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Das Klagelied der zwei Seelen

Verfasst: 03 Aug 2025, 07:13
von Alniira Vrammyr
Das Klagelied der zwei Seelen

Die Nacht im Yew Wald war eine Kathedrale aus Stille und Silber. Der Mond stand hoch, ein makelloses, leuchtendes Auge am Firmament, und sein Licht war kein bloßer Schein, sondern eine greifbare Präsenz. Es floss wie flüssiges Quecksilber durch die Äste der uralten Bäume, malte geisterhafte Muster auf das Moos und verwandelte jeden Tautropfen in einen winzigen, gefangenen Stern.

Die Luft war kühl und roch nach feuchter Erde und dem Versprechen von Tau. Alniira stand in der Mitte der Lichtung, das Schwert locker in der Hand. Die Bedrohung, die am Rande ihres neuen Zuhauses lauerte, war eine kalte, schwere Last in ihrem Herzen. Sie war nicht hier, um Antworten zu finden. Sie war hier, um den Schmerz zu verstehen, der drohte, sie zu zerreißen.

Sie schloss die Augen. Der Tanz begann nicht mit einer Bewegung, sondern mit einem Atemzug, der die kühle, reine Nachtluft tief in ihre Lungen zog. Als sie ausatmete, ließ sie die Welt der Sinne los und tauchte ein in den Raum hinter ihren Lidern, wo die Grenzen zwischen Erinnerung, Gebet und Realität zu verschwimmen begannen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Bild des Waldes. Das Bild des Rudels, das friedlich schläft, ein Knäuel aus Vertrauen und Wärme. Das Bild von Rianons ruhiger Präsenz. Das Bild der Welpen, deren unschuldiges Spiel die reinste Form der Freude war. Eine Welle so tiefer, so schmerzhafter Liebe durchflutete sie, dass es ihr die Kehle zuschnürte.
Alniira hat geschrieben:Einst, als mein Herz nur ein kalter Stein war, hast du mir die erste Wahrheit gezeigt, Herrin. Du hast mir beigebracht, sie zu sehen.
Ihre Bewegungen waren sanft, fast zärtlich, aber von einer unendlichen Traurigkeit durchzogen. Sie führte das Schwert in weiten, schützenden Bögen um sich herum, als würde sie eine unsichtbare, zerbrechliche Kugel aus Licht umarmen, die jeden Moment zu zerbrechen drohte. Jeder Schritt war leise, eine liebkosende Berührung auf dem weichen Moos, ein verzweifelter Versuch, die Schönheit festzuhalten. In ihrer Vision schien das Mondlicht auf ihre Bewegungen zu reagieren. Es wurde zu einem Partner, einem silbernen Schleier, den sie mit ihrer Klinge webte. Der Wolf in ihr, der sonst so unruhig war, legte sich in ihrer Seele nieder, sein Atem war ein tiefes, klagendes Winseln. Er spürte ihre Angst, diese neue, zerbrechliche Welt zu verlieren.
Alniira hat geschrieben:Siehe: Dies ist Schönheit. Und ich weiß nun: Schönheit lebt von Liebe. Davon, dass man sie betrachtet und mit Silbertränen streichelt...
Ihr Tanz wurde zu einem stillen Zwiegespräch mit ihrer Umgebung. Sie verneigte sich vor einem einzelnen Farn, der sich im Mondlicht entrollte, und eine Träne löste sich aus ihrem geschlossenen Auge und fiel auf das Blatt. Ihre Klinge strich sanft über die Oberfläche eines Tautropfens, ohne ihn zu zerteilen, und ließ ihn für einen Moment wie eine gefangene, einsame Seele funkeln.
Alniira hat geschrieben:...ihr mit Kinderzungen schmeichelt und sie wie das eig'ne Leben achtet.
Doch dann, als die Liebe am größten war, schlich sich die Kälte ein. Ein Gedanke an Elashinn. Ein Bild von Lyr'sa, gefangen in ihrer kalten Loyalität. Die Erinnerung an die leeren, toten Augen der Untoten. Der Tanz gefror. Die sanfte, fließende Bewegung zerbrach in tausend Stücke.
Alniira hat geschrieben:Und du hast mir auch die zweite Wahrheit gezeigt. Die Dunkelheit, die noch immer in mir wohnt.
Ihre Bewegungen wurden scharf, eckig, nach innen gekehrt. Sie stieß mit dem Schwert nicht nach außen, sondern in ihre eigene Mitte, stoppte die Klinge nur einen Hauch vor ihrer Brust. Es war der Tanz eines Gefangenen in einer unsichtbaren Zelle. Der Wolf in ihr erwachte mit einem gequälten Aufheulen. Dies war die Welt, die er hasste, die Welt der Lügen und der Angst, die ihn zu einer Bestie gemacht hätte. Das Mondlicht schien kälter zu werden, die Schatten auf der Lichtung wurden zu lauernden, feindseligen Kreaturen, die aus ihrer eigenen Vergangenheit krochen.
Alniira hat geschrieben:Siehe: Dies ist Feigheit. Und ich weiß nun: Feigheit wird durch Angst genährt. Durch Augen, die vor Wahrheit flieh'n und Tränen, die nach innen fließen...
Ihr Tanz wurde zu einer schmerzhaften Pantomime der Einsamkeit. Sie drehte sich von imaginären Freunden weg, stieß helfende Hände fort, ihre Bewegungen voller Abweisung und selbstzerstörerischem Stolz. Der Wolf in ihr riss an seinen Ketten, seine Wut nährte sich an ihrer Verzweiflung. Sie erinnere sich an die Dunkelelfen in Elashin, sah die kalte Drow, die sie hätte werden können, die sie vielleicht noch immer war.
Alniira hat geschrieben:...niemandem den Raum mehr ließen, in dein Leben einzuzieh'n. Denn wer sich selbst den Rücken kehrt, säht Tod in sich und Einsamkeit.
Sie sah die Untoten vor sich, die durch den Wald marschierten. Sie waren die ultimative Konsequenz dieser Wahrheit. Körper, die sich selbst den Rücken gekehrt hatten, Seelen, die den Tod in sich gesät hatten und nun nichts als Tod verbreiteten. Und sie erkannte mit schrecklicher Klarheit, dass ein Teil dieser Leere, dieser Feigheit, noch immer in ihr war.
Alniira hat geschrieben:Und wer diesen Tod in sich trägt... trägt alle nun zu Grabe.
Der Konflikt zerriss sie. Die sanfte Melodie der Schönheit und das harte, kalte Klirren der Feigheit. Der friedliche Wolf und die wütende Bestie. Der Tanz wurde zu einem chaotischen, verzweifelten Kampf. Sie schlug um sich, wehrte unsichtbare Angriffe ab und griff sich gleichzeitig selbst an. Sie war gefangen zwischen den beiden Wahrheiten, unfähig, eine zu wählen.

Doch dann, am Rande des Zusammenbruchs, fand sie einen Anker. Die Lehre ihrer Göttin. Sie würde die Schönheit nicht aus Furcht zerstören. Sie würde kämpfen. Aber nicht aus Hass. Sondern aus Liebe. Und Liebe war Schmerz.

Langsam, mit einer unendlichen Anstrengung, die mehr geistig als körperlich war, begann sie, die beiden Tänze zu vereinen. Die sanften, schützenden Bögen der Schönheit vermischten sich mit den scharfen, präzisen Stößen des Kampfes. Die Kraft des Wolfes war nicht länger blinde Wut, sondern der Treibstoff für die tödliche Anmut einer Dunkelelfe. Das Mondlicht schien diese Entscheidung zu spüren. Es floss nicht mehr nur um sie herum. Es strömte auf sie herab, hüllte sie in eine Säule aus reinem, pulsierendem Silber. Die Grenze zwischen Realität und Vision löste sich vollständig auf.

Auf dem Höhepunkt dieser Vereinigung, als sie eins war mit der Klinge, dem Mondlicht, der Drow und dem Wolf, warf sie den Kopf zurück.
Ihre Lippen öffneten sich, und ein Schrei brach aus ihr hervor. Er begann als der klare, scharfe Kampfschrei einer Drow, eine Kriegserklärung an die Finsternis. Doch auf halbem Weg wurde er von einer tieferen, wilderen Kraft gekapert. Er schwoll an zu dem rohen, ungefilterten Heulen eines Wolfes, ein markerschütternder Laut, der von den alten Bäumen des Yew Waldes widerhallte. Die beiden Klänge verschmolzen zu einem einzigen, untrennbaren Ausdruck ihrer gesamten Seele. Es war ein Heulen der Trauer um das verlorene Leben, ein Heulen der Wut gegen den marschierenden Tod, und ein Heulen der wilden, unerschütterlichen Liebe für die Welt, die sie nun beschützen würde.

So plötzlich wie er begonnen hatte, endete der Schrei. Eine absolute, friedliche Stille senkte sich über die Lichtung. Alniira stand da, das Schwert locker in der Hand, ihr Atem kam in weißen Wolken. Sie war erschöpft, aber sie war in ihren innersten Vereint mit dem Wolf.

Und sie war bereit...

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 03 Aug 2025, 21:04
von Alniira Vrammyr
Die Nacht war still. Alniira saß im Schneidersitz in der Mitte einer kleinen Lichtung, durchströmt von gleißendem, fast greifbarem Mondlicht. Ihr Körper war eine Statue der Ruhe – eine dunkle Silhouette vor dem silbernen Glanz des Grases. Ihre Augen geschlossen, der Atem ruhig und tief. Doch hinter den Lidern, in jenem inneren Raum der Stille, tobte ein Sturm.

Sie hatte sich vom Rudel gelöst – jener warmen, atmenden Masse aus schlafendem Fell und Vertrauen –, um diesem Sturm zu begegnen. Nicht mit ihren Füßen, sondern mit ihrer Seele. Um die Antworten zu finden, verborgen in der Stille ihres Herzens, so tief und kalt wie Erz in einem Berg.

