Der Morgen begann in der Taverne wie so viele andere: mit einem Topf, der dringend Aufmerksamkeit verlangte und einer Wirtin, die sich gerade fragte, ob der Eintopf über Nacht vielleicht eine eigene Persönlichkeit entwickelt hatte. Bareti rührte so konzentriert, als würde sie eine hochkomplizierte Beschwörungsformel entschlüsseln.
Da flog die Tür auf, und Nicoletta kam herein – außer Atem, leicht gerötet und mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck einer Frau, die etwas Wichtiges zu berichten hatte. Begrüßt wurde sie von einem warmen Duft aus Kräutern, Eintopf und… konzentrierter Verzweiflung.
„Morgen, Bareti“, rief sie, etwas kurz angebunden. „Ich komme gerade vom Markt und habe gesehen, dass Lyr’sa Flüchtlinge am Lager südlich des Marktes versorgt. Sie hilft da schon seit Sonnenaufgang. Es sieht so aus, als könnte sie echt Unterstützung gebrauchen.“
Bareti richtete sich auf, die Kelle noch in der Hand, und nahm einen tiefen Atemzug, der eindeutig sagte: Natürlich passiert das genau jetzt.
Dann wanderte ihr Blick zu den Lebensmitteln, die sie gestern für eine spätere Spendenaktion zusammengesammelt hatte: Brot, Gemüse, Fisch — und drei prall gefüllte Körbe frischer Äpfel, die eigentlich für ihren nächsten Mostansatz gedacht waren.
„Willst du hin?“, fragte Nicoletta.
Sie seufzte. „Aber ja, der Most läuft mir ja nicht weg. Und die Äpfel tun wenigstens etwas Sinnvolles, bevor ich wieder irgendetwas in die Luft jage.“
Nicoletta hob eine Braue. „Ich komm mit, wenn du magst, Moment... Wieder?“
„Lange Geschichte.“ mit einer kurzen Geste winkte die Magierin ab und besah sich die Taverne. „Und ja, unbedingt.“ Bareti schnaubte leise. „Du weißt ja, wie ich mit Karren fahre. Das Letzte, was die Flüchtlinge brauchen, ist eine fliegende Fischlieferung.“
Nicoletta lachte. „Dann laden wir eben zusammen. Aber was machen wir mit der Taverne, Ulaf ist ja auch unterwegs?“
„Die Taverne bleibt offen, wir stellen einige Flaschen auf den Tresen und etwas Essen dazu. Die Stammgäste können sich selbst bedienen.“
Mit einer Mischung aus Pflichtbewusstsein, mildem Chaos und einem Hauch Trotz packten die Wirtin und Nicoletta kurzerhand alles zusammen: den großen Topf Eintopf, zwei Körbe Brot, die halbe Fischlieferung vom Hafen — und die drei Körbe Äpfel, die noch am Vorabend glänzend sortiert worden waren, als wären sie heilige Artefakte.
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Der Karren hinter der Taverne sah aus, als hätte er bereits jetzt genug vom Tag. Thorian hatte sich seiner annehmen wollen, aber darauf konnten die beiden jetzt nicht länger warten. Bareti und Nicoletta standen davor, zwei Körbe Brot, ein Topf Eintopf, Fische – und drei Körbe Äpfel im Arm.
Gemeinsam hoben sie den ersten Korb auf den Karren. Der Karren knarzte dramatisch.
„Der beschwert sich jetzt schon“, murmelte Nicoletta.
„Ich auch, aber keiner hört zu“, gab Bareti zurück und setzte den zweiten Korb oben drauf.
Beim dritten Korb rutschte ein Apfel heraus, sprang elegant über Baretis Schuh und rollte Richtung Böschung.
„Nicht der!“ rief sie und hechtete hinterher. Nicoletta stützte währenddessen den Karren, der beschlossen hatte, die Gelegenheit für einen Fluchtversuch zu nutzen.
„Kannst du bitte helfen und keine Obstrettungsakrobatik machen?“, rief Nicoletta.
„Ich rette, was sich retten lässt!“
Als alles verstaut war, holten beide tief Luft und fassten an die Griffe.
Der Karren ruckte, ächzte – und setzte sich widerwillig in Bewegung.
„Hast du ihn verzaubert?“, fragte Nicoletta misstrauisch.
