen vielleicht, ein flüchtiges Glühen, das ihr sagte, dass er sie gesehen hatte, aber nicht bewertete, nicht richtete, nicht mitleidig wurde – und das allein war schon Trost genug. Sie versuchte, sich wach zu halten, indem sie zählte – zuerst rückwärts, dann vorwärts, dann in Sprachen, die sie kaum verstand –, dann sprach sie mit sich selbst, murmelte verworrene Gedanken, brabbelte halbe Listen von Werkzeugen, von Metallen, von den Göttern, die sie hasste und fürchtete.
„Nur kurz die Augen... nur blinzeln“, sagte sie irgendwann, nicht laut, aber deutlich genug, dass Tath’raen vielleicht hätte reagieren können – doch er blieb still, und das war schlimmer als alles andere.
Die Halle war still, so still, dass selbst ihr Atem ihr plötzlich laut erschien, wie ein störendes Geräusch in einer Welt, die längst zur Ruhe gekommen war. Sie versuchte, ihn zu dämpfen, ihn zu verlangsamen, als könne sie dadurch wacher wirken, stärker, bereit – doch ihr Brustkorb hob und senkte sich wie von selbst, schwerer mit jedem Zug, träger mit jedem Herzschlag, bis selbst das Atmen wie ein Wiegenlied wirkte.
Die Geräusche in der Ferne – ein Tropfen, ein leiser Schritt, das Wispern der anderen in Tunneln und Gängen – begannen sich zu verändern. Nicht lauter, nicht deutlicher – aber bedeutungsloser. Sie hörte sie noch, aber sie prallten ab wie Regentropfen auf Metall. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zerfloss, kaum merklich, und irgendetwas in ihr ließ los – nicht aus Willen, sondern aus Erschöpfung. Nur ein Wimpernschlag… nur einer. Und dann fiel alles.
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Für den Beobachter war es zunächst kaum mehr als eine feine Verschiebung im Gleichgewicht – ein leichtes Neigen des Kopfes, ein kaum merkliches Absinken der Schultern, wie bei jemandem, der einen Gedanken zu schwer trägt. Ihr Rücken verlor die Spannung, die Beine rutschten ein Stück zur Seite, und das Zittern in den Fingern, das sie so lange wach gehalten hatte, verklang langsam wie der letzte Ton eines längst verklungenen Liedes.Dann glitt sie an der Wand hinab, für den Beobachter lautlos, fast würdevoll, ohne Hast, ohne Kampf – als hätte der Schlaf sich leise hinter sie geschlichen und ihr das letzte Stück Willen geraubt. Ihre Wange berührte das schmückende Banner des Qu'ellar Ky'Alur mit einer Zärtlichkeit, die ihr selbst fremd gewesen wäre, und ihre Arme sanken an die Seite, entwaffnet, leer. In der Dunkelheit des Qu’ellar lag sie nun da, klein zwischen Stein und Schatten – und schlief. Nicht friedlich. Nur völlig erschöpft.

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Zwischen Stille und Schatten
Das Erwachen
Der erste Lichtschein – wenn man in den Tiefen des Qu’ellar überhaupt von Licht sprechen konnte – fiel wie flüssiger Rauch durch das hohe Fenster, dessen Glas in blassem Violett gefärbt war und die Formen verzerrte, als würde die Welt draußen nicht aus Stein und Schatten bestehen, sondern aus Erinnerungen, die man zu vergessen versucht hatte. Xael’vyra lag wach, obwohl sie geschlafen hatte – nicht gut, nicht tief, nicht ruhig, aber ausreichend, um zu wissen, dass der gestrige Abend keine Einbildung gewesen war. Der Empfang, die Kälte, die Worte ihrer Mutter – sie waren geblieben, wie ein Geruch, der sich in der Kleidung festsetzt, wie das Echo einer Stimme, die nie wirklich schweigt.
Sie streckte sich nicht, richtete sich nicht auf mit jener eleganten Selbstverständlichkeit, die ihr einst antrainiert worden war, sondern blieb einen Moment lang einfach liegen, beobachtete die Decke mit dem Blick einer Statthalterin, die ein erobertes Gebiet kartierte. Die Kammer war leer, in einem ordentlichen, beinahe künstlichen Zustand, als hätte niemand sie je betreten, und vielleicht war das wahr – vielleicht war es ein Raum, der für sie eingerichtet worden war, nicht weil man sie erwartet hatte, sondern weil man sich verpflichtet fühlte, ihr einen Ort zu geben. Einen Ort, nicht ein Zuhause.
Doch dann war da ein Geräusch – so leise, dass es sich im ersten Moment eher wie ein Gedanke anfühlte. Ein Atmen, flach, zaghaft, fast verlegen. Und als sie den Kopf langsam drehte, sah sie die Gestalt. Lyr’sa. Zusammengesunken an der Wand, mit der Stirn auf die Knie gepresst, die Hände ineinander verkrallt wie ein Tier, das gelernt hatte, im Schlaf auf der Hut zu sein. Xael’vyra blinzelte, richtete sich auf, ließ die Decke lautlos von den Schultern gleiten, während ihre Gedanken sich sortierten wie Karten auf einem Altar – und keine davon passte zu dem Bild, das sich ihr darbot.
„Was“, sagte sie schließlich – leise, aber mit jener schneidenden Präzision, die kein Flüstern war –, „tust du da?“
Es war keine Frage im eigentlichen Sinn, sondern ein Urteil mit einem Fragezeichen. Ihr Blick glitt über die Rüstung, das erschöpfte Gesicht, die Augenringe, die wie gezeichnet wirkten, als hätte jemand mit Ruß und Nägeln ihre Wachheit auf die Haut geschrieben. Und erst als Lyr’sa langsam, tastend, sich wie aus Trance erhob, spürte Xael’vyra, wie fremd ihr der Gedanke war, dass jemand die Nacht außerhalb ihrer Tür verbracht hatte – nicht aus Pflicht, sondern aus Furcht, aus einer seltsamen Mischung aus Schuld und Erwartung.
