Wenn Worte wie Blätter verwehen
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Es schien, als blieben ihre Worte im Wind hängen wie welke Blätter, die keinen Boden mehr fanden, um Wurzeln zu schlagen.
Die Warnung, die sie gemeinsam mit Rianon ausgesprochen hatte – nicht in Hast, nicht in Hysterie, sondern in der ernsten Überzeugung, dass Gefahr nahte – war empfangen worden mit höflichem Schweigen, mit jenen bedächtigen Blicken, hinter denen nichts lag als die tiefe, unbewegte Geduld derer, die glauben, dass alles vorübergeht, wenn man nur lang genug wartet.
Doch Lirael wusste, dass es diesmal anders war.
Etwas war im Wandel – nicht nur in den Schatten zwischen den Bäumen oder in den Krähen, die zu früh in Scharen kreisten, sondern in der Seele des Waldes selbst, dort, wo ihre Meditation sie zuletzt geführt hatte, an den Herzbaum, an das uralte, flüsternde Leben von La. Und sie hatte Lyr’sa geglaubt. Wie sollte sie auch nicht? Das Zittern in der Stimme der Dunkelelfe war kein Spiel, keine List – es war Erinnerung, und Schuld, und Angst. Und es war Wahrheit.
Wenn der Rat ihr nicht glauben wollte – wenn die Paladine des Mondes und der Bund der Wachenden in den Worten einer Waldläuferin nur vage Andeutungen sahen –, dann würden sie vielleicht einer von dort glauben, woher das Dunkel kam. Vielleicht, so hoffte sie, konnten Worte aus einem Mund, der selber Elashin entsprungen war, das Ohr erreichen, das ihren nicht lauschte.
Und so wartete sie an jenem Abend auf Lyr’sa. Die Schmiedin kam wie so oft aus der Mine, das rußige Haar zu einem wilden Knoten geschoben, der Blick müde, aber wachsam, ihre Schritte von jener schweren Präsenz begleitet, die tief in den Drow lag wie geschmiedeter Stahl. Doch bevor sie die Schwelle der Taverne überschreiten konnte, trat Lirael ihr entgegen – nicht mit Vorwürfen, nicht mit der Dringlichkeit eines Befehls, sondern mit jener Unruhe im Herzen, die sie nicht mehr abschütteln konnte.
„Lyr’sa… du musst mir helfen, Yew zu beschützen.“
Ein Satz, gesprochen wie ein Schwur. Und doch: Er traf auf Schweigen.
Zuerst verstand Lyr’sa nicht. Und als sie verstand, erblasste sie.
Ein Schatten trat in ihre Augen, einer, der tiefer war als jede Höhle – die Erinnerung an ihre Stellung, an die Ilharess, an das Haus, an das unausgesprochene Wissen, dass jedes Wort, das den Kreis der Drow verließ, ein Schnitt war in ein Netz, das dich auch noch hält, wenn du längst gefallen bist.
„Ich kann dir nicht helfen, Lirael. Ich hätte dich nicht einmal warnen dürfen. Die Ilharess wird mich töten, wenn sie davon erfährt.“
Lirael spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Der Impuls zu protestieren, sie zu beschwören, sie festzuhalten – er kam und blieb. Und sie sprach weiter, eindringlich, mit der Wärme einer Hoffnung, die keine Worte kannte, nur Dringlichkeit.
„Ich verspreche dir, dass dir niemand etwas antun wird. Die Paladine…“
Doch da geschah es.
Ein Zischen, ein Ausdruck von Ekel – Lyr’sa spuckte aus, ihre Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen, und in Liraels Herz stach die Erkenntnis wie ein Dorn:
Ganz gleich, was zwischen ihnen war – Lyr’sa war eine Dunkelelfe.
Und in ihr loderte jener alte Hass, tief wie Lava unter Gestein, gegen jene, die einst ihre Höhlen stürmten, gegen Licht, gegen Paladine, gegen Yew.
Vielleicht war sie nicht hier, um zu helfen. Vielleicht war sie einfach nur gestrandet.
Doch dann veränderte sich etwas.
