Der Schäfer im Wald

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Pyrian
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Der Schäfer im Wald

Beitrag von Pyrian »

Der Abend senkte sich langsam über das Land, als der Schäfer seinen Platz am Rand der kleinen Lichtung einnahm. Dort, wo das Gras noch saftig und weich war, hatte er seine Schafe zur Ruhe kommen lassen. Einige von ihnen lagen bereits nieder, andere rupften noch gierig an den Halmen, doch die vertrauten Geräusche beruhigten ihn: das leise Blöken, das Scharren der Hufe, das gleichmäßige Kauen.

Über den Baumwipfeln spannte sich der Himmel, in dessen Blau sich das erste fahle Licht der Sterne zeigte. Die Schatten des Waldes krochen von Stamm zu Stamm, und es war, als würde die Welt die Luft anhalten, bevor die Nacht begann. Der Schäfer saß auf einem umgestürzten Baumstamm, den Stab fest in seiner Hand. Sein Blick wanderte immer wieder über die kleine Herde, prüfte aufmerksam, dass keines der Tiere fehlte. Er kannte jedes von ihnen beim Anblick: das große, gemächliche Mutterschaf mit dem schwarzen Fleck auf der Stirn, die beiden jungen Lämmer, die kaum stillzuhalten waren, und den alten Widder, der stets am Rand stand, als wolle er Wache halten.

Der Wald war still. Nur das Rauschen der Blätter und das Zirpen der Grillen begleiteten den Mann. In der Ferne rauschte ein Bach, verborgen zwischen Moos und Steinen, und manchmal flog eine Fledermaus so tief über die Lichtung, dass ihre Flügel die Luft wie ein leises Wispern zerschnitten. Doch in dieser Stille war auch eine andere Spannung verborgen, etwas, das der Schäfer schon seit Stunden spürte. Es lag im Geruch der Luft, im feinen Knistern der Äste, im Verhalten der Schafe, die unruhiger wurden, wenn der Wind sich drehte.

Er zog den Mantel enger um die Schultern. Der Sommer neigte sich dem Ende, und die Nächte wurden wieder kühl. Doch die Kälte kümmerte ihn nicht, nur die Gewissheit, dass er heute Nacht wachsam bleiben musste.

Dann kam es: ein Laut, kaum mehr als ein fernes Echo, doch unverkennbar. Ein langgezogenes Heulen, das zwischen den Stämmen widerhallte, getragen vom Wind. Der Schäfer hob sofort den Kopf. Die Schafe zuckten zusammen, einige rückten eng zusammen, als würden sie Schutz in der Nähe der anderen suchen. Das Heulen klang nicht nah, aber auch nicht weit genug, um es zu ignorieren.

Ein Wolf.

Der Schäfer legte die Hand beruhigend auf den Rücken des nächsten Schafes, das nervös blökte. „Ruhig, meine Guten“, murmelte er. Seine Stimme war leise, doch fest. „Solange ich hier bin, wird euch nichts geschehen.“

Er stand auf, setzte den Stab fester an den Boden. Das Holz war alt, doch schwer und zuverlässig, schon oft hatte er es benutzt, um streunende Hunde oder hungrige Füchse abzuwehren. Ein Wolf aber war etwas anderes. Klüger, stärker, beharrlicher. Ein einzelner Wolf konnte vielleicht verjagt werden – doch wenn er ein Rudel führte? Der Schäfer ließ den Gedanken nicht zu Ende kommen. Stattdessen lauschte er.

Die Nacht verdichtete sich. Dunkelheit legte sich wie ein schwerer Mantel über die Lichtung, und der Mond schob sich langsam zwischen die Wolken. Sein silbriges Licht fiel über die Herde, ließ die weißen Felle der Schafe fast schimmern. Sie wirkten friedlich, doch ihre Ohren zuckten, und immer wieder hoben sie die Köpfe. Sie spürten die Gefahr ebenso wie er.

Ein weiteres Heulen ertönte, diesmal näher. Der Schäfer spannte sich an. Der Klang kam von Nordosten, aus der Richtung des alten Kiefernwaldes. Er stellte sich aufrecht hin, schritt ein Stück von der Herde fort, gerade so weit, dass er die Dunkelheit überblicken konnte. Sein Blick suchte nach Bewegung, nach einem Schatten, der sich löste, nach dem Schimmer von Augen zwischen den Stämmen.

Lange Minuten vergingen. Nur das Knistern des Feuers, das er am frühen Abend entzündet hatte, war zu hören, ein kleiner, warmer Lichtkreis gegen die Schwärze. Das Heulen wiederholte sich nicht, doch der Schäfer wusste, dass dies nichts bedeutete. Ein Wolf machte sich nicht immer bemerkbar. Manchmal kam er lautlos, schlich näher, bis er mit einem einzigen Satz zuschlug.

„Nicht heute Nacht“, murmelte der Mann. Er wandte sich zurück zu seinen Tieren. Viele von ihnen hatten sich niedergelegt, eng aneinander gedrängt, suchten Wärme und Schutz. Es lag eine stille Bitte in ihren Augen, wenn sie ihn ansahen. Sie vertrauten ihm. Dieses Vertrauen war wie ein Band, stärker als jede Furcht.

Die Stunden zogen dahin. Der Schäfer ging in langsamen Kreisen um die Herde, immer den Stab zur Hand. Manchmal blieb er stehen, horchte, lauschte dem Wind, der durch die Zweige strich. Einmal glaubte er, das Knacken von Schritten zu hören, tief im Wald verborgen, doch vielleicht war es nur ein Ast, der brach. Er wusste, dass seine Sinne ihn täuschen konnten – und doch durfte er keinen Moment unachtsam sein.

Der Mond stand nun hoch am Himmel, und die Nacht war stiller geworden. Kein weiteres Heulen, keine Bewegung zwischen den Bäumen. Der Schäfer atmete langsam auf, doch er legte sich nicht nieder. Er blieb wach, saß wieder auf seinem Baumstamm und betrachtete die Schafe. Sie hatten sich beruhigt, wieder begann das gleichmäßige Kauen und Blöken, die Geräusche der Normalität.

Vielleicht, dachte er, war es nur ein einzelner Wolf, der auf Streifzug war und weitergezogen ist. Vielleicht war das Rudel noch weit entfernt, und er hatte nur eine Warnung gehört. Doch in seinem Herzen wusste er, dass dies nicht die letzte Nacht war, in der er Wache halten musste.

Der Wald war voller Geheimnisse, und der Wolf gehörte dazu. Er war Teil dieser Welt, so wie er selbst, so wie die Schafe. Und so wie jedes Lebewesen kämpfte er um sein Überleben. Der Schäfer verstand das. Aber er wusste auch: die seine würden geschützt. Er war hier, und er würde nicht weichen.

Noch einmal spannte er den Mantel um seine Schultern, noch einmal strich er beruhigend über das Fell des alten Widders. „Schlaft ruhig“, flüsterte er. „Ich bin hier.“

Die Sterne funkelten, der Wald rauschte, und die Nacht zog dahin. Der Wolf würde wiederkommen, das wusste er. Doch wenn er kam, würde der Schäfer bereit sein.

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