Es war der Tanz einer Mutter, die über die Wiege ihres Kindes wacht, ein Tanz voller leiser, flehentlicher Bitten, die keine Stimme brauchten. Ihr imaginäres Schwert, das sie aus reiner Gewohnheit an ihrer Seite spürte, blieb unberührt. Eine Waffe hatte in diesem heiligen, zerbrechlichen Raum nichts zu suchen.
Alniira hat geschrieben:Das ist alles, was ich habe. Alles, was ich je wollte. Es ist so wenig und doch die ganze Welt. Wie kann etwas so Kostbares so zerbrechlich sein? Wie kann ein ganzes Universum aus Liebe und Frieden an einem einzigen, dünnen Faden hängen?
Doch der Faden zitterte. Die Gefahr, die stille Fäulnis, die am Rande des Waldes lauerte, war eine unsichtbare Kraft, ein kalter Hauch, der an ihm zerrte. Sie spürte, wie ihre schützenden Gesten ins Leere liefen. Ihre sanften Bewegungen waren nutzlos gegen eine Bedrohung, die keine Gnade kannte, die keine Bitten hörte.
Die Angst in ihr wich einer kalten, schrecklichen Erkenntnis, die sich wie Eiswasser in ihre Adern ergoss. Sie war machtlos. Ihre Liebe, so tief sie auch war, war kein Schild. Ihre Wachsamkeit war kein Wall. Der Faden würde reißen.
Alniira hat geschrieben:Ich kann es nicht beschützen, indem ich es verstecke. Ich kann es nicht bewahren, indem ich darum bete. Dieser seidene Faden... er wird reißen, wenn ich ihn nicht mit Stahl verstärke. Wenn ich ihn nicht mit meinem eigenen Blut salbe.
Der Tanz veränderte sich. Die sanften, weichen Bewegungen zerbrachen. Die Hände, die eben noch zärtlich um die Bilder gefleht hatten, ballten sich zu Fäusten.
Eine neue Energie durchfuhr ihren Körper, eine Energie, die aus den, dunkelsten Ecken ihrer Drow-Vergangenheit stammte. Die kalte, pragmatische Logik von Elashinn, die sie so sehr verabscheute, war in diesem Moment ihre einzige Rettung.

Sie zog ihr imaginäres Schwert. Seine Klinge war nicht kalt, sondern glühte mit der weißen Hitze ihrer aufkeimenden Entschlossenheit.
Ihr Tanz war nicht länger defensiv. Er wurde zu einem Angriff. Nicht gegen die Bilder, sondern für sie.
Jeder Hieb, jede Parade war ein Versprechen. Ein Schwur. Ihre Bewegungen waren nun nicht mehr die einer Mutter, sondern die einer Wächterin. Einer Kriegerin.

Die sanften Kurven ihres Tanzes wurden zu harten, unnachgiebigen Linien. Die fließenden Übergänge zu schnellen, tödlichen Positionen. Sie verstand, dass sie all das, was sie liebte, nur behalten durfte, wenn sie bereit war, dafür zu kämpfen. Wenn sie bereit war, die Dunkelheit in sich selbst nicht zu verleugnen, sondern sie als Waffe für das Licht einzusetzen.

Die Vision endete. Sie saß noch immer regungslos auf der Lichtung, doch der Sturm in ihr hatte sich gelegt. Zurück blieb eine schwere, aber klare Stille. Der Frieden war vorbei. Der Kampf hatte begonnen.

Die Erkenntnis aus der ersten Vision war wie ein kalter, harter Kern in Alniiras Brust. Die Akzeptanz des Kampfes hatte eine Tür geöffnet, doch dahinter lauerte ein älterer, ungelöster Konflikt, ein Krieg, der schon tobte, lange bevor sie Elashinn verlassen hatte. Kaum hatte sich der Nebel der ersten Vision gelichtet, verdunkelte er sich erneut, diesmal zu einem stürmischen, unheilvollen Grau, das nach Ruß und vergossenem Blut roch.

Die Entschlossenheit, für ihre neue Welt zu kämpfen, war da, aber die Frage blieb: Wer würde diesen Kampf führen? Die Dunkelelfe? Oder der Wolf?

Ein neuer Tänzer betrat die Bühne ihrer Vision. Er manifestierte sich nicht langsam, er explodierte aus ihrer eigenen aufgestauten Wut und ihrem tief vergrabenen Schmerz hervor.

Ein großer, schwarzer Wolf, dessen Augen nicht wie Bernstein leuchteten, sondern wie glühende Kohlen in einem sterbenden Feuer brannten. Sein Fell war nicht weich, sondern glich einem Mantel aus Eisenspänen, gesträubt und scharfkantig und verschluckte jedes Licht. Die Lefzen waren hochgezogen, um Reißzähne zu entblößen, die wie Obsidiansplitter glänzten, und aus seiner Kehle stieg ein tiefes, vibrierendes Knurren, das nicht von Wut, sondern von reinem, seelischem Schmerz zu künden schien. Er war die Verkörperung all des Hasses, den sie in Elashinn angesammelt hatte, all des Schmerzes, den sie erlitten hatte, all der Male, die sie sich selbst verleugnen musste, um zu überleben.

Ihr Tanz wurde zu einem erbitterten Duett des Hasses. Es gab keine Musik, nur das imaginäre Kreischen von Stahl auf Klauen und das Knurren zweier verletzter Seelen, die im selben Körper gefangen waren, ein Trommelfeuer aus Emotionen.

Sie kämpften gegeneinander, ein Wirbel aus Schatten und Silber, und die neblige Landschaft ihrer Vision reagierte auf ihren Konflikt. Der Boden unter ihren Füßen bekam Risse, und die Luft wurde so kalt, dass ihr Atem in sichtbaren Wolken gefror.
Die Drow in ihr war schnell, präzise, tödlich. Jeder Stoß ihres Schwertes war eine kalte, berechnende Bewegung, die auf eine Schwachstelle zielte – die Kehle, die Flanke, die Augen. Jede Parade war ein Meisterwerk der Verteidigung, eine eiserne Wand aus Disziplin und Training. Sie tanzte die Lehren von Elashinn, die Lehren der Effizienz, der Gnadenlosigkeit.

Doch der Wolf war stärker, unvorhersehbarer, eine Naturgewalt. Er wich nicht aus, er prallte gegen ihre Klinge, seine schiere, verzweifelte Kraft ließ ihre Arme erzittern und den Stahl singen. Seine Klauen rissen tiefe, brennende Furchen in ihre Haut, und sie spürte jeden Kratzer wie einen physischen Schmerz. Er kämpfte nicht mit Technik, sondern mit dem ganzen Gewicht seiner gequälten Seele.

Es war ein sinnloser, grausamer Krieg. Mit jedem Schlag, den sie dem Wolf versetzte, spürte sie den dumpfen, brechenden Schmerz in ihren eigenen Gliedern. Mit jedem Mal, wenn seine Klauen sie trafen, blutete ihre eigene Seele. Sie waren gefangen in einem endlosen, qualvollen Kreislauf der Selbstzerstörung, unfähig zu gewinnen, unfähig zu fliehen, dazu verdammt, sich gegenseitig zu zerreißen, bis nichts mehr übrig war.
Alniira hat geschrieben:Warum kämpfst du gegen mich? Ich bin nicht dein Feind! Ich will uns beide nur beschützen!
Das Knurren des Wolfes war ihre Antwort, ein Gedanke, der so klar und scharf war wie ein Mondsplitter in ihrem Herzen.
Der Wolf in ihr hat geschrieben:Du bist mein Käfig! Du bist die Kette, die mich bindet! Du willst mich zähmen, mich zu einem Werkzeug machen, so wie sie dich zu einem Werkleug gemacht haben! Du hasst meine Freiheit, weil du deine eigene fürchtest!
Erschöpft, am Ende ihrer Kräfte, stolperte Alniira zurück. Ihr Atem ging stoßweise, ihr visionärer Körper war mit Wunden übersät, die nicht heilten. Sie ließ ihr Schwert sinken. Die Spitze kratzte mit einem schmerzvollen Geräusch über den rissigen, nebligen Boden. Der Kampf war vorbei. Sie hatte verloren. Er hatte verloren. Sie hatten beide verloren.

Die Stille nach dem Kampf war lauter als jeder Schrei. Alniira stand da, die Schultern gebeugt, das Schwert eine nutzlose Last in ihrer Hand. Der Wolf ihr gegenüber hechelte, sein Körper zitterte vor Erschöpfung und aufgestauter Wut, doch das Feuer in seinen Augen war zu einer unsicheren, fragenden Glut verglommen. Sie sahen sich an, nicht mehr als Feinde, sondern als zwei Überlebende auf einem Schlachtfeld, das sie selbst geschaffen hatten.

Langsam, mit einer Anstrengung, die größer war als jeder Kampf zuvor, ließ Alniira ihr Schwert fallen. Es klirrte auf dem unsichtbaren Boden, ein Geräusch der endgültigen Kapitulation. Sie stand einfach nur da, verwundbar, die Arme leer an ihren Seiten, ihre Brust bebte von der Anstrengung. Sie war keine Kriegerin mehr, keine Drow, keine Schmiedin. Nur eine Seele, die nackt und zerbrochen vor ihrem eigenen Spiegelbild stand.

Anstatt den Todesstoß zu führen, hielt auch der Wolf inne, sichtlich verwirrt von der plötzlichen Stille, von dieser unerwarteten Geste der Wehrlosigkeit.

Langsam, zögerlich, streckte sie ihre leere Hand aus. Es war keine Geste der Unterwerfung. Es war eine Einladung. Eine Bitte. Sie kämpfte nicht mehr gegen ihn. Sie öffnete sich ihm.
Sie ließ die Bilder aus der ersten Vision wieder aufleben. Die schlafenden Welpen, ein unschuldiges Knäuel aus Fell und Vertrauen. Den stillen Wald, dessen Duft sie beide liebten. Rianon, dessen stille Stärke sie beide spürten. Die Bilder hingen noch immer an ihrem seidenen Faden, zitternd und zerbrechlich, aber diesmal schwebten sie zwischen ihr und dem Wolf. Sie zeigte sie ihm, nicht als etwas, das sie besaß, sondern als etwas, das sie beide liebten, als den wahren Grund ihres Schmerzes und ihrer Angst.
Alniira hat geschrieben:Sieh hin. Das ist nicht mein Kampf. Das ist unser Kampf. Dein Zorn... deine ungezügelte Wut... sie kommt aus der Angst, all das zu verlieren. Genau wie meine. Richte sie nicht gegen mich. Richte sie gegen jene, die unsere Welt bedrohen.
Ihre Stimme war nur ein Flüstern, aber es hallte in der Stille wider.
Alniira hat geschrieben:Deine Stärke ist keine Schande. Sie ist ein Geschenk. Deine Wildheit ist keine Schwäche. Sie ist Wahrheit. Ich will dich nicht zähmen. Ich will dich befreien. Aber ich kann es nicht ohne dich. Lass uns gemeinsam jagen. Nicht als Herrin und Bestie. Sondern als ein Rudel. Als eine Seele.
Sie lehrte dem Wolf nicht die Liebe, sie erinnerte ihn an die Liebe, die er bereits in sich trug. Sie zeigte ihm, dass seine wilde Kraft nicht nur Zerstörung, sondern auch Schutz bedeuten konnte.
Der Wolf senkte langsam den Kopf. Das Glimmen in seinen Augen erlosch und wich einem tiefen, verständnisvollen, fast melancholischen Leuchten. Er trat näher, zögerlich, jeder Schritt eine Frage. In der Vision legte er seine große, raue Schnauze in ihre ausgestreckte Hand.
Der Wolf in ihr hat geschrieben:Entfessel mich gegen unsere Feinde, ich werde über die Erde wandeln und mein Hunger wird keine Grenzen kennen

Alniira spürte den Kontakt nicht nur auf ihrer Haut. Sie spürte ihn in ihrer Seele. Es war nicht nur die Berührung von Fell, sondern ein Strom aus roher, lebendiger Energie, aus Wildheit, aus geteiltem Schmerz und aufkeimender Hoffnung.
Und in diesem Moment verschmolzen sie. Der getrennte Wolf löste sich nicht auf, er floss in sie zurück, füllte die leeren, kalten Stellen in ihrer Seele mit seiner wilden, ehrlichen Wärme. Es war keine Absorption, sondern eine Wiedervereinigung. Die scharfen Kanten ihrer beiden Naturen schliffen sich aneinander ab, bis sie perfekt ineinanderpassten.
Ihr Tanz war nun einer. Die Anmut der Drow, angetrieben von der unbändigen, aber nun fokussierten Kraft des Wolfes. Sie war nicht länger ein Wesen, das aus zwei Hälften bestand. Sie war ganz.