An das Kettenhemd konnte sie sich nicht erinnern. Es war wie ausgelöscht, ein Schatten im Nebel des Zorns, der sie gestern durchdrungen hatte wie ein Blutritual in Arach Tinilith. Vielleicht hatte sie etwas gesagt, vielleicht auch nicht. Es war unerheblich. Was zählte, war die Tatsache, dass jemand sich gebrochen hatte – nicht unter ihrer Peitsche, sondern unter ihrer bloßen Anwesenheit.
Xael’vyra betrachtete Lyr’sa einen Moment lang schweigend, mit dem Gesicht einer Göttin, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie Mitleid empfinden oder vernichten wollte. Dann erhob sie sich, trat barfuß auf den kalten Boden, ließ den Moment wirken – ein erstes Morgenritual im neuen Leben, das ihr fremder war, als sie sich je eingestanden hätte.
Und draußen, hinter den Mauern, wartete das Qu’ellar – ein Labyrinth aus Erinnerungen, Machtspielen und alten Geschichten, die noch immer durch die Schatten flüsterten. Und Xael’vyra würde sie sich zurückholen. Eine nach der anderen.
Splitter einer Erinnerung
Sie rührte sich nicht. Noch nicht.
Die Dunkelheit war träge geworden, in jenen letzten Atemzügen der Nacht, in denen auch Schatten zu schlafen schienen – und doch war Xael’vyras Blick wach. Klar wie Glas, hart wie geschliffenes Onyx. Sie stand am Rand ihrer eigenen Welt, einen Schritt entfernt von der Linie, die einen Befehl von einer Berührung unterschied, ein Urteil von einem Hauch.
Lyr’sa.
Da saß sie. Immer noch. Wie vergessen. Oder wie etwas, das man achtlos hatte liegen lassen – ein Stück Zeug, eine Hülle, ein Schatten ihrer selbst. Xael’vyra betrachtete sie. Lange. Länger, als sie sich erlaubt hätte, wenn jemand anderes anwesend gewesen wäre. Die Skepsis in ihr war kalt, ein vertrauter Reflex. Doch sie wich – langsam, tastend – einer Art… Verwunderung.
Habe ich das befohlen?
Der Gedanke kam nicht wie ein Schuldbekenntnis, sondern wie ein Splitter, der aus dem Fleisch der Erinnerung brach – klein, scharf, ungewiss.
Sie suchte. In sich. Zwischen den Erniedrigungen des gestrigen Tages und dem dornigen Schleier aus Stolz. Metall… ja. Ein Kettenhemd. Dampf, Reinigungsmittel. Eine Stimme, dünn, müde, fast zitternd.
Aber kein Befehl. Kein klarer Satz. Keine bewusste Geste.
Nur dieser Blick, der alles bedeutete, weil er nichts sagte.
Ein Funken von Unmut blitzte auf – gegen sich selbst, gegen das Ungefähre, gegen die Möglichkeit, dass sie unbedacht gewesen war. Dass sie vielleicht etwas von sich gegeben hatte, das mehr war als sie erinnern wollte. Doch der Gedanke wurde im selben Atemzug erstickt, zertreten wie eine Made. Selbstzweifel waren keine Sünde – sie waren Schwäche. Und Schwäche war unentschuldbar.
Xael’vyra trat näher. Ihre Bewegungen waren fließend, katzenhaft – das leise Gleiten nackter Füße auf kaltem Stein kaum hörbar, eher gespürt als gehört. Der Umhang strich wie flüssiger Schatten über den Boden, eine Verlängerung ihres Willens.
Dann blieb sie stehen, einen halben Schritt entfernt, gerade so, dass ihre Präsenz spürbar wurde wie ein Kältestich im Nacken.
„Was… bei Lloth… tust du da unten?“
Die Stimme war sanft – fast schmeichelnd –, aber kalt wie geweihtes Silber auf offener Haut.
Lyr’sa zuckte. Nicht wie eine Dienerin, die ertappt wurde – sondern wie ein Tier, das in den Schlaf gefallen war, obwohl es wusste, dass es das nicht durfte. Ihre Augen flackerten, der Körper schwankte, suchte Halt, fand nur sich selbst. Xael’vyra sah die Müdigkeit, sah die Schuld, die sich wie ein Abdruck um ihre Schultern gelegt hatte. Kein Wort kam. Nur der Atem, stoßweise, unruhig, schwer.
Und Xael’vyra schwieg.
Nicht aus Milde – sondern weil Worte in diesem Moment zu grob gewesen wären.
Sie musterte Lyr’sa weiter – mit einem Ausdruck, der zwischen Spott und Interesse schwebte. Nicht offen, nicht gezielt. Nur ein feines Spiel aus gehobener Braue und leicht geneigten Lippen. Wie jemand, der einen Riss im Marmor entdeckt und sich fragt, ob er den Stein entwertet – oder veredelt.
Faszination war ein zu großes Wort.
Aber etwas in ihr hielt inne.
Nicht aus Mitleid.
Sondern aus Neugier auf ein Muster, das sie noch nicht verstand.
Die Hallen des Hauses
Der Flur lag vor ihr wie eine vergessene Gebetszeile, in Stein gemeißelt und dennoch fremd geworden – langgezogen, leicht gekrümmt, als hätte man ihm einst die Richtung genommen, aber nicht den Sinn, und während Xael’vyra sich darin bewegte, langsam, lautlos, barfuß auf kaltem Boden, schien es ihr, als würde jeder Schritt nicht sie durch das Qu’ellar führen, sondern das Qu’ellar durch sie – wie ein Ort, der in ihrem Inneren weiterging, dunkler, älter, wahrer als das, was sich mit den Augen fassen ließ.
Die Tür zu ihrer Kammer war hinter ihr ins Schloss gefallen mit jenem leisen, metallischen Laut, der nicht klang wie ein Beginn, sondern wie das leise Verstreichen eines Moments, der sich nicht wiederholen würde – und sie hatte sich nicht umgesehen, nicht zurück zur schlaffen Gestalt Lyr’sas, nicht zu dem schwachen Puls einer Loyalität, die vielleicht keiner war, sondern bloß Angst, oder Gewohnheit, oder ein schiefes Echo von etwas, das sie selbst noch nicht entschieden hatte, zu würdigen oder zu zerstören.