„Nur angesehen“, sagte Bareti unschuldig. „Mit einem sehr positiven Blick.“
„Bitte behalt den für Menschen. Der Karren macht mich nervös.“
Der Weg zum Lager verlief erstaunlich gut, abgesehen von drei beinahekippenden Fischkisten, einem weiteren flüchtenden Apfel und dem Moment, in dem Bareti fragte:
„Sag mal… ist das normal, dass ein Karren beleidigt klingt?“
Nicoletta lachte. „Nur, wenn du ihn ziehst.“
Und so kamen sie schließlich – nicht elegant, aber durchaus triumphierend – mit Karren, Äpfeln und Eintopf am Flüchtlingslager an.
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Am Flüchtlingslager
Das Lager war belebt. Menschen standen in einer improvisierten Schlange, manche mit Kindern, manche mit leeren Blicken, manche mit schiefen Lächeln, die sagten: Wir sind erschöpft, aber wir halten durch, irgendwie.
Und mittendrin: Lyr’sa.
Sie arbeitete konzentriert, ruhig, und die Art, wie sie Schüsseln weitergab, wirkte fast schon meditativ. Es war ihr anzusehen, dass sie der Tätigkeit sehr viel beimaß und sich der Wirkung bewusst war.
Nicoletta winkte ihr zu. „Guten Morgen, Lyr’sa! Wir bringen Nachschub!“
Lyr’sa schaute sogleich zu ihnen, doch sie änderte kaum ihre Haltung. Sie wirkte weder überrascht noch überfordert — nur einen Hauch entspannter, als sie die beiden erkannte.
„Ihr kommt zur rechten Zeit“, sagte sie schlicht.
Kein überschwängliches Willkommen, aber in ihrer Stimme lag eine leise, ehrliche Erleichterung.
„Es sind viele. Und es werden noch mehr.“
Nicoletta zögerte keine Sekunde und hob den Eintopf auf einen der provisorischen Tische und begann damit bei der Ausgabe zu helfen.
Bareti lud einen der Körbe voll Äpfel ab, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich neugierig über die Speisen, die die Dunkelelfen ausgaben.
Der Duft war… interessant. Nicht unangenehm, nur fremd. Ein bisschen wie etwas, das ein Alchemist kocht, der gleichzeitig kochen lernen will und ein besonderes Verhältnis zu kräftigen Kräutern hat.
„Darf ich probieren?“, fragte Bareti.
Lyr’sa nickte.
Sie nahm einen kleinen Löffel, kostete – und blieb höflich.
Sehr höflich.
„Es ist… kräftig“, sagte sie diplomatisch. „Sehr… ausdrucksstark.“
Nicoletta warf ihr einen Seitenblick zu. „Kräftig heißt also‚ du kämpfst innerlich ums Überleben?“
„Nein! Es ist eigentlich gut. Nur… anders. Ich glaube, der menschliche Geschmacksinn unterscheided sich von dem der Drow.“
Sie hielt sich eine Hand an den Bauch. „Und mein Verdauungssystem bittet jetzt schon um eine Auszeit.“
Es war kein Drama, kein Würgen, nur ein höflich-unhöfliches Zusammenzucken – der instinktive Das-ess-ich-jetzt-aber-nur-für-die-Gastfreundschaft-Blick.
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Während Nicoletta bereits Brot und Fische verteilte, sah Bareti erneut auf das drowische Essen.
„Eigentlich könnte ich… etwas tun“, murmelte sie leise zu sich selbst, nicht bedenkend, wie gut die elfischen Ohren arbeiteten.
Lyr’sa hob eine Braue. „Etwas tun?“
„Nur geschmacklich! Ich könnte die Schärfe etwas binden und die Bitterstoffe mildern. Ein paar Tropfen einer milden Absorptionslösung… ein Kräuterpulver… etwas Magie, die kaum der Rede wert ist.“
Lyr’sa überlegte kurz. Dann nickte sie, langsam, bedächtig. „Wenn es den Menschen hilft und bekömmlicher wird – tu es.“
Bareti zog ihren kleinen Gürtelbeutel hervor, öffnete ihn mit der Theatralik einer Bühnenmagierin und holte zwei Phiolen heraus – eine klar und leicht schimmernd, die andere gefüllt mit feinem, goldbraunem Pulver.
„Die hier“, erklärte sie, „nimmt ein bisschen von der Schärfe. Und die hier bindet das Bittere. Danach schmeckt’s einfach runder. Versprochen.“
Nicoletta schnaubte. „‚Runder‘ klingt nach 'ich hoffe, es explodiert nicht'.“
„Ich hab’s dutzende Male benutzt“, entgegnete Bareti und schüttelte das Pulver behutsam ein. „Naja… mindestens fünf mal.“
Nicoletta hob eine Braue. „Fünf?“
„Fünf erfolgreiche.“
Sie mischte die Tropfen ins Essen, rührte sanft, und murmelte ein winziges Wort, das eher wie ein Summen klang. Die Dämpfe wurden weicher, der Geruch milde.