Die Vereinigung von Drow und Wolf war wie das letzte, perfekte Zusammenspiel von Feuer und Stahl in der Esse. Die Hitze der Wut und die Kälte der Disziplin waren zu einer neuen, unzerbrechlichen Legierung verschmolzen, stärker und schöner als jeder Teil für sich allein.

Als die beiden Hälften ihrer Seele eins wurden, wurde das Licht in ihrer Vision blendend. Der graue, stürmische Nebel lichtete sich, löste sich auf wie Morgennebel in der Sonne und enthüllte eine neue, atemberaubende Landschaft.

Sie tanzte nun auf einer Lichtung aus purem, festem Mondlicht. Der Boden unter ihren Füßen war ein Teppich aus gewebten Sternen, die bei jeder ihrer Berührungen sanft pulsierten. Die Bäume um sie herum waren Säulen aus schimmerndem, silbernem Licht, deren Äste sich zu einem unendlichen, leuchtenden Gewölbe verschlangen. Die Luft war erfüllt von einer stillen, unerhörten Musik, einer Harmonie, die nicht von Instrumenten, sondern von der reinen Essenz der Freude und des Friedens gespielt wurde. Dies war kein Wald mehr. Es war eine Kathedrale.

Eilistraee war da. Nicht als Tänzerin, die ihr den Weg wies, nicht als Lehrerin, die sie unterrichtete. Nur als eine stille, allumfassende, liebevolle Präsenz. Sie war das Licht, das sie umgab. Sie war die Musik, die sie hörte. Sie war der Boden, auf dem sie tanzte. Sie war die Luft, die sie atmete.

Der Tanz selbst veränderte sich ein letztes Mal. Er war nicht mehr von Angst oder von Wut geprägt. Er war ein reines, wortloses Gebet der Dankbarkeit, ein Ausdruck, der so tief war, dass er nur durch Bewegung vermittelt werden konnte. Tränen strömten über ihre Wangen, aber es waren keine Tränen der Trauer oder des Schmerzes. Es waren Tränen der Erlösung, der Heimkehr.

Jede Drehung war ein Dank für einen Tag im Wald. Jeder Sprung, angetrieben von der Kraft des Wolfes, war ein Dank für die Freude, die sie mit den Welpen geteilt hatte. Jeder Schwung ihres Schwertes, geführt von der Präzision der Drow, war ein Dank für die Stärke, die sie in sich gefunden hatte.

Sie tanzte die Erinnerung an die Dunkelheit, aber nun ohne Furcht. Sie umarmte die Schatten als Teil ihrer selbst, als den Kontrast, der das Licht erst so strahlend machte. Sie tanzte die Erinnerung an den Schmerz, aber nun ohne Bitterkeit. Sie erkannte ihn als den Hammer an, der ihre Seele geschmiedet hatte, der sie hart und widerstandsfähig gemacht hatte.
Alniira hat geschrieben:Ich danke dir für die Freiheit. Ich danke dir für die Liebe. Ich danke dir für die Familie. Aber am meisten danke ich dir für die Narben. Denn ohne sie wüsste ich nicht, was Heilung bedeutet.
Ihre Bewegungen waren ein Fest. Ein Fest der Sinne, die ihr zurückgegeben worden waren. Sie tanzte den Duft von feuchter Erde, die Wärme des Wolfsfells, den Anblick des Mondes. Sie war nicht länger eine Beobachterin in der Welt, sie war die Welt. Sie war das Blatt im Wind, der Tropfen im Regen, die Note in der unendlichen Symphonie.
Der Tanz war eine reine, unverfälschte Ekstase. Sie lachte, ein klares, helles Geräusch, das sich mit der stillen Musik ihrer Vision vermischte. Sie war nicht länger eine Drow oder ein Wolf. Sie war einfach nur Alniira. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war das genug.

Die Ekstase des Tanzes, die überschäumende Freude der Wiedergeburt, begann langsam abzuflauen. Sie wich nicht der Leere, sondern einer tieferen, ruhigeren Strömung. Die laute, fröhliche Musik in ihrer Vision wurde leiser, verwandelte sich in eine sanfte, meditative Melodie. Der Tanz der Feier wurde zu einem Tanz des Verstehens.

Ihre Bewegungen verlangsamten sich. Jeder Schritt war nun bedächtig, jede Geste erfüllt von einer neuen, tiefen Bedeutung. Die Dankbarkeit für die Gaben – Freiheit, Liebe, Familie – war noch immer da, aber sie wurde überlagert von einer noch größeren Dankbarkeit. Der Dankbarkeit für die Weisheit, die hinter all diesen Gaben stand.

Sie verstand nun, dass Eilistraee ihr den Frieden nicht geschenkt hatte. Eine Göttin konnte keinen Frieden schenken, der von Dauer war. Das wäre nur eine andere Form der Abhängigkeit, eine andere Art von Kette. Stattdessen hatte sie ihr die Werkzeuge gegeben – den Hammer und den Amboss, das Feuer und den Stahl – und ihr beigebracht, wie sie den Frieden in der Esse ihrer eigenen Seele schmieden konnte.
Alniira hat geschrieben:Du hast mich nicht gerettet. Du hast mir nicht befohlen, was ich tun soll. Du hast mir nur geholfen, mich selbst zu verstehen. Du hast mir geholfen, die Drow und den Wolf nicht als Feinde zu sehen, die versöhnt werden müssen, sondern als Teile eines Ganzen. Als zwei Seiten derselben Klinge.
In ihrer Vision betrachtete sie ihre Hände. Die eine war die Hand der Schmiedin, voller Schwielen und Präzision, fähig, Stahl zu formen und Runen zu ätzen. Die andere war die Pfote des Wolfes, voller wilder Kraft und unfehlbarem Instinkt, fähig, zu jagen und zu schützen.

Sie waren nicht länger im Widerspruch. Sie gehörten zusammen. Die eine war der Stahl, die andere das Feuer. Beide waren nötig für eine starke, wahre Klinge.

Ihr Tanz war nun vollkommen im Einklang. Die Kraft des Wolfes, die Präzision der Schmiedin, die Anmut der Tänzerin und die Liebe der Frau verschmolzen zu einer einzigen, harmonischen Bewegung. Sie war nicht länger zerrissen. Sie war im Einklang.
Alniira hat geschrieben:Ich danke dir, dass du immer an meiner Seite stehst. Nicht vor mir, um mich zu führen, nicht hinter mir, um mich zu stoßen. Sondern neben mir. In mir. Als Freundin. Als Schwester. Als Teil meines eigenen Herzens. Du bist nicht nur die Göttin, zu der ich bete. Du bist die Weisheit, mit der ich denke, und die Liebe, mit der ich fühle.
Der Tanz verlangsamte sich, wurde sanfter, bis er in einer einzigen, ruhigen Pose endete. Das Schwert vor ihr, die Spitze zum Himmel gerichtet, eine Brücke zwischen der Erde und dem Mond, zwischen ihrer sterblichen Seele und der unendlichen Präsenz der Göttin. Es war kein Flehen mehr, keine Frage. Es war eine Feststellung. Eine Verbindung.

Die Vision verblasste langsam, sanft wie ein Sonnenuntergang, und ließ sie allein mit der Stille der Nacht.

Alniira öffnete ihre Augen. Sie saß noch immer im Schneidersitz auf der Lichtung im Yew Wald. Der Mond schien auf ihr Gesicht, und sie spürte die kühlen Spuren getrockneter Tränen auf ihren Wangen. In ihrem Herzen war kein Sturm mehr. Nur eine tiefe, unerschütterliche, friedliche Stille. Sie war bereit.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 11 Aug 2025, 14:24
von Alniira Vrammyr
Sein Name war ein Heulen in der Nacht, ein Knurren im Angesicht der Gefahr und die Stille eines wachsamen Blicks. Er war der alte Wolf, und dieser Wald war sein Königreich. Er kannte jeden Pfad, jeden Geruch, jedes Lied, das die Bäume in den Nächten sangen. Doch eines Tages trug das leise Murmeln des Waldes eine neue Melodie an sein Ohr, eine, die er noch nie zuvor gehört hatte.

Es war ein Geruch von kaltem Stein, von Mondlicht und von einer tiefen, verborgenen Trauer. Er war fremd und doch seltsam vertraut. Er sprach von einer Seele, die so wild und zerrissen war wie die seinige. Der Wald, sein alter Freund, schien ihm zuzuflüstern, dass sich etwas verändert hatte, dass ein neues Schicksal in sein Revier getragen worden war. Und so folgte der alte Wolf dem Weg, den der Wald ihm wies.

An der Lichtung eines Waldes, ganz alleine, saß eine Dunkelelfe

Er fand sie auf einer kleinen Lichtung, die der Mond liebte. Sie saß da, allein, eine dunkle Silhouette in einem Meer aus Silber. Sie war keine Jägerin, die auf Beute lauerte. Sie war eine Suchende, die auf ein Zeichen wartete. In den folgenden Nächten beobachtete er sie aus der Ferne. Er sah ihre seltsamen Tänze, mal voller Wut, mal voller unendlicher Traurigkeit. Sie tanzte mit einer Klinge, die leuchtete wie ein gefangener Stern, und ihr Körper erzählte eine Geschichte von Schmerz und Hoffnung, die der alte Wolf in seiner langen Lebenszeit noch nie gesehen hatte. Sie war nicht wie die anderen Zweibeiner. Sie war allein. Und in ihrer Einsamkeit erkannte er seine eigene.

Weiter zog das Mädchen leise und der Wolf folgte

Eines Nachts war es nicht der Ruf des Waldes, der ihn trieb, sondern die Neugier. Der alte Wolf trat aus dem Schatten der Bäume, langsam, ohne jede Aggression. Die Dunkelelfe erstarrte, ihre Hand am Griff ihrer leuchtenden Klinge. Doch in seinen Augen sah sie keinen Feind. Sie sah einen anderen einsamen Jäger. Von diesem Tag an begannen sie, denselben Pfad zu teilen. Manchmal folgte sie ihm, wenn er die Grenzen seines Reviers absuchte. Manchmal folgte er ihr, wenn sie zu ihrer Lichtung ging, um mit den Schatten zu tanzen. Sie sprachen nicht die gleiche Sprache, aber sie verstanden sich.