Die Hallen hießen sie nicht willkommen, aber sie stießen sie auch nicht ab – sie waren einfach da, in Stein gegossene Erinnerungen, die zu lange schweigen mussten, und während sie sich zwischen ihnen bewegte, mit erhobenem Haupt und jener stillen, unerschütterlichen Würde, die mehr war als Geste, mehr als Rolle, begann sich eine Frage in ihr zu regen, nicht laut, nicht fordernd, eher wie ein kalter Strom, der unter der Haut entlanglief: War das hier kleiner geworden – oder war sie selbst größer geworden, unpassender, gefährlicher für Räume, die früher ein Zuhause gewesen waren und jetzt wie zu eng gewordene Masken an ihr klebten?
Der erste Diener, der ihr begegnete, war mager, kaum mehr als ein Schatten mit Tablett und schrägem Blick, und als er sie sah – erkannte? erahnte? – verneigte er sich tiefer, als es angemessen war, so tief, dass es fast an Lächerlichkeit grenzte, und Xael’vyra entgegnete mit nichts außer Schweigen, einem Blick, der länger hielt, als nötig gewesen wäre, nur um zu prüfen, ob er das Zittern unterdrückte oder genoss – und auch hier: keine Reaktion, kein Titel, keine Ehrerbietung, nur das leise Wispern ihrer eigenen Gedanken, das sich über sein verbeugtes Rückgrat legte wie ein Urteil: Sie sehen mich, aber sie wissen nicht, wer ich geworden bin. Noch nicht.
Die Gewölbe, durch die sie schritt, waren dieselben wie in ihrer Kindheit, in jenen Jahren, die kein Kindsein erlaubten und doch diesen Namen trugen – dieselben Bögen, dieselben Spinnensymbole, dieselben dunklen Wandteppiche, auf denen Göttinnen Beute verschlangen und Blut in Ornamente verwandelten –, und dennoch wirkte alles… stiller. Nicht in der Lautstärke, sondern in der Art, wie man sie nicht mehr fragte, nicht mehr berührte, nicht mehr prüfte. Es war, als hätte das Haus sie vergessen wollen – oder beschlossen, sie erst dann zu erkennen, wenn sie es sich neu nahm.
Vor einem Bogen blieb sie stehen – das Symbol der Jagd eingraviert, fein, kunstvoll, aber gesprungen, ein Riss durch das Spinnennetz, kaum sichtbar, aber da, und ihre Finger glitten wie von selbst darüber, prüfend, forschend, als könnte man durch Berührung verstehen, was Worte nicht zu sagen wagten: War dieser Sprung neu? Oder war er immer da gewesen – und hatte sie ihn nur nie bemerkt, weil sie zu klein war, zu blind, zu hungrig nach etwas anderem als Wahrheit?
Ein weiterer Schatten bewegte sich, tiefer im Korridor, ein Sargtlin vermutlich, schweigend, mit Haltung, aber ohne Titel auf den Lippen – wieder kein Yathrin, kein Gruß, kein Stopp, nur ein Nicken, wie man es einem Gespenst entgegenbringt, das man nicht rufen, aber auch nicht vertreiben kann. Und in Xael’vyra spannte sich etwas – ein Muskel, ein Wille, ein Netz – und ihre Schritte wurden nicht schneller, aber präziser, bewusster, wie eine Tänzerin auf einem unsichtbaren Faden zwischen Erinnerung und Macht.
Zeige niemals Schwäche.
Nicht in diesen Gängen, nicht vor diesen Blicken, nicht vor dir selbst.
Und doch… es war nicht nur Stolz, der sie trug, nicht nur Zorn oder Ehrgeiz – es war das leise Bewusstsein, dass diese Hallen, so leer sie wirkten, nicht leer waren. Sie waren voller Stimmen, voller Augen, voller wartender Schatten, die noch nicht entschieden hatten, ob sie sie wieder aufnehmen würden – oder ob sie ihr zum Feind werden mussten, um sich selbst zu retten.
Sie erkannte Orte – eine Nische, in der sie einst gelauscht hatte, ein Türbogen, hinter dem ihre Mutter einst einen Gesandten in die Knie gezwungen hatte, ohne ein Wort zu sagen –, und doch wirkten diese Bilder aus der Vergangenheit wie Puppentheater in ihrem Geist: klein, starr, überzeichnet, nicht mehr bedeutungsvoll, sondern wie etwas, das sie lächelnd verbrennen würde, wenn es ihr im Weg stünde.
Und so ging sie weiter, mit dem Wissen, dass sie zurückgekehrt war, nicht um zu bitten, nicht um zu flehen, nicht einmal um zu verstehen – sondern um das Netz, das andere zerschlissen hatten, mit eigenen Händen neu zu weben.
Nicht weil es ihr Recht war.
Sondern weil es ihre Natur war.
Riten der Rückkehr
Der Raum roch nach altem Rauch und flüchtigem Eisen – eine Mischung, die Xael’vyra sofort erkannte, auch wenn sie sich nicht mehr an jedes Detail erinnerte, das hier einst gelegen hatte. Der Schrein lag am Ende eines Seitengangs, halb verborgen hinter einem bogenförmigen Schleier aus dunklem Stoff, dessen Fransen in der unbewegten Luft wirkten, als wären sie versteinert. Niemand hatte sie zurückgezogen. Niemand hatte ihn vorbereitet.
Es war nicht der Haupttempel des Hauses – nicht der große Saal mit den fünf Altaren und den lebenden Spinnen, nicht der Raum für Prozessionen und Opferfeste, nicht der Ort, an dem Peitschen tanzten und Blut gerufen wurde –, nein. Dies hier war älter. Kleiner. Intimer. Ein Gebetsraum für die, die Lloth nicht nur kannten, sondern ihr zuhörten, wenn sie schwieg.
Xael’vyra trat ein, langsam, mit jener kontrollierten Bedachtsamkeit, die bei anderen wie Ehrfurcht gewirkt hätte, bei ihr jedoch eher wie ein stiller Anspruch wirkte – als würde sie die Schwelle nicht betreten, sondern beanspruchen.