Lirael schwieg. Sie trat näher, ganz nah, und legte ihre Hand auf Lyr’sas Arm – nicht als Waffe, nicht als Bitte, sondern als etwas Weiches, Zerbrechliches. Sie senkte die Stimme.
„Lyr’sa… wir sind Freundinnen. Ich weiß nicht, ob das ein Wort ist, das du oft gehört hast. Aber für mich bedeutet es etwas. Und ich glaube, für dich auch. Hilf mir, weil es mir wichtig ist. Weil ich dir vertraue. Und weil ich weiß, wie allein du dich manchmal fühlst – so wie ich.“
In ihren eigenen Worten lag eine Wahrheit, die sie erschreckte – denn sie spürte, dass sie begann, zu manipulieren. Nicht aus List, sondern aus Not. Und dieser Gedanke ließ sie innehalten.
Gleichzeitig wurde ihr damit auch bewusst, wie sehr die Erfahrung nach der Meditation in Yew und ihre verstärkte Verbindung mit La sie nun prägten und dass sie bereit war, vieles zu tun, um La und Yew zu schützen. Denn es war kein bloßes Wissen mehr, kein Gefühl von Pflicht oder Abwägung, sondern eine Art innerer Drang, geboren aus Stille und Licht, aus Spuren auf nassem Laub und flüsterndem Moos, der sie führte, so sanft wie unabwendbar, in eine Richtung, die sie sich nicht ausgesucht hatte, und die sie doch mit jeder Faser annahm.
Wenn es Yew retten konnte.
Lyr’sa schwieg. Dann nickte sie.
Sie reisten in der Dunkelheit, sprachen kaum ein Wort, bis sie vor dem Rat von Yew standen – ein Ort, wo das Licht über Stein brannte und das Schweigen uralt war. Lyr’sa sprach – mit knapper Stimme, mit Blicken, die mehr sagten als ihre Worte. Sie erzählte von den Zeichen, von Bewegungen im Schatten, von stillen Befehlen und flüsternden Gängen.
Und Lirael, die neben ihr stand, hörte jedes Wort wie einen Schnitt in ihr eigenes Herz – denn sie wusste, sie hatte ihre Freundin benutzt.
Doch Lyr’sa, als sie geendet hatte, sah sie an – und in diesem Blick lag kein Groll. Nur eine seltsame Ruhe. Vielleicht hatte sie geglaubt, etwas gutzumachen. Vielleicht war es auch nur ein Moment von etwas, das Nähe war.
Fast zur selben Zeit jedoch, hatte auch Parthena eine Wahrnehmung – nicht von dieser Welt, nicht erklärbar in Worten, sondern eingebettet in jene tieferen Strömungen, die nur Seelen erreichen, deren Gewebe mit dem Licht verwoben ist. Was sie gespürt hatte, war kein Bild, kein Laut, kein Zeichen in der Luft, sondern ein Riss, kaum sichtbar und doch durchdringend, als habe jemand die feine Melodie des Waldes an einer einzigen Stelle verstimmt – und der Klang des Lebens verändere sich seitdem unmerklich, aber unaufhaltsam.
Und so begannen sich die Linien zu kreuzen: Lyr’sas Warnung, Parthenas Blick, Liraels Gewissheit, Rianons Vertrauen. Der Rat schwieg, doch in diesem Schweigen lag Bewegung, ein inneres Vibrieren, das jeder spürte, der mit dem Wald verbunden war. Noch hatte niemand gehandelt, noch wurden keine Schwerter gezogen, keine Grenzen gezogen, keine Lichter entzündet – aber in Yew war etwas erwacht. Etwas, das zu lange geschlafen hatte.
Lirael aber würde nicht warten.
Sie würde zurückkehren.
Zu La.
Zu den Wurzeln.
Mit Bogen und mit Klinge.
Mit Herz und mit Zweifel.
Und mit dem festen Entschluss, Yew zu verteidigen – mit jeder Faser ihres Wesens, auch wenn sie dazu selbst zu einem Schatten im Grün werden musste.
Nicht allein.
Sondern mit Rianon.
Und dem Wald.