Wie die Zeit so vergingen, wuchs die Freundschaft

Die Jahreszeiten kamen und gingen wie die Phasen des Mondes. Aus der fremden Dunkelelfe wurde Alniira. Aus dem stillen Beobachter wurde der alte Wolf ihr Gefährte. Sie wurde Teil des Rudels, eine seltsame, zweibeinige Schwester für seine Kinder. Die Welpen liebten sie, kletterten über sie und spürten die wilde, aber sanfte Seele, die in ihr wohnte. Ihre Tänze waren nicht mehr nur von Schmerz erfüllt. Sie tanzten nun von der Freude der Jagd, von der Wärme des Rudels, von der Schönheit des Mondlichts. Sie war nicht länger allein, und das Rudel war es auch nicht.

In deine Hand ward mein Schicksal gelegt

Er war ein alter Wolf. Er spürte es nun in seinen Knochen, wenn der kalte Morgenwind biss, und in der Müdigkeit seiner Glieder nach einer langen Jagd. Aber wenn er sie heute ansah, wie sie mit den Jungen im Gras tollte, oder wie sie in der Nacht tanzte, ihr Gesicht zum Mond erhoben, dann wusste er, dass ihr Schicksal und das seines Rudels nun untrennbar miteinander verwoben waren. Sie hatte ihnen ihre Stärke gegeben, und sie hatten ihr eine Familie gegeben.

Er sah auch Rianon, den stillen Elf, der nun ebenfalls ein Wolf war. Er beobachtete, wie Rianon das Rudel mit einer ruhigen, unerschütterlichen Stärke führte, die ihn an seine eigene Jugend erinnerte. Der alte Wolf wusste, dass sein eigener Pfad sich dem Ende zuneigte, doch er war nicht mehr besorgt. Sein Rudel hatte eine Zukunft. Es hatte Alniira, deren Tänze die Seele des Mondes waren, und es hatte Rianon, der die Kraft besaß, sie alle zu führen. Wenn seine Zeit gekommen war, würde er in Frieden gehen, in dem Wissen, dass der Wald ihre Geschichte weitererzählen würde. Die Geschichte des Mädchens, des Elfen und des alten Wolfs.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 11 Aug 2025, 19:10
von Alniira Vrammyr
Die Luft im Lager des Rudels war schwer und still. Die sonst so lebhafte Energie, das spielerische Knurren der Welpen und das unruhige Tapsen der Jäger waren einer tiefen, ehrfürchtigen Ruhe gewichen. Im Zentrum der Lichtung, auf einem weichen Bett aus Moos und Blättern, lag der alte Wolf. Sein Atem war flach, eine kaum sichtbare Bewegung seiner grauen Flanken, und seine Augen, einst scharfe, bernsteinfarbene Seen der Autorität, waren nun trüb und blickten in eine ferne, unsichtbare Welt.

Das gesamte Rudel war versammelt, ein stiller, wachsamer Kreis aus Fell und Sorge. Sie wussten es. Der Wald selbst schien den Atem anzuhalten.

Rianon kniete neben dem alten Wolf, seine Hand ruhte sanft auf dem dichten Fell des Nackens. Er sprach nicht, aber seine Berührung war eine Sprache für sich. Sie sprach von Respekt, von Dankbarkeit und von einem tiefen, ruhigen Verständnis. Er strich über die alten Narben, die von unzähligen Kämpfen und Jagden zeugten, und versuchte, dem sterbenden Jäger mit seiner ruhigen Präsenz die letzten Schmerzen zu nehmen.

Der alte Wolf spürte die Berührung. Er war nicht traurig. Eine tiefe, knochenzermürbende Müdigkeit lag auf ihm, aber keine Angst. Er blickte zu Rianon auf, und in seinen trüben Augen lag eine klare Botschaft: Es ist gut so. Das Rudel ist bei dir in Sicherheit. Er hatte seine Zeit gehabt, er hatte sein Rudel stark und weise geführt. Nun war es Zeit, den Pfad freizumachen. Mit einer letzten, schwachen Bewegung stupste er Rianons Hand mit seiner Nase an. Die Fackel war übergeben.

Auf der anderen Seite saß Alniira, die Beine untergeschlagen, die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Sie war in ihrer Drow-Gestalt, verletzlich und doch stark in ihrer Trauer. Tränen liefen lautlos über ihre Wangen, aber ihr Gesicht war ruhig und konzentriert. Sie schloss die Augen und sandte ein stilles Gebet zu ihrer Göttin, nicht um ein Wunder, sondern um Gnade. Sie bat um einen sanften Übergang für die wilde Seele, um einen Pfad ohne Schmerz in das große Jenseits des Waldes.

Und dann begann sie zu singen.

Ihre Stimme war zuerst nur ein leises, zitterndes Flüstern, eine Melodie, die so sanft war wie fallendes Laub. Es war kein Klagelied, sondern ein Ruf. Ein Lied für den Jäger, der nach Hause ging.

Höre, alter Jäger... der Wald ruft deinen Namen.
Die Sterne leuchten dir den Pfad...
Der Mond ist deine stille Wacht.

Ihre Stimme wurde fester, getragen von einer tiefen, ehrlichen Liebe für das Wesen, das ihr eine Familie geschenkt hatte. Das Lied webte sich durch die Stille, eine Decke aus Trost für das trauernde Rudel. Es war kein Lied aus Worten, sondern aus Gefühlen, ein Ruf, der von Seele zu Seele sprach.

Deine Jagd ist nun zu Ende...
Dein Herz schlägt in uns weiter.
Geh in Frieden, alter Bruder...
Deine Seele ist nun frei.

Der alte Wolf schloss die Augen. Der Schmerz schien nachzulassen, ersetzt durch die sanfte, ursprüngliche Melodie, die ihn umhüllte. Er hörte nicht nur Alniiras Stimme. Er hörte das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches, das Heulen seiner Ahnen im Wind.

Wir heulen deinen Namen in die Nacht...
Ein Lied, das niemals enden wird.
Dein Geist läuft mit uns... bis ans Ende aller Zeit.

Als der letzte Ton des Rufes verklang, atmete der alte Wolf ein letztes Mal aus. Es war kein Ringen, kein Kampf. Es war ein leises, friedliches Loslassen. Eine Stille senkte sich über die Lichtung, so tief und absolut, dass man den Herzschlag des Waldes selbst zu hören glaubte.

Alniira beendete ihr Lied. Rianon senkte den Kopf. Und dann, wie auf ein unsichtbares Kommando, hob Koda, der junge, hitzige Wolf, seine Schnauze zum Mond und stieß ein langes, klares, melancholisches Heulen aus. Es war kein Schrei der Trauer. Es war ein Gruß. Ein Abschied. Ein Versprechen. Einer nach dem anderen stimmte das Rudel mit ein, ihre Stimmen verwoben sich zu einem mächtigen Chor, der durch die Nacht hallte. Ein Lied für den alten Wolf, das ihn auf seinem Weg begleitete und verkündete, dass sein Rudel weiterleben würde.
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Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 12 Aug 2025, 00:50
von Rianon
Der Geruch, den Rianon auf der Lichtung wahrnahm, war feucht von Erde, alt von Moos, und doch lag darüber eine Schwere, die nichts mit Regen oder Kälte zu tun hatte. Es war die Stille, die alles füllte. Kein Rascheln, kein Pfotenschritt, kein Winseln. Nur das leise, flache Atmen des alten Leitwolfs, der auf dem weichen Bett aus Blättern lag. Rianon kniete an seiner Seite, und seine Hand lag auf dem vertrauten Nacken, dort, wo das Fell dichter und rauer war, wo die Spuren vieler Kämpfe unter der Haut schlummerten. Die Wärme war noch da, aber er konnte fühlen, wie sie leiser wurde, so wie das Licht eines Feuers, das nur noch von der Glut lebt.
Er sprach nicht. Es gab keine Worte, die hier von Bedeutung gewesen wären. Seine Finger strichen über das Fell, folgten den Linien der alten Narben, spürten die Geschichte, die in jedem Atemzug dieses Körpers steckte. Der Alte hatte ihn geführt, ohne je eine Kette anzulegen, hatte ihm seinen Platz gezeigt, nicht durch Befehle, sondern durch die Gewissheit, dass ein Rudel nur so stark ist wie seine Verbundenheit. Rianon wollte diesen letzten Moment nicht mit der Bitterkeit des Verlusts füllen. Er wollte geben, was er konnte – Ruhe. Wärme. Die stille Gewissheit, dass der Alte nicht allein ging.
Als sich die trüben Augen des Leitwolfs zu ihm wandten, war es, als würde ein unsichtbares Band enger gezogen. Da lag keine Furcht, keine Bitte. Nur die klare, unausweichliche Botschaft: Es ist gut so. Das Rudel ist bei dir sicher. Der schwache Stoß der Nase gegen seine Hand war kein Abschied, sondern die Übergabe einer Bürde. Ein letzter, stiller Akt der Führung – und ein unausgesprochenes Vertrauen.
Auf der anderen Seite der Lichtung sah er Alniira sitzen, ihre Beine untergeschlagen, den Kopf gesenkt. Sie war nicht die Wölfin, die sie im Kreis des Rudels geworden war, sondern wieder die Drow, verletzlich und zugleich von einer stillen Stärke umgeben. Tränen glänzten auf ihren Wangen, doch ihre Stimme, als sie zu singen begann, war klar wie das Licht des Mondes auf einem stillen See. Die Melodie legte sich wie weiches Moos über die raue Stille, füllte die Luft mit etwas, das älter war als Sprache – mit einem Ruf, der den Pfad ins Jenseits beleuchtete.
Rianon lauschte, und während der Alte in dieser sanften Umarmung aus Klang und Erinnerung seinen letzten Atemzug nahm, spürte er, wie das Rudel unmerklich näher rückte. Nicht aus Angst, sondern um Teil dieses Augenblicks zu sein. Als der letzte Laut verklang, hob der junge Koda sein Haupt und ließ ein langes, reines Heulen in den Nachthimmel steigen. Einer nach dem anderen folgten sie, und Rianon hob ebenfalls den Kopf, ließ seine Stimme in dieses uralte Lied fließen – ein Lied, das zugleich Abschied und Versprechen war.
Als das Echo des letzten Heulens im Wald verstarb, kehrte die Stille zurück. Aber es war nicht dieselbe schwere Stille wie zuvor. Rianon senkte den Kopf, schloss für einen Augenblick die Augen – und fühlte das Gewicht und die Verantwortung, die nun auf seinen Schultern lag. Das Gewicht eines Rudels. Das Gewicht eines, nein seines Erbes.