Die Wände waren mit Tüchern behängt, bestickt mit Symbolen aus schwarzem Garn auf schwarzem Grund, kaum sichtbar, aber spürbar. Ein Netz über allem, gezogen wie ein Schleier aus Erwartung. Und doch… irgendetwas war anders. Nicht falsch. Aber verschoben. Der kleine Altar, einst aus poliertem Obsidian, trug Spuren. Kratzer. Winzige Flecken von Wachs, das nachlässig entfernt worden war. Die Spinnenfigur, die einst in der Mitte gesessen hatte – eine Göttin aus sieben Gliedern, mit Augen aus rotem Glas – war verrückt worden. Kaum merklich. Aber sie sah nicht mehr genau nach Osten.
Xael’vyra blieb stehen.
Ein Atemzug verging. Dann noch einer.
Ihre Finger, noch kalt vom Stein des Flures, hoben sich langsam, wie im Tanz, wie im Ritual, und sie berührte die Spinne mit zwei Fingern – dem Daumen und dem Ringfinger der rechten Hand, so, wie es ihr einst beigebracht worden war, als die Namen der Göttin noch wie Prüfungen auf der Zunge gebrannt hatten. Die Kälte des Symbols durchfuhr sie nicht. Kein Schock, kein Zeichen. Nur Stille.
Aber das war nichts Neues.
Denn Lloth sprach nicht zu jenen, die warteten.
Sie sprach zu jenen, die wirkten.
Leise murmelte sie eine Formel – nicht laut, nicht für andere Ohren, nur für sich, für das Netz, das sie trug, für das Band, das sie nicht nur band, sondern durchdrang:
“Ul’yathrin Lloth, dos zhaun dosst k’lar… uns’aa xun wund nindel zhaun usstan orn tlu.”
Ein Schatten eines Lächelns berührte ihre Lippen, kaum mehr als ein Zucken.
„Die Göttin braucht keinen Tempel, um zu herrschen“, sagte sie leise – deutsch diesmal, fast wie ein Bekenntnis.
Und doch war es ein stiller Zorn, der in ihr gärte.
Denn irgendjemand hatte hier gedient – und dabei geschlampt.
Irgendjemand hatte diesen Raum benutzt, ohne ihn zu ehren.
Die Hände an den Seiten, die Haltung aufrecht, der Blick nun leerer, distanzierter – Xael’vyra drehte sich langsam um, ließ den Blick ein letztes Mal durch den Raum gleiten.
Ein Gefühl breitete sich in ihr aus, das weder Wehmut noch Heimweh war, sondern eine Form von Besitzanspruch:
Wenn dieser Ort einst mir gehört hat… dann wird er es wieder tun. Und mehr noch.
Denn sie spürte es in diesem Moment klarer denn je: Nicht das Haus war ihr Ziel, nicht ihre Mutter, nicht der Titel, nicht die Macht allein.
Sondern der Punkt, an dem alles sich bündeln würde.
Wo das Netz nicht länger nur aus Fäden bestand –
sondern aus Willen.
Und der Wille war da.
Klar.
Still.
Unverrückbar.
Schatten der nächsten Schritte
Der Weg zurück war kurz, doch in ihm lag mehr als bloße Entfernung.
Xael’vyra ging mit der Ruhe einer Priesterin, die ein Ritual beendet hatte, aber nicht befriedet war – sondern nur vorbereitet auf das nächste. Die Gewölbe zogen an ihr vorbei wie Hüllen, die sie abgestreift hatte, einst bedeutungsvoll, nun bloß Kulisse. Und mit jedem Schritt wurde ihr klarer: Was immer dieses Haus einst gewesen war, was immer es zu ihr gesprochen hatte in den Jahren vor Arach Tinilith – es war verstummt. Nicht tot. Aber leer.
Und Leere war ein Zustand, den man füllen konnte.
Als sie ihr Quartier erreichte, stand die Tür offen – nur einen Spalt, aber genug, um Misstrauen zu wecken.
Nicht aus Angst.
Angst war ein Luxus, den sie sich vor langer Zeit abgewöhnt hatte.
Aber Vorsicht war keine Schwäche. Sie war das Instrument derer, die überleben wollten.
Ein flüchtiger Blick – keine Bewegung im Inneren. Keine fremde Präsenz, kein Hauch von Magie. Nur Stille.
Xael’vyra trat ein, ließ den Umhang über ihre Schultern gleiten, ließ ihn auf den Stuhl fallen wie eine Haut, die sie für einen Moment ablegte.
Der Raum war derselbe geblieben. Kein Duft, kein Staub, kein Zeichen dafür, dass jemand ihn berührt hatte.
Niemand traut sich noch. Aber man beobachtet mich bereits.
Sie trat an das kleine, schmale Becken, in dem sich das Wasser wie eine stumme Linse sammelte. Ihre Hände tauchten ein, nur flüchtig – nicht zur Reinigung, sondern zum Spüren. Das Wasser war kalt. Glatt. Klar. Wie ihre Gedanken es sein mussten.
Wer beobachtet mich?
Wer spricht mit wem, wenn ich nicht da bin?
Sie erinnerte sich an Tath’raens Blick – still, ausdruckslos, aber nicht dumm.
Er hatte nicht gesprochen, nicht gewertet, doch sein Schweigen war nicht leer gewesen. Es hatte registriert. Bewertet.
Ein Mann wie er – diszipliniert, berechnend – war entweder eine Gefahr.
Oder eine Gelegenheit.
Und Lyr’sa?
Ein Ärgernis. Ein Relikt. Eine, die zu zerbrechen schien, ohne dass man sie berührte.
Und doch… sie war geblieben.
Nicht klug genug, um zu fliehen.
Nicht stolz genug, um aufzubegehren.
Aber vielleicht – gerade deswegen – brauchbar.
Manchmal gehorchen die Schwachen aus Furcht besser als die Starken aus Loyalität.