Ein Mann aus der Schlange probierte vorsichtig. Dann nickte er, erstaunt.
„Das ist… richtig gut.“
Bareti strahlte. „Seht ihr? Ein Hauch weniger ... Gewalt, ein Hauch mehr Harmonie.“
Lyr’sa musterte sie. „Du hast Talent.“
„Nein, ich habe ein Trauma. Ich musste meinen eigenen Most jahrelang retten.“
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Als die ersten Portionen verteilt und der erste Andrang bewältigt war, öffnete Nicoletta die Apfelkörbe – und sofort wurden die Kinder aufmerksam. Zwei der Mutigeren liefen zuerst los, dann der Rest. Erwachsene folgten etwas zögerlicher, doch der Duft frischer Äpfel wirkte wie ein Magnet.
„Langsam, langsam! Jeder bekommt einen“, rief Nicoletta lachend, während sie versuchte, die kleinen Hände daran zu hindern, gleich doppelt zuzugreifen.
Bareti lehnte sich kurz an den Karren, sah dem Treiben zu und schmunzelte.
„Weißt du“, sagte sie leise, „eigentlich wollte ich aus denen eine neue Mostladung machen. Ich hab schon seit Wochen keine Zeit mehr dafür.“
Nicoletta reichte einem Jungen einen besonders roten Apfel. „Und jetzt opferst du sie einfach?“
„Opfern?“ Bareti lachte leise. „Nein. Ich setze meine Prioritäten. Der Most läuft mir nicht weg – aber die Leute hier brauchen heute etwas, das gut tut.“
Nicoletta nickte zustimmend. „Und du kannst jederzeit neuen Most ansetzen.“
„Genau“, erwiderte Bareti. „Wenn es ruhiger wird. In… sagen wir… drei bis zwölf Monaten.“
Nicoletta grinste. „Also nie?“
„Also vielleicht.“
Beide lachten – und reichten weiter Äpfel an kleine und große Hände, die sie dankbar entgegennahmen.
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Als der größte Andrang schließlich verebbte, standen die drei Frauen einen Moment lang einfach nur dort – zwischen leeren Schüsseln, erschöpften Flüchtlingen und dem letzten Dampf, der aus dem Eintopfkessel stieg. Alle drei schwitzend, alle drei müde… aber zufrieden.
Bareti rückte sich die Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich seit Beginn der Aktion hartnäckig gelöst hatte.
„Wenn du wieder Hilfe brauchst“, sagte sie leise zu Lyr’sa, „meld dich einfach. Wir sind nur eine Karrenlänge entfernt.“
Lyr’sa sah nicht direkt zu ihr, aber ihr leichtes Nicken wirkte aufrichtig.
„Ihr habt die Arbeit leichter gemacht. Und den Tag besser.“
Nicoletta, die gerade einen letzten Apfelkern in den Abfallbeutel schnippte, lächelte breit.
„Wir kommen gern wieder. Sag einfach Bescheid. Ich bring den Karren, Bareti bringt Magie – und vielleicht sogar noch ein paar Äpfel.“
„Vielleicht“, erwiderte Bareti und sah auf den inzwischen völlig leeren Karren. „Obwohl… wenn ich noch mehr Äpfel weggebe, muss ich mir irgendwann eingestehen, dass mein nächster Most erst in einem halben Jahr entsteht.“
Nicoletta stieß sie sanft mit der Schulter an. „Das nennt man Prioritäten setzen.“
„Ich weiß“, sagte Bareti und strich über die Karrenseite, als würde sie sich bei ihm bedanken. „Und heute waren sie richtig.“
Ein Windstoß wehte über das Lager und brachte die Stimmen der Menschen mit sich, die die Äpfel teilten oder mit milderem Essen lächelnd beisammen saßen.
Bareti atmete tief ein und nickte vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu den anderen.
„Gut“, sagte sie. „Dann lohnt sich der Most auch noch, wenn er später kommt.“
Nicoletta hakte sich bei ihr ein. „Und bis dahin retten wir eben weiter die Welt. Einen Apfel nach dem anderen.“
Lyr’sa hob den Blick, kurz, ruhig.
„Ihr seid willkommen hier“, sagte sie leise.
Und so machten sich die drei schließlich auf den Rückweg – müde, aber mit dem angenehmen Gefühl, etwas Kleines, aber Wichtiges getan zu haben.