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Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 14 Aug 2025, 15:22
von Alniira Vrammyr
Der stille Wald

Die Tage nach dem Tod des alten Wolfs waren still. Es war keine friedliche Stille, sondern eine schwere, erstickende Decke aus Trauer, die sich über das Rudel gelegt hatte.
Die Jagden waren kurz und zweckmäßig, das spielerische Toben der Welpen war einem leisen, unsicheren Umhertapsen gewichen.
Rianon hatte die Rolle des Leitwolfs übernommen, seine Stärke war ein ruhiger Fels in der Brandung des Kummers, doch selbst er konnte die Leere nicht füllen, die der alte Jäger hinterlassen hatte.

Für Alniira war diese Leere ein Abgrund. Der Tod des alten Wolfs hatte nicht nur eine Lücke im Rudel gerissen, sondern auch in ihrer frisch geheilten Seele.
Der Frieden, den sie gefunden zu haben glaubte, die einfache, ehrliche Wahrheit des Waldes – all das schien plötzlich eine grausame Lüge zu sein.

Was nützte die Freiheit, wenn sie in der Endgültigkeit des Todes endete? Was war der Sinn, für eine Welt zu kämpfen, in der alles Schöne und Starke unweigerlich zu Staub zerfiel?
Sie zog sich immer mehr zurück. Die Wärme des Rudels fühlte sich nun fremd an, eine Erinnerung an das, was sie verlieren konnte.

Eines Abends, als der Mond nur eine dünne, zerbrechliche Sichel am Himmel war, verließ sie das Lager und suchte die Einsamkeit.
Ihr Weg führte sie nicht zu ihrer Tanzlichtung, sondern zu einem Ort der Melancholie – einem kleinen, nebligen See, dessen stille, schwarze Oberfläche die Sterne nicht spiegelte, sondern verschluckte.

Sie setzte sich ans Ufer, das feuchte Gras kühlte ihre Haut. Sie zog ihr Schwert nicht.
Sie sang kein Lied. Sie schloss nur die Augen und ließ den Schmerz und den Zweifel aus sich herausfließen, ein stilles, gebrochenes Gebet an eine Göttin, die sich plötzlich unendlich fern anfühlte.
Alniira hat geschrieben:Herrin... Eilistraee... bist du da? Ich spüre dich nicht mehr. Ich spüre nur noch diese... Stille. Diese schreckliche, leere Stille.
Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und bahnte sich einen langsamen Weg über ihre Wange.
Alniira hat geschrieben:Du hast mir die Schönheit gezeigt. Du hast mir die Liebe gezeigt. Du hast mir eine Familie gegeben. Und nun sehe ich, wie all das an einem seidenen Faden hängt, der jederzeit reißen kann. Der alte Wolf... er war so stark, so weise. Er war das Herz dieses Waldes. Und nun ist er fort. Einfach... fort. Was bleibt von all seiner Stärke? Nur eine Erinnerung. Ein Echo. Ist das alles, was wir sind? Echos in einem sterbenden Wald?
Sie zog die Knie an ihren Körper und umschlang sie mit ihren Armen, eine kleine, zitternde Gestalt am Rande der Dunkelheit.
Alniira hat geschrieben:Wofür soll ich kämpfen? Für ein Leben, das morgen schon wieder ausgelöscht sein kann? Für ein Rudel, das ohne seinen Anführer verletzlich ist? Für einen Frieden, der nur eine kurze Pause zwischen zwei Schmerzen ist? Ich... ich verstehe den Sinn nicht mehr. Ich bin geflohen, um zu leben. Aber hier, in dieser Stille, fühlt es sich an, als würde ich nur auf den Tod warten.

Die Stille, die auf ihr gebrochenes Gebet folgte, war absolut. Der Wald schien ihre Verzweiflung zu spiegeln, hielt den Atem an und bot keinen Trost.
Die Göttin, deren Präsenz sie einst so stark gefühlt hatte, war nur noch eine ferne, kalte Erinnerung. Alniira vergrub ihr Gesicht in ihren Knien, eine kleine, verlorene Gestalt am Rande eines Universums aus Schmerz.
Sie war bereit, sich der Leere hinzugeben, sich von der Dunkelheit des Sees verschlucken zu lassen.

Doch dann geschah etwas.

Ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch durchbrach die Stille. Ein sanftes Plopp. Alniira hob langsam den Kopf. Auf der spiegelglatten, schwarzen Oberfläche des Sees, genau in seiner Mitte, bildete sich ein winziger, silberner Ring. Ein einzelner Tautropfen, der von einem überhängenden Ast gefallen war.

Der Ring begann zu wachsen. Langsam, unaufhaltsam breitete er sich aus, eine perfekte, silberne Welle, die über das schwarze Wasser glitt.
Er war die einzige Bewegung in einer erstarrten Welt. Fasziniert, gegen ihren eigenen Willen, beobachtete Alniira, wie die Welle näherkam, ein stilles, unaufhaltsames Echo, das auf sie zusteuerte.

Als der silberne Ring das Ufer zu ihren Füßen berührte, schloss sie die Augen, und die Welt veränderte sich.

Sie saß nicht mehr am See. Sie schwebte in einer sanften, grauen Leere. Vor ihr sah sie den Körper des alten Wolfs, friedlich im Moos liegend.
Sie sah, wie er langsam zu Staub zerfiel, wie der Wind seine Asche aufnahm und sie sanft über den Waldboden verteilte. Es war ein Bild von endgültiger, schmerzhafter Endlichkeit.
Alniira hat geschrieben:Ein Echo... nur ein Echo im Wind...
Doch dann begann der Staub auf dem Boden zu leuchten. Wo die Asche des alten Wolfs die Erde berührte, spross neues Leben. Winzige, leuchtend grüne Moospolster.
Kleine, weiße Pilze, die wie vergessene Sterne aussahen. Ein junger Farn, der sich zaghaft entrollte.
Sein Leben war nicht fort. Es war verwandelt worden. Es war zur Nahrung für den Wald geworden, den er so geliebt hatte.

Die Vision verschob sich. Sie sah Rianon, wie er dem Rudel auf der Jagd ein Zeichen gab.
Seine Bewegung war nicht seine eigene. Es war die exakte, instinktive Geste, die er unzählige Male beim alten Wolf beobachtet hatte.
Sie sah Naya, wie sie einen der Welpen mit einer sanften, aber festen Bewegung zurechtwies, und in ihren Augen lag die gleiche, geduldige Weisheit.
Sie sah Koda, wie er sich schützend vor das Rudel stellte, seine Haltung eine Kopie der unerschütterlichen Stärke seines früheren Anführers.
Alniira hat geschrieben:Er ist nicht nur ein Echo... Er ist das Lied, das sie nun singen...
Die graue Leere um sie herum begann sich mit Licht zu füllen. Ein sanftes, silbernes Licht, das nicht von einer Quelle kam, sondern von überall zugleich.
Sie sah wieder den seidenen Faden, an dem alles hing. Aber diesmal sah sie ihn anders. Er war nicht dünn und zerbrechlich.
Er war ein unendlich langes, leuchtendes Band, das alles miteinander verband.
Der Tod des alten Wolfs hatte den Faden nicht zerrissen. Er hatte ihn nur an einer neuen Stelle in das große Gewebe des Lebens eingewoben.
Alniira hat geschrieben:Es geht nicht darum, den Faden festzuhalten... Es geht darum, Teil des Musters zu sein...
Die Erkenntnis war keine laute Offenbarung. Es war ein leises, tiefes Verstehen, das die Kälte in ihrem Herzen langsam schmelzen ließ.
Der Kampf war nicht sinnlos, weil das Leben vergänglich war.

Der Kampf war sinnvoll, gerade weil das Leben vergänglich war. Es ging nicht darum, für einen ewigen Frieden zu kämpfen, sondern darum, dem Tanz des Lebens eine weitere, schöne Note hinzuzufügen, bevor er unweigerlich endete.

Die Erkenntnis legte sich wie ein wärmender Mantel um Alniiras Seele.
Der Schmerz war nicht verschwunden, aber er hatte seine scharfen Kanten verloren. In der leuchtenden, grauen Leere ihrer Vision, in der sie noch immer schwebte, verblassten die Bilder des Waldes und des Rudels.
Zurück blieb nur sie und das sanfte, silberne Licht, das sie umgab. Als ihre Bewegung in Stille übergeht, ihre Augen waren geschlossen.
Die Welt weicht einer Vision, einem heiligen Raum, den sie mit ihrer Göttin teilt.
Sie steht auf einem Feld aus Silberstaub, und vor ihr manifestiert sich die vertraute, tanzende Silhouette aus reinem Mondlicht – Eilistraee.

Die Stimme der Göttin war sanft wie Musik, eine Melodie, die direkt in Alniiras Seele erklang.
Eilistraee hat geschrieben:Dein Glaube ist stark, Alniira, doch wie ein Schwert kann er stets weiter geschärft werden. Aber du musst verstehen, dies ist kein heiliger Raum, den ich erschaffen habe.
Dies ist dein Geist. Dein Traum. Hier gelten nicht die Regeln der wachen Welt, sondern die Regeln deiner Seele. Hier kannst du alles sein, alles tun, was du dir vorstellst.
Lass uns die Dunkelheit, die du kennst, als Schleifstein benutzen. Präsentiere mir die alten Ängste, und ich werde die Facetten des Mondes darin spiegeln.
Die Lektion begann. Alniira konzentrierte sich, und aus den Schatten ihrer Vergangenheit formte sie mit einer Geste des Gedenkens das Bild einer monströsen Spinne, ein Wesen aus reiner Furcht, dessen viele Augen sie mit der kalten Leere von Elashinn anstarrten.
Alniira hat geschrieben:Wie kann Licht allein die Verkörperung der Angst besiegen?
Als Antwort wurde Eilistraees Form zu reinem, sanftem Mondlicht.
Es griff die Spinne nicht an, es verbrannte sie nicht. Es floss auf sie zu und füllte sie von innen heraus.
Die dunkle Chitinhülle wurde durchsichtig, die knochigen Beine wurden zu filigranen Silberfäden.
Das Monster wurde zu einer leuchtenden, durchsichtigen Skulptur von atemberaubender, zerbrechlicher Schönheit.

Die Lehre war klar: Die Stärke des Mondes liegt nicht darin, die Dunkelheit zu vernichten, sondern sie zu erleuchten und zu füllen, bis ihre Macht gebrochen ist.

Als Nächstes beschwor Alniira einen unaufhaltsamen Golem aus Basalt, ein Symbol für die rohe, geistlose Gewalt des Unterreichs, die alles zermalmt, was sich ihr in den Weg stellt.
Alniira hat geschrieben:Wie kann Anmut einer solchen Wucht widerstehen?
Die Göttin wurde zur sanften, aber ewigen Erosion. Ein feiner, wispernder Wind und ein steter, einzelner Tropfen Wasser begannen, den Golem zu umspielen.
Es war kein Kampf. Es war ein Tanz, der Äonen dauerte. Der Wind glättete die scharfen Kanten, der Tropfen höhlte den Stein aus.
Der Golem wurde nicht gebrochen, er wurde verwandelt. Langsam, über unzählige Zyklen hinweg, formten die sanften Kräfte den massiven Klotz in einen anmutigen, geschwungenen Felsbogen.