Xael’vyra setzte sich. Nicht an den Tisch. Nicht auf das Bett. Sondern auf den Boden – den Rücken an die kalte Wand gelehnt, das Knie angezogen, das andere ausgestreckt, den Blick zur Decke gerichtet, auf die Schatten, die sich langsam zurückzogen, als wäre das Licht, das nicht existierte, doch auf dem Weg.
Sie dachte an ihre Mutter.
Nicht mit Sehnsucht. Nicht mit Wut.
Sondern mit jenem leisen Spott, der zwischen Erkenntnis und Strategie lebt.
Jhea’kryna glaubt, sie hätte mich geschickt – und empfangen. Doch sie hat mich nicht erkannt.
Sie sieht eine Tochter. Eine Yathrin. Ein Werkzeug vielleicht.
Aber sie sieht nicht, was ich geworden bin. Was sie geschaffen hat – und was ich selbst aus mir gemacht habe.
Xael’vyra schloss kurz die Augen.
Ein Atemzug. Zwei. Dann ein leises Lächeln.
Kein Zeichen von Zufriedenheit – sondern von Klarheit.
Sie würde nicht betteln.
Nicht bitten.
Nicht dulden.
Wenn dieses Haus vergessen hat, wie man eine Tochter der Göttin empfängt –
dann wird es sich erinnern müssen, wie es ist, von ihr gerichtet zu werden.
Nicht heute.
Nicht morgen.
Aber bald.
Und dann würde jeder wissen, was es bedeutete, der Tochter der Ilharess zu trotzen.
Und Lloths Schatten würde nicht länger an den Wänden kleben.
Sondern sprechen – durch sie.
Der erste Lichtschein – wenn man in den Tiefen des Qu’ellar überhaupt von Licht sprechen konnte – fiel wie flüssiger Rauch durch das hohe Fenster, dessen Glas in blassem Violett gefärbt war und die Formen verzerrte, als würde die Welt draußen nicht aus Stein und Schatten bestehen, sondern aus Erinnerungen, die man zu vergessen versucht hatte. Xael’vyra lag wach, obwohl sie geschlafen hatte – nicht gut, nicht tief, nicht ruhig, aber ausreichend, um zu wissen, dass der gestrige Abend keine Einbildung gewesen war. Der Empfang, die Kälte, die Worte ihrer Mutter – sie waren geblieben, wie ein Geruch, der sich in der Kleidung festsetzt, wie das Echo einer Stimme, die nie wirklich schweigt.
Sie streckte sich nicht, richtete sich nicht auf mit jener eleganten Selbstverständlichkeit, die ihr einst antrainiert worden war, sondern blieb einen Moment lang einfach liegen, beobachtete die Decke mit dem Blick einer Statthalterin, die ein erobertes Gebiet kartierte. Die Kammer war leer, in einem ordentlichen, beinahe künstlichen Zustand, als hätte niemand sie je betreten, und vielleicht war das wahr – vielleicht war es ein Raum, der für sie eingerichtet worden war, nicht weil man sie erwartet hatte, sondern weil man sich verpflichtet fühlte, ihr einen Ort zu geben. Einen Ort, nicht ein Zuhause.
Doch dann war da ein Geräusch – so leise, dass es sich im ersten Moment eher wie ein Gedanke anfühlte. Ein Atmen, flach, zaghaft, fast verlegen. Und als sie den Kopf langsam drehte, sah sie die Gestalt. Lyr’sa. Zusammengesunken an der Wand, mit der Stirn auf die Knie gepresst, die Hände ineinander verkrallt wie ein Tier, das gelernt hatte, im Schlaf auf der Hut zu sein. Xael’vyra blinzelte, richtete sich auf, ließ die Decke lautlos von den Schultern gleiten, während ihre Gedanken sich sortierten wie Karten auf einem Altar – und keine davon passte zu dem Bild, das sich ihr darbot.
„Was“, sagte sie schließlich – leise, aber mit jener schneidenden Präzision, die kein Flüstern war –, „tust du da?“
Es war keine Frage im eigentlichen Sinn, sondern ein Urteil mit einem Fragezeichen. Ihr Blick glitt über die Rüstung, das erschöpfte Gesicht, die Augenringe, die wie gezeichnet wirkten, als hätte jemand mit Ruß und Nägeln ihre Wachheit auf die Haut geschrieben. Und erst als Lyr’sa langsam, tastend, sich wie aus Trance erhob, spürte Xael’vyra, wie fremd ihr der Gedanke war, dass jemand die Nacht außerhalb ihrer Tür verbracht hatte – nicht aus Pflicht, sondern aus Furcht, aus einer seltsamen Mischung aus Schuld und Erwartung.
An das Kettenhemd konnte sie sich nicht erinnern. Es war wie ausgelöscht, ein Schatten im Nebel des Zorns, der sie gestern durchdrungen hatte wie ein Blutritual in Arach Tinilith. Vielleicht hatte sie etwas gesagt, vielleicht auch nicht. Es war unerheblich. Was zählte, war die Tatsache, dass jemand sich gebrochen hatte – nicht unter ihrer Peitsche, sondern unter ihrer bloßen Anwesenheit.
Xael’vyra betrachtete Lyr’sa einen Moment lang schweigend, mit dem Gesicht einer Göttin, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie Mitleid empfinden oder vernichten wollte. Dann erhob sie sich, trat barfuß auf den kalten Boden, ließ den Moment wirken – ein erstes Morgenritual im neuen Leben, das ihr fremder war, als sie sich je eingestanden hätte.
Und draußen, hinter den Mauern, wartete das Qu’ellar – ein Labyrinth aus Erinnerungen, Machtspielen und alten Geschichten, die noch immer durch die Schatten flüsterten. Und Xael’vyra würde sie sich zurückholen. Eine nach der anderen.
Splitter einer Erinnerung
Sie rührte sich nicht. Noch nicht.
Die Dunkelheit war träge geworden, in jenen letzten Atemzügen der Nacht, in denen auch Schatten zu schlafen schienen – und doch war Xael’vyras Blick wach. Klar wie Glas, hart wie geschliffenes Onyx. Sie stand am Rand ihrer eigenen Welt, einen Schritt entfernt von der Linie, die einen Befehl von einer Berührung unterschied, ein Urteil von einem Hauch.
