Stimmen der Andacht [Sternenfall]

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Grimoires
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Registriert: 29 Okt 2025, 20:21

Stimmen der Andacht [Sternenfall]

Beitrag von Grimoires »

Im Morgengrauen gehört Britain denjenigen, die leiser atmen als die Stadt. Bei Lysan beginnt der Tag noch in der Nacht. Eine schmale Frau mit zartem Gesicht und wachen, von dunklen Ringen eingefassten Augen. Das Haar streng nach hinten geflochten. Der graue Leinenhabit ist am Saum vom ewigen Scheuern an den Bänken aufgeraut, am Hals hängt ein schlichtes Messingornament. Tinte färbt die Kuppen von Daumen und Zeigefinger – eine Schwester des Schreibens und der Listen. In der Dämmerung schiebt sie die Kapellentür auf, wischt mit einem nebelfeuchten Tuch über die Kerzenständer, zählt die Kerzen, prüft den Stand der Gaben. Als der erste fahle Schein der Sonne durch die Butzenscheiben dringt, tritt sie über die Schwelle – und hält unwillkürlich den Atem an.

Da ist dieser Druck, kaum mehr als ein Handauflegen auf dem Brustbein, ein Hauch, der zwischen Rippen und Herz zu wohnen scheint. Für einen Moment fühlt es sich an, als sei der Sinn, der ihr sonst leise zuflüstert, einen Schritt zurückgetreten – und zugleich breitet sich Wärme aus, als beuge sich eine Mutter über ihr Neugeborenes, um es zu hüten. Wie eine Kuppel, die sich um Britain und das Umland legt, um zu wärmen und Geborgenheit zu spenden. Niemand kann diese Kuppel sehen und niemand spürt sie, außer denen, die beten, bis die Finger blass werden. Sie hält nichts auf, sie verändert den Alltag der Menschen nicht - Markt bleibt Markt, Streit bleibt Streit - und doch ist sie für die Frommen da wie eine zweite Haut, spürbar nur auf der Ebene von Gefühl und Intuition. Lysan senkt den Kopf. „Du, der mich hörst, noch ehe ich spreche… bewahre diese Stadt - auch vor meinem Eifer.“ Es wirkt, als bliebe ihre Stimme ungehört – und dennoch legt sich ein leiser Trost in ihre Hände, in denen keine Kerze brennt.

Zur gleichen Stunde sitzt Albrecht an einem schmalen Tisch in einem Hof, der es nicht eilig hat, hell zu werden. Ein hochgewachsener Mann mit Narbe am Kiefer. Das Haar kurz wie frisch gehauener Stein. Sein Wappenrock ist von blassem Ton, darauf eine schlichte Stickerei seines Ordens. Die Kette des Kettenhemdes hat stumpfes Licht gesammelt. Er frühstückt nach den Regeln seines Ordens: ein trockenes Stück Brot, Wasser, eine harte Wurzel - nichts, was die Zunge tanzen lässt. Gelübde der Mäßigung an Tagen der Prüfung. Die Handschuhe liegen ordentlich aufeinander, die Riemen sind bereits durch die Schnallen gezogen.

Als er das Osttor von Düsterhafen passiert und über die Brücke in Richtung Armenviertel tritt – zu früher Stunde, um draußen am Wegesrand jene „Schafe“ zu suchen, die aus seiner Sicht noch nicht den rechten Glauben gefunden haben –, fällt sein Schritt unmerklich in einen anderen Takt. Etwas richtet ihn innerlich aus, wie ein Marsch, den kein Trommler schlägt. Der Torwächter gähnt, ein Händler flucht über den Preis von Salz; niemand ahnt, dass Albrecht an der unsichtbaren Kante von etwas Heiligem entlanggeht. In ihm ist die Erzählung seines Ordensbruders Sebastian lebendig: wie die Gottheit den jungen Albrecht damals „gefunden“ und gelenkt habe, wie nichts ohne ihren Plan geschehe. Dieser Gedanke macht ihn frei – frei von Last, weil jede Last, so glaubt er, auf den Schultern der Gottheit ruht.

Doch als er die andere Seite der Brücke erreicht, bricht eine unsägliche Schwere über ihn herein, die Knie werden weich. Für einen Herzschlag fühlt es sich an, als wäre der Segen vergangen, als hätte die Gottheit ihm den Rücken gekehrt – obgleich er sich keiner Schuld bewusst ist. Dann bemerkt er, dass sich etwas verlagert: Die Gelassenheit, die eben noch in ihm ruhte, breitet sich über die Stadt aus, als legte jemand Butter auf eine Scheibe warmes Brot und sie zöge langsam, sanft über jeden Rand. Nicht sichtbar, nicht hörbar, ohne jeden Einfluss auf den geschäftigen Ablauf des Morgens – und doch spürbar für sein betendes Herz. Es ist die Kuppel von Düsterhafen, die wie jene über Britain nur von Geistlichen und wahrhaft Gläubigen erahnt wird. Sie fordert nichts, sie zwingt niemanden, sie ist lediglich da: ein Schutz ohne Mauer, eine Erinnerung ohne Wort.

Albrechts Augen zucken, als suchten sie ein Zeichen, das es für die Augen nicht gibt. Sein Glaube stolpert, nicht nur in der Auslegung, sondern in der Wahrnehmung. Ist das Lenkung – oder das stille Wirken, das die Lasten neu verteilt? Die Unruhe greift nach ihm, und er sammelt seine Kräfte, um den Rückweg anzutreten. Er will mit seinen Brüdern und Schwestern sprechen, will prüfen, ob er die Eingebung falsch gedeutet hat, denn wenn die Kuppel über der Stadt liegt, sollen seine Schritte nicht lauter sein als ihr Flüstern.

Zwischen beiden Orten – im warmen Stein Britains und in der salzigen Luft von Düsterhafen – wölben sich diese unsichtbaren Schilde wie zwei offene Hände. Kein Bürger spürt sie, kein Händler, kein Kind; die Preise bleiben hart, die Hunde bellen, wie Hunde bellen. Nur die Betenden bemerken die feine Kante, wenn sie sie überschreiten: ein Druck am Brustbein, eine geliehene Ruhe, ein Hauch von Geborgenheit. Sie sind keine Bollwerke und kein Zauber, der die Welt verbiegt. Sie sind Zusage. Und in dieser Zusage gehen Lysan und Albrecht ihren Weg – die eine mit Tinte an den Fingern, der andere mit regelharter Zunge –, zweifelnd, deutend, und immer wieder neu bereit, die Stille zu hören, die sie trägt.

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