Die Lehre war tief: Die Macht des Mondes besiegt rohe Gewalt durch beständige, geduldige Transformation, die Hässlichkeit in Schönheit umwandelt.

Daraufhin ließ Alniira einen Fluss aus schleichendem, schwarzem Gift erscheinen, der alles verdirbt, was er berührt.

Eilistraees Licht veränderte sich, wurde zu einem klaren, katalytischen Glanz. Es tauchte in den giftigen Fluss ein, und wie durch ein Wunder trennte es das Gift vom reinen Wasser.
Das Gift verklumpte, verlor seine flüssige, heimtückische Natur und sank als harmlose, funkelnde Kristalle auf den Grund, während das Wasser klar und rein weiterfloss.

Die Lehre war präzise: Das Licht ist ein aktiver Katalysator, der Reinheit von Korruption trennt, ohne selbst befleckt zu werden.

Die ersten Lektionen hallten in Alniiras Seele wider und wuschen die oberflächlichen Schichten ihrer Angst fort.
Nun war es Zeit, tiefer zu graben, zu den Wunden, die ihre Identität geformt hatten.

Der Schmerz ihrer Vergangenheit manifestierte sich als ein heulender Sturm aus Obsidian-Splittern, jeder Splitter eine scharfkantige Erinnerung an den Verrat, die Lügen und die kalte Grausamkeit der Drow-Gesellschaft.
Der Sturm tobte auf sie zu, eine Wand aus schneidendem Schmerz.
Eilistraee verkörperte nun die stille, unaufhaltsame Anziehungskraft des Mondes.
Sie griff den Sturm nicht an. Sie zog ihn an. Der chaotische Wirbel wurde zu einer sanften, geordneten Spirale, die um sie kreiste.
Über Äonen hinweg rieben die scharfen Klingen der Splitter aneinander, ihre Schärfe wurde zu Staub, ihre Form wurde rund und glatt, bis nur noch ein sanfter Regen aus polierten, harmlosen Kieseln auf den Silberstaub fiel.

Die Lehre war geduldig: Die Kraft des Mondes ist die Geduld der Gezeiten, die den Schmerz nicht bricht, sondern umarmt, bis seine Schärfe vergeht.

Alniira erinnerte sich an die erstickende Herrschaft der Yathrinnen, an die absolute, unhinterfragbare Macht Lloths.
Sie formte ein Gefängnis, gewoben nicht aus Magie, sondern aus dem göttlichen Willen der Spinnengöttin selbst, dessen Fäden aus erzwungenen Gebeten und unerbittlicher Dogmatik bestanden.
Der Käfig schien absolut, unentrinnbar.

Augenblicklich löste sich die Vision der Lichtung auf.
Alniira schwebte in der stillen, unendlichen Weite des Kosmos. Doch sie sah nicht nur Leere.
Sie sah ein Meer aus unzähligen Sternen, jeder ein fernes Licht, jede eine andere Wahrheit, eine andere Gottheit.
Lloths Käfig, der im Unterreich so absolut schien, war hier nur ein winziges, verblassendes Netz inmitten eines Ozeans aus Licht, so unbedeutend wie ein einzelner Faden in einem unendlichen Teppich.

Die Lehre war überwältigend: Die Macht des Mondes ist die kosmische Perspektive und die Anerkennung unzähliger Wahrheiten, die jede einzelne, tyrannische Dogmatik als das entlarvt, was sie ist: begrenzt.

Die ultimative Angst, der Tod, erschien als ein zu Staub zerfallender Leichnam auf dem Silberfeld.
Alniira hat geschrieben:Welche Macht hat der Mond über das Ende?
Eilistraee wurde zum ewigen Zyklus.
Ihr Licht sammelte den Staub, wärmte ihn, nährte ihn. Und wo es den Boden berührte, sprossen unzählige silberne Samen, die zu neuem, pulsierendem Leben heranwuchsen, zu Blumen aus reinem Licht.

Die Lehre war ewig: Der Mond ist der Hüter des Zyklus von Leben, Tod und Wiedergeburt.

Zuletzt stellte Alniira die persönlichste Frage. Sie offenbarte nicht mit Worten, sondern mit einem Gefühl die tiefe, spirituelle Einsamkeit auf ihrem Weg, die Angst, diesen Pfad allein gehen zu müssen.

Als Antwort gab Eilistraee ihre göttliche Form auf. Das Mondlicht manifestierte sich nicht mehr vor ihr, sondern in ihr.
Alniiras Herz begann, im ruhigen, mächtigen Puls der Gezeiten zu schlagen.
Sie spürte die Anziehungskraft der Sterne in ihren Adern und die stille, unerschütterliche Präsenz der Göttin in jedem Winkel ihrer Seele.
Die größte Stärke des Mondes ist es, seine Kraft zu teilen.

Als die Vision verblasste, stand Alniira wieder unter dem Nachthimmel des Yew Waldes.
Sie fühlte sich nicht mehr nur als Gläubige, die zu einem fernen Gott aufblickt.
Sie fühlte sich als Teil eines kosmischen Tanzes – erleuchtet, geduldig, rein und untrennbar mit der Kraft verbunden, die sie verehrte.

Ihr Glaube war nicht mehr nur ein Weg, dem sie folgte; er war eine Kraft, die in ihr lebte.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 25 Aug 2025, 10:08
von Alniira Vrammyr
Die Nacht lag still unter dem klaren Himmel.
Alniira stand auf ihrer Lichtung, das Gesicht zum vollen Mond erhoben, und ließ sein silbernes Licht in sich hineinströmen. Kein Gebet aus Worten, sondern ein stiller Dialog – ein Echo alter Ängste und neu gefundener Wahrheit, das sie ihrer Göttin darbrachte.
Alniira hat geschrieben:Ich blicke zum Mond. Er steigt, er scheint. Und ich erinnere mich – an die Zeit, da ich glaubte, es werde niemals anders sein.
Ihre Gedanken glitten zurück nach Elashinn, in die Nächte des Waldes, als sie allein war und der Mond ihr Feind.
Alniira hat geschrieben:Einst, jedes Mal, wenn der Vollmond kam, veränderte sich die Nacht – und meine Geheimnisse erwachten. Ich dachte, was von mir übrig blieb, durfte nicht gesehen werden. Mein Schatten tanzte in fremder Gestalt. Ich spürte, wie ich entglitt, und klammerte mich verzweifelt, um zu bleiben.
Sie atmete tief die kühle Nachtluft ein. Die Erinnerung trug keine Schärfe mehr. Sie war nur noch eine Narbe – Zeichen einer Schlacht, die überstanden war.
Alniira hat geschrieben:Damals herrschte der Vollmond über mich. Meine Gegenwart zerrann, und Dunkelheit nahm meinen Platz ein. Oh, wie ich fliehen wollte... Ich kämpfte, ich rang, doch seine Wut war zu groß.
Ein leises Lächeln berührte ihre Lippen. Ihre Hände lagen still, sicher.
Alniira hat geschrieben:Ich hörte ihn rufen, immer nach mehr. Ich hielt ihn für eine Bestie, die nur zerstören will. Doch du, Herrin, hast mir gezeigt: Es war unsere gemeinsame Seele, die nach mehr verlangte – mehr als Hass, mehr als Wut. Nichts, was ich tat, brachte mir Macht, bis du mich lehrtest, nicht zu herrschen, sondern zu hören.
Sie hob den Blick wieder zum Mond, und ihre Augen leuchteten in Dankbarkeit. Der Wolf in ihr schwieg nicht. Er war da – wach, ruhig, im Einklang mit ihr.
Alniira hat geschrieben:Und so, wenn heute der Vollmond steigt, verändert sich die Nacht, und meine Wahrheit erwacht. Was zerbrochen war, ist nun ganz. Mein Schatten tanzt in wahrer Gestalt – nicht Drow gegen Wolf, sondern eine Seele. Ich entgleite nicht mehr. Ich entfalte mich.
Sie schloss die Augen. Das Mondlicht auf ihrer Haut fühlte sich an wie die sanfte Hand ihrer Göttin, wie die Berührung einer Schwester.
Alniira hat geschrieben:Der Vollmond beherrscht die Nacht. Doch nicht mehr mich. Er führt. Er klärt. Keine Dunkelheit nimmt meinen Platz ein. Nur deine Stärke, mein Gefährte Wolf. Nur dein Licht, Herrin. Nur unser Frieden.
Doch der Frieden war nicht Ende. Er war Beginn.
Die Kraft des Mondes pulsierte in ihr, ein Versprechen ungezähmter Wildheit. Und sie antwortete – mit ihrer eigenen vollen Macht.

Ein leises Knacken durchbrach die Stille. Kein Schmerz mehr – nur bewusstes Neuanordnen. Ein Schrei brach aus ihr hervor, roh und archaisch, weder Drow noch Wolf, sondern Ursprung selbst.

Ihr Leib barst, dehnte sich, wuchs. Muskeln schwollen, Fell spross grau. Sie richtete sich auf – größer, stärker, eine Gestalt aus reiner Urkraft.

So stand sie in der Pracht ihrer Crinos-Gestalt und hob ihr Gesicht zum Mond. Keine Bestie mehr, die von Wut gejagt wurde – sondern eine Kriegerin, die ihre Natur angenommen hatte.

Ein Avatar des Waldes, dessen Augen mit dem kalten Licht des Mondes und dem heißen Feuer eines unerschütterlichen Willens brannten.

Und dann warf sie den Kopf zurück.

Ein Schrei brach aus ihrer Kehle, der die Stille der Nacht nicht nur durchbrach, sondern sie zerschmetterte. Er begann als klarer, scharfer Kampfschrei einer Drow – eine Klinge aus Klang, geschmiedet in der kalten Disziplin von Elashinn. Doch auf halbem Weg riss ihn eine tiefere, wildere Kraft an sich. Er schwoll an zum rohen, ungefilterten Heulen eines Wolfes, ein Laut, der von den alten Bäumen des Yew Waldes widerhallte. Und die beiden Stimmen verschmolzen zu einer einzigen, untrennbaren Melodie ihrer Seele. Ein Heulen, das nicht nur rief – sondern befahl.

Die Antwort des Waldes war unmittelbar. Die Blätter zitterten, als würde ein Sturm durch sie fahren. Das Zirpen der Grillen verstummte. Und dann, aus der Ferne, erhob sich das tiefe, grollende Heulen von Koda – ein Echo der Loyalität. Darauf das klare, weise Lied von Naya. Schließlich, wie ein aufsteigendes Feuer, stimmte das ganze Rudel ein. Ihre Stimmen verflochten sich zu einem Chor, der die neue, gewaltige Macht in ihrer Mitte anerkannte.