Lyr’sa.
Da saß sie. Immer noch. Wie vergessen. Oder wie etwas, das man achtlos hatte liegen lassen – ein Stück Zeug, eine Hülle, ein Schatten ihrer selbst. Xael’vyra betrachtete sie. Lange. Länger, als sie sich erlaubt hätte, wenn jemand anderes anwesend gewesen wäre. Die Skepsis in ihr war kalt, ein vertrauter Reflex. Doch sie wich – langsam, tastend – einer Art… Verwunderung.
Habe ich das befohlen?
Der Gedanke kam nicht wie ein Schuldbekenntnis, sondern wie ein Splitter, der aus dem Fleisch der Erinnerung brach – klein, scharf, ungewiss.
Sie suchte. In sich. Zwischen den Erniedrigungen des gestrigen Tages und dem dornigen Schleier aus Stolz. Metall… ja. Ein Kettenhemd. Dampf, Reinigungsmittel. Eine Stimme, dünn, müde, fast zitternd.
Aber kein Befehl. Kein klarer Satz. Keine bewusste Geste.
Nur dieser Blick, der alles bedeutete, weil er nichts sagte.
Ein Funken von Unmut blitzte auf – gegen sich selbst, gegen das Ungefähre, gegen die Möglichkeit, dass sie unbedacht gewesen war. Dass sie vielleicht etwas von sich gegeben hatte, das mehr war als sie erinnern wollte. Doch der Gedanke wurde im selben Atemzug erstickt, zertreten wie eine Made. Selbstzweifel waren keine Sünde – sie waren Schwäche. Und Schwäche war unentschuldbar.
Xael’vyra trat näher. Ihre Bewegungen waren fließend, katzenhaft – das leise Gleiten nackter Füße auf kaltem Stein kaum hörbar, eher gespürt als gehört. Der Umhang strich wie flüssiger Schatten über den Boden, eine Verlängerung ihres Willens.
Dann blieb sie stehen, einen halben Schritt entfernt, gerade so, dass ihre Präsenz spürbar wurde wie ein Kältestich im Nacken.
„Was… bei Lloth… tust du da unten?“
Die Stimme war sanft – fast schmeichelnd –, aber kalt wie geweihtes Silber auf offener Haut.
Lyr’sa zuckte. Nicht wie eine Dienerin, die ertappt wurde – sondern wie ein Tier, das in den Schlaf gefallen war, obwohl es wusste, dass es das nicht durfte. Ihre Augen flackerten, der Körper schwankte, suchte Halt, fand nur sich selbst. Xael’vyra sah die Müdigkeit, sah die Schuld, die sich wie ein Abdruck um ihre Schultern gelegt hatte. Kein Wort kam. Nur der Atem, stoßweise, unruhig, schwer.
Und Xael’vyra schwieg.
Nicht aus Milde – sondern weil Worte in diesem Moment zu grob gewesen wären.
Sie musterte Lyr’sa weiter – mit einem Ausdruck, der zwischen Spott und Interesse schwebte. Nicht offen, nicht gezielt. Nur ein feines Spiel aus gehobener Braue und leicht geneigten Lippen. Wie jemand, der einen Riss im Marmor entdeckt und sich fragt, ob er den Stein entwertet – oder veredelt.
Faszination war ein zu großes Wort.
Aber etwas in ihr hielt inne.
Nicht aus Mitleid.
Sondern aus Neugier auf ein Muster, das sie noch nicht verstand.
Die Hallen des Hauses
Der Flur lag vor ihr wie eine vergessene Gebetszeile, in Stein gemeißelt und dennoch fremd geworden – langgezogen, leicht gekrümmt, als hätte man ihm einst die Richtung genommen, aber nicht den Sinn, und während Xael’vyra sich darin bewegte, langsam, lautlos, barfuß auf kaltem Boden, schien es ihr, als würde jeder Schritt nicht sie durch das Qu’ellar führen, sondern das Qu’ellar durch sie – wie ein Ort, der in ihrem Inneren weiterging, dunkler, älter, wahrer als das, was sich mit den Augen fassen ließ.
Die Tür zu ihrer Kammer war hinter ihr ins Schloss gefallen mit jenem leisen, metallischen Laut, der nicht klang wie ein Beginn, sondern wie das leise Verstreichen eines Moments, der sich nicht wiederholen würde – und sie hatte sich nicht umgesehen, nicht zurück zur schlaffen Gestalt Lyr’sas, nicht zu dem schwachen Puls einer Loyalität, die vielleicht keiner war, sondern bloß Angst, oder Gewohnheit, oder ein schiefes Echo von etwas, das sie selbst noch nicht entschieden hatte, zu würdigen oder zu zerstören.
Die Hallen hießen sie nicht willkommen, aber sie stießen sie auch nicht ab – sie waren einfach da, in Stein gegossene Erinnerungen, die zu lange schweigen mussten, und während sie sich zwischen ihnen bewegte, mit erhobenem Haupt und jener stillen, unerschütterlichen Würde, die mehr war als Geste, mehr als Rolle, begann sich eine Frage in ihr zu regen, nicht laut, nicht fordernd, eher wie ein kalter Strom, der unter der Haut entlanglief: War das hier kleiner geworden – oder war sie selbst größer geworden, unpassender, gefährlicher für Räume, die früher ein Zuhause gewesen waren und jetzt wie zu eng gewordene Masken an ihr klebten?
Der erste Diener, der ihr begegnete, war mager, kaum mehr als ein Schatten mit Tablett und schrägem Blick, und als er sie sah – erkannte? erahnte? – verneigte er sich tiefer, als es angemessen war, so tief, dass es fast an Lächerlichkeit grenzte, und Xael’vyra entgegnete mit nichts außer Schweigen, einem Blick, der länger hielt, als nötig gewesen wäre, nur um zu prüfen, ob er das Zittern unterdrückte oder genoss – und auch hier: keine Reaktion, kein Titel, keine Ehrerbietung, nur das leise Wispern ihrer eigenen Gedanken, das sich über sein verbeugtes Rückgrat legte wie ein Urteil: Sie sehen mich, aber sie wissen nicht, wer ich geworden bin. Noch nicht.