Alniira wartete nicht. Mit einem letzten, donnernden Brüllen stieß sie sich vom Boden ab.

Es war kein leiser, anmutiger Lauf. Es war ein kontrollierter Wahnsinn, eine Explosion aus roher Kraft. Der Boden riss unter ihren Klauen auf, Moos und Erde spritzten auf. Sie raste durch das Unterholz – nicht darum herum. Büsche zerbarsten unter ihrem Ansturm, Äste splitterten an ihren Schultern. Sie war keine Drow mehr, die ihren Weg suchte. Sie war eine Naturgewalt, die ihren eigenen Pfad schuf.

Die Welt verschwamm um sie herum. Ein Tunnel aus Grün und Silber raste vorbei. Ihre Sicht getränkt in ein tiefes, pulsierendes Rot – die Farbe von Blut, Leben, Wut. Alles Bewegung. Alles Geschwindigkeit. Und doch, im Herzen des Chaos, war ihr Geist schärfer als je zuvor.

Sie nahm alles wahr. Jedes Detail.
Die Eule auf dem Ast – starr vor Schreck. Ihre Augen groß und rund. Für einen Herzschlag hielt die Welt den Atem an. Der rote Schleier hob sich, und Alniira sah jede Feder, jedes Muster im Gefieder. Sie hörte ihn – den schnellen, panischen Herzschlag des Vogels, so klar, als würde er in ihrer eigenen Brust pochen.

Dann war der Moment vorbei, und sie war wieder Sturm.

Dies war keine Jagd nach Beute. Es war eine Jagd ohne Ziel – eine Jagd nach Freiheit selbst. Eine Entladung all der Energie, die der Vollmond, ihre Göttin, in sie gegossen hatte. Sie suchte nicht nach einem Feind, den sie zerreißen konnte. Sie suchte nach den Grenzen ihrer neuen Kraft – in der leisen Hoffnung, keine zu finden.

Sie rannte, bis die Lungen brannten, bis die Muskeln schrien – und sie rannte weiter. Ein wildes, freudiges Heulen auf den Lippen, das verkündete, dass Alniira, die Gefangene, die Flüchtige, die Zerrissene, endlich, endlich ganz war.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 31 Aug 2025, 15:55
von Alniira Vrammyr
Die Welt hatte sich auf die Größe eines einzelnen Farnblattes reduziert.
Alniira saß regungslos im gedämpften Licht des Waldes, ihre Wolfsgestalt so still, dass sie selbst Teil des Unterholzes geworden zu sein schien.
Ihr Blick war auf ein winziges Drama geheftet, das sich auf dem grünen Wedel abspielte.
Eine Spinne, nicht größer als ihr Krallennagel, webte mit der geduldigen Präzision der Ewigkeit an ihrem Netz. Ein Netz aus erstarrtem Silber, ein geometrisches Meisterwerk, das gleichzeitig Falle und Zuhause war.
Und in diesem Anblick sah Alniira den Grundriss ihres eigenen Lebens.
Alniira hat geschrieben:Ein Netz... Wir alle beginnen in einem Netz, das wir nicht selbst gewoben haben.
Die Vergangenheit stieg in ihr auf wie kalter Nebel aus einer Gruft. Zuerst war da das Netz aus göttlichem Willen und erstickender Ambition.
Sie sah sich selbst wieder, jünger, die Haut noch unberührt von den Narben des Lebens, die Augen erfüllt von der fanatischen Glut einer angehenden Yathrin.

Sie stand in den kalten Hallen von Menzoberranzan, umgeben von dem leisen, ständigen Flüstern von Gebeten, die mehr nach Drohung als nach Hingabe klangen.
Sie lernte die Litaneien der Grausamkeit, die Dogmen der Macht, die Schönheit der Peitsche. Sie lernte, dass Liebe eine Schwäche war, Vertrauen ein tödlicher Fehler und Mitgefühl die größte aller Sünden.
Sie war eine der besten Schülerinnen, eine perfekte Spinne im Netz von Lloth, bereit, ihre Konkurrentinnen auszustechen und zu vergiften, um in der Gunst der Königin aufzusteigen.
Alniira hat geschrieben:Ich wollte die Weberin sein. Ich sah nicht, dass ich nur ein weiterer Faden war, dazu bestimmt, geopfert zu werden, sobald ich meinen Zweck erfüllt hatte.
Doch der Faden riss. Ein Fehler, ein Moment der Unachtsamkeit, ein Funke verbotenen Mitgefühls, der ihr fast das Leben gekostet hätte.
Die Erinnerung war ein scharfkantiger Schmerz – die Flucht durch die dunklen Tunnel, das Jagen und Gejagt werden, die Erkenntnis, dass sie ihr altes Netz für immer verlassen musste.
So kam sie nach Elashinn, in das Haus Ky'Alur. Und fand sich in einem neuen Netz wieder.

Diesmal war es kein Netz aus göttlicher Dogmatik, sondern eines aus Stahl und Schweiß. Die Schmiede wurde ihr neues Gefängnis, ihr neues Heiligtum.
Der Rhythmus des Hammers ersetzte die Litaneien der Priesterinnen.
Die Hitze der Esse brannte die letzten Reste ihrer fanatischen Kälte aus ihr heraus.
Hier war sie nützlich, hier war sie sicher. Aber sie war nicht frei. Sie schmiedete Waffen für dieselbe Art von Kriegern, vor denen sie geflohen war.
Sie schuf Schönheit in Form von tödlichen Klingen, doch diese Schönheit diente nur dem Hass und der Zerstörung.
Alniira hat geschrieben:Ich tauschte einen Käfig aus Eis gegen einen Käfig aus Feuer. Ich dachte, die Hitze würde mich reinigen. Aber sie hat mich nur gehärtet und geformt, nach dem Willen meiner neuen Meister.
Sie sah die Gesichter vor sich, die kalten, berechnenden Augen der Ilharess, die leeren Blicke der Sklaven, die verächtlichen Mienen der Krieger, die ihre Arbeit entgegennahmen, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Sie war ein Werkzeug, wertvoll, aber seelenlos. Ein Zahnrad in einer Maschine aus Hass.

Die Spinne auf dem Farnblatt zuckte. Ein kleiner Käfer hatte sich im Netz verfangen.
Das winzige Wesen kämpfte, seine Beine zappelten in panischer Verzweiflung. Alniira hielt den Atem an. Sie sah sich selbst in diesem Käfer.
Und sie wusste, was als Nächstes kam.

Doch die Spinne tat nichts. Sie verharrte, als würde sie lauschen. Und in diesem Moment der Stille erinnerte sich Alniira an den letzten Tag in Elashinn.
An das Heulen in ihrem eigenen Blut, das lauter geworden war als der Lärm der Schmiede. An den ersten Strahl echten Mondlichts, der sie durch einen Schacht erreicht hatte.
An die unbändige, verzweifelte Kraft, die sie dazu getrieben hatte, ihre Ketten – die unsichtbaren und die mentalen – endgültig zu sprengen und zu fliehen.

Sie hatte ihr Netz zerrissen. Und war ins Leere gefallen.

Die Spinne auf dem Farnblatt war fort, verscheucht durch einen leichten Windhauch, der durch das Unterholz strich.

Das kleine Drama war vorbei.

Übrig blieb nur das leere, zerrissene Netz, das im Licht zitterte.
Alniira atmete aus, und mit dem Atemzug ließ sie die erstickenden Bilder der Vergangenheit los.
Die kalten Hallen von Menzoberranzan und die glühende Hitze von Elashinns Schmieden verblassten und machten Platz für die überwältigende Realität des Yew Waldes.

Die Gegenwart war kein Netz. Sie war ein Ozean.

Hier gab es keine geraden Linien, keine von Architekten geplanten Strukturen.
Alles war ein wildes, unvollkommenes und wunderschönes Chaos. Die Luft roch nicht nach kaltem Stein, sondern nach feuchter Erde, verrottendem Laub und dem süßen Duft von Moos.
Die Stille wurde nicht von geflüsterten Intrigen durchbrochen, sondern vom Gesang der Vögel, dem Summen der Insekten und dem rhythmischen Atmen des Rudels, das nur wenige Schritte von ihr entfernt döste.
Alniira hat geschrieben:Ich bin aus dem Netz gefallen... und im weichen Moos gelandet. Ich dachte, es wäre ein Exil. Aber vielleicht ist es das erste Mal, dass ich wirklich atme.
Dieses Leben war unvollkommen, voller Entbehrungen, die eine Drow aus der Stadt niemals gekannt hätte.
Es gab Nächte, in denen der Hunger an ihren Eingeweiden nagte. Es gab Tage, an denen die Kälte bis in ihre Knochen kroch.
Es gab die ständige, instinktive Wachsamkeit, die das Leben in der Wildnis erforderte. Aber mit diesen Härten kam eine Freiheit, die so berauschend war, dass sie ihr manchmal den Atem raubte.

Hier gab es keine Masken. Koda zeigte seine Ungeduld und seine überschwängliche Freude offen.
Nayas Weisheit lag in ihrem stillen Blick, nicht in kryptischen Worten.
Rianons Schmerz und seine Hoffnung waren in jeder seiner Bewegungen lesbar.
Und die Welpen... sie waren der reinste Ausdruck von unschuldiger, ungezähmter Lebensfreude.
Niemand hier fragte nach ihrer Vergangenheit. Niemand verurteilte sie für ihre Herkunft.
Sie war einfach nur Alniira. Die Jägerin. Die Gefährtin. Die Wächterin.
Alniira hat geschrieben:In Elashinn war mein Wert an die Qualität meiner Klingen gebunden. Hier... hier ist mein Wert das Fleisch, das ich zur Jagd beitrage, die Wärme, die mein Körper im Bau spendet, die Stärke, die ich dem Rudel leihe. Es ist echt.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche um sie herum.
Sie konnte den Herzschlag des jungen Wolfs hören, der am nächsten bei ihr lag, ein stetiges, ruhiges Trommeln.
Sie konnte das leise Knistern eines Käfers hören, der über trockene Blätter krabbelte.
Sie konnte den Wind spüren, der nicht nur ihre Haut berührte, sondern durch ihr Fell strich und ihr Geschichten von fernen Hügeln und kommenden Regen erzählte.
Ihre Sinne, die im Unterreich nur dazu gedient hatten, Gefahren zu erkennen, waren hier zu Instrumenten geworden, mit denen sie die Symphonie des Lebens wahrnahm.

Doch in dieser Freiheit lag auch eine tiefe Unsicherheit. In Elashinn hatte sie einen Platz gehabt.
Einen Zweck. Einen Weg, der, so erstickend er auch war, klar vorgezeichnet war. Hier gab es keinen Weg.
Es gab nur den nächsten Sonnenaufgang, die nächste Jagd, die nächste Nacht unter den Sternen.
Sie war ein Schössling, der aus der rissigen Erde eines alten Fundaments gewachsen war – frei, dem Licht entgegenzustreben, aber ohne die schützenden Mauern, die sie einst gekannt hatte.