Die Gewölbe, durch die sie schritt, waren dieselben wie in ihrer Kindheit, in jenen Jahren, die kein Kindsein erlaubten und doch diesen Namen trugen – dieselben Bögen, dieselben Spinnensymbole, dieselben dunklen Wandteppiche, auf denen Göttinnen Beute verschlangen und Blut in Ornamente verwandelten –, und dennoch wirkte alles… stiller. Nicht in der Lautstärke, sondern in der Art, wie man sie nicht mehr fragte, nicht mehr berührte, nicht mehr prüfte. Es war, als hätte das Haus sie vergessen wollen – oder beschlossen, sie erst dann zu erkennen, wenn sie es sich neu nahm.
Vor einem Bogen blieb sie stehen – das Symbol der Jagd eingraviert, fein, kunstvoll, aber gesprungen, ein Riss durch das Spinnennetz, kaum sichtbar, aber da, und ihre Finger glitten wie von selbst darüber, prüfend, forschend, als könnte man durch Berührung verstehen, was Worte nicht zu sagen wagten: War dieser Sprung neu? Oder war er immer da gewesen – und hatte sie ihn nur nie bemerkt, weil sie zu klein war, zu blind, zu hungrig nach etwas anderem als Wahrheit?
Ein weiterer Schatten bewegte sich, tiefer im Korridor, ein Sargtlin vermutlich, schweigend, mit Haltung, aber ohne Titel auf den Lippen – wieder kein Yathrin, kein Gruß, kein Stopp, nur ein Nicken, wie man es einem Gespenst entgegenbringt, das man nicht rufen, aber auch nicht vertreiben kann. Und in Xael’vyra spannte sich etwas – ein Muskel, ein Wille, ein Netz – und ihre Schritte wurden nicht schneller, aber präziser, bewusster, wie eine Tänzerin auf einem unsichtbaren Faden zwischen Erinnerung und Macht.
Zeige niemals Schwäche.
Nicht in diesen Gängen, nicht vor diesen Blicken, nicht vor dir selbst.
Und doch… es war nicht nur Stolz, der sie trug, nicht nur Zorn oder Ehrgeiz – es war das leise Bewusstsein, dass diese Hallen, so leer sie wirkten, nicht leer waren. Sie waren voller Stimmen, voller Augen, voller wartender Schatten, die noch nicht entschieden hatten, ob sie sie wieder aufnehmen würden – oder ob sie ihr zum Feind werden mussten, um sich selbst zu retten.
Sie erkannte Orte – eine Nische, in der sie einst gelauscht hatte, ein Türbogen, hinter dem ihre Mutter einst einen Gesandten in die Knie gezwungen hatte, ohne ein Wort zu sagen –, und doch wirkten diese Bilder aus der Vergangenheit wie Puppentheater in ihrem Geist: klein, starr, überzeichnet, nicht mehr bedeutungsvoll, sondern wie etwas, das sie lächelnd verbrennen würde, wenn es ihr im Weg stünde.
Und so ging sie weiter, mit dem Wissen, dass sie zurückgekehrt war, nicht um zu bitten, nicht um zu flehen, nicht einmal um zu verstehen – sondern um das Netz, das andere zerschlissen hatten, mit eigenen Händen neu zu weben.
Nicht weil es ihr Recht war.
Sondern weil es ihre Natur war.
Riten der Rückkehr
Der Raum roch nach altem Rauch und flüchtigem Eisen – eine Mischung, die Xael’vyra sofort erkannte, auch wenn sie sich nicht mehr an jedes Detail erinnerte, das hier einst gelegen hatte. Der Schrein lag am Ende eines Seitengangs, halb verborgen hinter einem bogenförmigen Schleier aus dunklem Stoff, dessen Fransen in der unbewegten Luft wirkten, als wären sie versteinert. Niemand hatte sie zurückgezogen. Niemand hatte ihn vorbereitet.
Es war nicht der Haupttempel des Hauses – nicht der große Saal mit den fünf Altaren und den lebenden Spinnen, nicht der Raum für Prozessionen und Opferfeste, nicht der Ort, an dem Peitschen tanzten und Blut gerufen wurde –, nein. Dies hier war älter. Kleiner. Intimer. Ein Gebetsraum für die, die Lloth nicht nur kannten, sondern ihr zuhörten, wenn sie schwieg.
Xael’vyra trat ein, langsam, mit jener kontrollierten Bedachtsamkeit, die bei anderen wie Ehrfurcht gewirkt hätte, bei ihr jedoch eher wie ein stiller Anspruch wirkte – als würde sie die Schwelle nicht betreten, sondern beanspruchen.
Die Wände waren mit Tüchern behängt, bestickt mit Symbolen aus schwarzem Garn auf schwarzem Grund, kaum sichtbar, aber spürbar. Ein Netz über allem, gezogen wie ein Schleier aus Erwartung. Und doch… irgendetwas war anders. Nicht falsch. Aber verschoben. Der kleine Altar, einst aus poliertem Obsidian, trug Spuren. Kratzer. Winzige Flecken von Wachs, das nachlässig entfernt worden war. Die Spinnenfigur, die einst in der Mitte gesessen hatte – eine Göttin aus sieben Gliedern, mit Augen aus rotem Glas – war verrückt worden. Kaum merklich. Aber sie sah nicht mehr genau nach Osten.
Xael’vyra blieb stehen.
Ein Atemzug verging. Dann noch einer.
Ihre Finger, noch kalt vom Stein des Flures, hoben sich langsam, wie im Tanz, wie im Ritual, und sie berührte die Spinne mit zwei Fingern – dem Daumen und dem Ringfinger der rechten Hand, so, wie es ihr einst beigebracht worden war, als die Namen der Göttin noch wie Prüfungen auf der Zunge gebrannt hatten. Die Kälte des Symbols durchfuhr sie nicht. Kein Schock, kein Zeichen. Nur Stille.
Aber das war nichts Neues.
Denn Lloth sprach nicht zu jenen, die warteten.
Sie sprach zu jenen, die wirkten.