Sie war frei. Aber sie war auch verloren.

Die Ruhe der Gegenwart hatte ihren Preis: Sie gebar die unerbittliche Frage nach der Zukunft.
Was nun? Die Frage schwebte nicht als Gedanke in ihrem Kopf, sondern manifestierte sich vor ihrem geistigen Auge als eine Vision, so real und überwältigend wie der Wald um sie herum.

Sie sah einen Baum. Er war entwurzelt, schwebte in einer stillen, grauen Leere, losgerissen aus der vergifteten Erde Elashinns.
Doch anstatt in der Leere zu verkümmern, geschah etwas Wundersames und Schreckliches zugleich.
Aus dem freigelegten Wurzelballen begannen unzählige neue Wurzeln zu sprießen, sich in die Leere zu strecken, auf der Suche nach neuem Halt.

Tausende... Millionen...
Jede einzelne eine mögliche Zukunft.
Alniira hat geschrieben:Ein einziger Weg ist ein Gefängnis. Aber eine unendliche Anzahl von Wegen ist ein Labyrinth ohne Ausgang.
Ihre Sicht wurde schwindelerregend, als sie versuchte, den einzelnen Wurzeln zu folgen.
Eine Wurzel war aus glänzendem, schwarzem Obsidian, scharfkantig und kalt. Sie führte zurück nach Elashinn, zurück in die Dunkelheit, in den Verrat, in den Tod. Sie sah sich selbst, alt und verbittert, den Hammer schwingend in ewiger Knechtschaft, oder schlimmer noch, auf einem Altar liegend, ein Opfer für eine Spinnengöttin, die sie verachtet hatte.
Eine andere Wurzel war aus reinem, gleißendem Licht, so hell, dass es schmerzte.
Sie führte in ein Leben, in dem sie versuchte, ihre Herkunft zu verleugnen, eine Drow, die vorgab keine zu sein.

Sie sah das ständige Misstrauen in den Augen der anderen, die Angst, entdeckt zu werden, ein Leben in einer Lüge, das ihre Seele langsam ausbleichen würde, bis nichts mehr von ihr übrig war.
Viele Wurzeln waren dornig und verdreht. Sie zeigten ein Leben des ständigen Kampfes. Ein Söldnerleben, in dem sie ihre Klingen verkaufte.

Ein Leben als Gejagte, auf der Flucht vor den Häschern ihres alten Hauses.
Ein Leben, in dem der Wolf die Oberhand gewann und sie zu einer Bestie ohne Verstand wurde, die durch die Wälder streifte, bis ein Held sie niederstreckte.

Jeder dieser Wege war mit Blut und Schmerz gepflastert.
Alniira hat geschrieben:Jede Entscheidung ein möglicher Tod. Jede Möglichkeit ein neues Gefängnis. Wie soll ich wählen, wenn jeder Weg in die Dunkelheit führt?
Das Chaos der Möglichkeiten drohte sie zu verschlingen. Die Freiheit, die sie eben noch als so berauschend empfunden hatte, wurde zu einer lähmenden Last.
Sie war ein Schiff ohne Ruder auf einem unendlichen Ozean. Jede Welle konnte sie an ein rettendes Ufer oder an ein tödliches Riff werfen.

Verzweifelt klammerte sich ihr Geist an das Einzige, was real war. Das Bild des Rudels.
Die Wärme von Kodas Fell. Die Ruhe in Nayas Augen. Der unausgesprochene Pakt mit Rianon.


Und dann sah sie eine Wurzel, die anders war als die anderen. Sie leuchtete nicht, sie war nicht aus Obsidian.
Sie war aus lebendigem Holz, genau wie die Bäume des Yew Waldes. Sie war nicht gerade, sie war knorrig und unvorhersehbar.
Sie führte nicht in eine klare Zukunft, sondern schlängelte sich in ein ungewisses Zwielicht.
Aber sie war nicht allein. Sie sah andere, ähnliche Wurzeln, die sich um sie herum wanden – eine grünliche, die nach frischem Laub roch, und viele graue, die nach Wildnis und Freiheit rochen.
Sie waren getrennt, aber sie wuchsen in die gleiche Richtung.

Die Erkenntnis traf sie mit der stillen Wucht eines fallenden Blattes.
Sie konnte nicht allein Wurzeln schlagen. Ein Baum braucht den Wald, um zu überleben.

Ihr Exil war keine Endstation. Es war eine Vorbereitung.
Um im Yew Wald wirklich heimisch zu werden, um diese neue, zerbrechliche Freiheit zu schützen, konnte sie sich nicht länger verstecken.
Sie musste sich dem Wald offenbaren. Nicht nur dem Boden und den Tieren, sondern auch seinen anderen Wächtern. Den Waldelfen.

Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah das Misstrauen, den alten Hass, die Verachtung.
Der Weg war gefährlich, vielleicht sogar tödlich. Aber er war der einzige, der nicht in die Isolation führte. Er war der einzige, der eine Chance auf eine echte Heimat bot.

Die Vision verblasste. Alniira öffnete die Augen. Der Wald lag still und friedlich da, unverändert.
Aber in ihr hatte sich alles verändert. Die lähmende Unsicherheit war einer kalten, zitternden Entschlossenheit gewichen.

Sie würde zu den Waldelfen gehen. Sie würde ihnen die Wahrheit ihres Herzens zeigen, die Wahrheit des Waldes, wie sie ihn kannte.
Und sie würde mit den Konsequenzen leben. Oder sterben.

Das Lied der Wildnis

Verfasst: 15 Sep 2025, 09:30
von Alniira Vrammyr
Das Lied der Wildnis

Die Nacht atmete. Ein leises, beständiges Heben und Senken des Waldes, das nur eine Seele hören konnte, die selbst Teil dieses Rhythmus geworden war. Alniira stand auf einer kleinen, moosbewachsenen Anhöhe, von der aus sie das Blätterdach ihres Reviers überblicken konnte. Unter ihr schlief das Rudel, eine Ansammlung warmer, atmender Leiber, deren Träume von Jagd und Freiheit handelten. Der Mond, fast voll, goss sein klares, urteilsfreies Licht über die Welt und malte die Stämme der alten Bäume mit Silber.

Heute Nacht gab es keinen Schmerz zu vertreiben, keine Zweifel zu bekämpfen. Es gab nur eine tiefe, ruhige Gewissheit. Es war an der Zeit, die alte Geschichte neu zu erzählen. Nicht für die Götter, nicht für die Welt. Nur für sich selbst und für den Wald, der lauschte.

Ihr Tanz begann mit einem leisen Gesang, einer Beschwörung des Moments.
Alniira hat geschrieben:Ich tanze im Walde, der Boden ruft,
Die Nacht ist dunkel, der Mond ruft.
Der Wind flüstert leise ein altes Lied,
ein Kreis aus Schatten und Licht geschieht.
Ihre Füße begannen sich zu bewegen, eine Choreografie der Erinnerung. Zuerst steif, unnatürlich, als der Gesang in die Sprache der Tiefe wechselte. Es war der Tanz einer Gefangenen, eine Pantomime der unterdrückenden Ordnung Elashinns, wo jeder Schritt überwacht und jede Geste einstudiert war.
Alniira hat geschrieben:Udos z'ress wun l'Seldarine fwe,
uss z'hin l'qu'ellar, wun udos kwe.
Lil waela lu'orn, lil natha lu'in,
lil yorn faerz'un l'Vel'bol d'Lloth.
Mit einem zischenden Laut zog sie ihr Schwert. Die Runen erwachten mit sanftem Licht, und der Tanz explodierte. Die rigide Form zerbrach, als die Erinnerung an die Wut des Wolfes durch sie hindurchbrach. Sie sprang, wirbelte, ihre Bewegungen waren nicht mehr die einer Drow, sondern die eines Raubtiers, das seine Ketten sprengt, während sie den Abschied von der alten Welt besang.
Alniira hat geschrieben:Ich lernte hassen, nicht zu fleh'n,
die Sprache jener, die vergeh'n.
Doch zog ich aus, ließ Gift zurück –
fand in der Wildnis neues Glück.
Der wilde Zorn wich einer fließenden, tödlichen Anmut. Der Tanz wurde eins mit dem Wald. Sie bewegte sich zwischen den Bäumen, ihre Füße machten kein Geräusch mehr auf dem Moos. Sie war nicht mehr Alniira, die Ausgestoßene. Sie war ein Geist des Waldes, ein Teil des nächtlichen Lebens, so selbstverständlich wie die Eule auf dem Ast über ihr, deren goldene Augen sie beobachteten.
Alniira hat geschrieben:Lil orbb lu'valm, lil sindi'ur,
w'olath saph'dos, s'rilen'ur.
Uss'vel'drav z'hin, l'vel'klar saph,
a'dos, a'band, w'dosst harl'il.
In der Mitte der Lichtung hielt sie inne, ihre Brust hob und senkte sich im Rhythmus des Waldes. Der Tanz wurde zu einer Proklamation. Sie blickte auf zu den Sternen, eine anhängerin Eilistraees, die ihre wahre Identität gefunden hatte – nicht in den Titeln, die ihre Feinde ihr gaben, sondern in der wilden, ungezähmten Wahrheit ihres eigenen Herzens.
Alniira hat geschrieben:Sie nannten mich "Viper", doch das ist Schein,
ich bin der Wolf, nicht kalt und klein.
Ich bin das Fell, der Blick, der Biss –
was jenseits aller Finsternis.
Ihre Bewegungen wurden wieder langsamer, kraftvoller und erdverbundener. Jeder Schritt war ein Bekenntnis. Jede Parade mit dem Schwert ein Schild, nicht gegen äußere Feinde, sondern gegen die alten, inneren Lügen. Es war kein prahlerischer Tanz, sondern eine Demonstration stiller, unerschütterlicher Stärke.
Alniira hat geschrieben:Uss saph'la wun'valsharen, wun'jard,
uss'kyorl fol l'udt'a, udos yorn, udos huth.
W'uss orn, l'hauth z'hin d'ssin'urn,
fol l'bel'drin, saph'dos d'udt'urn.
Mit einer letzten, anmutigen Drehung, die die Präzision der Drow mit der Kraft des Wolfes vereinte, hob sie ihr Schwert zum Himmel – eine Opfergabe an den Mond, an ihre Göttin. Das Licht der Runen spiegelte sich in ihren Augen, klar und furchtlos.
Alniira hat geschrieben: Ich bin der Kreis, der neu beginnt – die Tochter des Mondes, die mit Wölfen singt.
Langsam senkte sie die Klinge. Der Tanz war vorbei. Das Lied verklungen. Sie stand da, im Herzen ihres Waldes, unter dem wachsamen Blick ihrer Göttin, und atmete die süße, kalte Luft der Freiheit
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