Leise murmelte sie eine Formel – nicht laut, nicht für andere Ohren, nur für sich, für das Netz, das sie trug, für das Band, das sie nicht nur band, sondern durchdrang:
“Ul’yathrin Lloth, dos zhaun dosst k’lar… uns’aa xun wund nindel zhaun usstan orn tlu.”
Ein Schatten eines Lächelns berührte ihre Lippen, kaum mehr als ein Zucken.
„Die Göttin braucht keinen Tempel, um zu herrschen“, sagte sie leise – deutsch diesmal, fast wie ein Bekenntnis.
Und doch war es ein stiller Zorn, der in ihr gärte.
Denn irgendjemand hatte hier gedient – und dabei geschlampt.
Irgendjemand hatte diesen Raum benutzt, ohne ihn zu ehren.
Die Hände an den Seiten, die Haltung aufrecht, der Blick nun leerer, distanzierter – Xael’vyra drehte sich langsam um, ließ den Blick ein letztes Mal durch den Raum gleiten.
Ein Gefühl breitete sich in ihr aus, das weder Wehmut noch Heimweh war, sondern eine Form von Besitzanspruch:
Wenn dieser Ort einst mir gehört hat… dann wird er es wieder tun. Und mehr noch.
Denn sie spürte es in diesem Moment klarer denn je: Nicht das Haus war ihr Ziel, nicht ihre Mutter, nicht der Titel, nicht die Macht allein.
Sondern der Punkt, an dem alles sich bündeln würde.
Wo das Netz nicht länger nur aus Fäden bestand –
sondern aus Willen.
Und der Wille war da.
Klar.
Still.
Unverrückbar.
Schatten der nächsten Schritte
Der Weg zurück war kurz, doch in ihm lag mehr als bloße Entfernung.
Xael’vyra ging mit der Ruhe einer Priesterin, die ein Ritual beendet hatte, aber nicht befriedet war – sondern nur vorbereitet auf das nächste. Die Gewölbe zogen an ihr vorbei wie Hüllen, die sie abgestreift hatte, einst bedeutungsvoll, nun bloß Kulisse. Und mit jedem Schritt wurde ihr klarer: Was immer dieses Haus einst gewesen war, was immer es zu ihr gesprochen hatte in den Jahren vor Arach Tinilith – es war verstummt. Nicht tot. Aber leer.
Und Leere war ein Zustand, den man füllen konnte.
Als sie ihr Quartier erreichte, stand die Tür offen – nur einen Spalt, aber genug, um Misstrauen zu wecken.
Nicht aus Angst.
Angst war ein Luxus, den sie sich vor langer Zeit abgewöhnt hatte.
Aber Vorsicht war keine Schwäche. Sie war das Instrument derer, die überleben wollten.
Ein flüchtiger Blick – keine Bewegung im Inneren. Keine fremde Präsenz, kein Hauch von Magie. Nur Stille.
Xael’vyra trat ein, ließ den Umhang über ihre Schultern gleiten, ließ ihn auf den Stuhl fallen wie eine Haut, die sie für einen Moment ablegte.
Der Raum war derselbe geblieben. Kein Duft, kein Staub, kein Zeichen dafür, dass jemand ihn berührt hatte.
Niemand traut sich noch. Aber man beobachtet mich bereits.
Sie trat an das kleine, schmale Becken, in dem sich das Wasser wie eine stumme Linse sammelte. Ihre Hände tauchten ein, nur flüchtig – nicht zur Reinigung, sondern zum Spüren. Das Wasser war kalt. Glatt. Klar. Wie ihre Gedanken es sein mussten.
Wer beobachtet mich?
Wer spricht mit wem, wenn ich nicht da bin?
Sie erinnerte sich an Tath’raens Blick – still, ausdruckslos, aber nicht dumm.
Er hatte nicht gesprochen, nicht gewertet, doch sein Schweigen war nicht leer gewesen. Es hatte registriert. Bewertet.
Ein Mann wie er – diszipliniert, berechnend – war entweder eine Gefahr.
Oder eine Gelegenheit.
Und Lyr’sa?
Ein Ärgernis. Ein Relikt. Eine, die zu zerbrechen schien, ohne dass man sie berührte.
Und doch… sie war geblieben.
Nicht klug genug, um zu fliehen.
Nicht stolz genug, um aufzubegehren.
Aber vielleicht – gerade deswegen – brauchbar.
Manchmal gehorchen die Schwachen aus Furcht besser als die Starken aus Loyalität.
Xael’vyra setzte sich. Nicht an den Tisch. Nicht auf das Bett. Sondern auf den Boden – den Rücken an die kalte Wand gelehnt, das Knie angezogen, das andere ausgestreckt, den Blick zur Decke gerichtet, auf die Schatten, die sich langsam zurückzogen, als wäre das Licht, das nicht existierte, doch auf dem Weg.
Sie dachte an ihre Mutter.
Nicht mit Sehnsucht. Nicht mit Wut.
Sondern mit jenem leisen Spott, der zwischen Erkenntnis und Strategie lebt.
Jhea’kryna glaubt, sie hätte mich geschickt – und empfangen. Doch sie hat mich nicht erkannt.
Sie sieht eine Tochter. Eine Yathrin. Ein Werkzeug vielleicht.
Aber sie sieht nicht, was ich geworden bin. Was sie geschaffen hat – und was ich selbst aus mir gemacht habe.
Xael’vyra schloss kurz die Augen.
Ein Atemzug. Zwei. Dann ein leises Lächeln.
Kein Zeichen von Zufriedenheit – sondern von Klarheit.
Sie würde nicht betteln.
Nicht bitten.
Nicht dulden.
Wenn dieses Haus vergessen hat, wie man eine Tochter der Göttin empfängt –
dann wird es sich erinnern müssen, wie es ist, von ihr gerichtet zu werden.
Nicht heute.
Nicht morgen.
Aber bald.
Und dann würde jeder wissen, was es bedeutete, der Tochter der Ilharess zu trotzen.
Und Lloths Schatten würde nicht länger an den Wänden kleben.
Sondern sprechen – durch sie.
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