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Lirael Vanya’thiel – Der Pfad der gespaltenen Wurzeln

Verfasst: 31 Mai 2025, 10:52
von Lirael Vanya'thiel
Episode I: Eine intakte Welt

Es war ein schöner Morgen, als Lirael durch eine Fliege geweckt wurde, die ihr nervös über die Nase krabbelte und ein leichtes Kitzeln verursachte, das zwar störend, aber nicht unangenehm war. Mit geschlossenen Augen und noch halb im Schlaf strich sie sich mit der Hand über das Gesicht. Die Fliege flog weg und Lirael driftete bereits wieder ab in ein Land voller Träume und Schönheit. Doch das emsige Insekt kehrte nach wenigen Augenblicken zurück und setzte sich unmittelbar zwischen Liraels Augen und kitzelte sie erneut durch seine feinen, aber spürbaren Schritte. Wiederum glitt die Hand zum Gesicht, unklar, ob es sich um eine bewusste Reaktion oder vielmehr einen Reflex im Schlaf handelte.
Ein Blinzeln ließ die Fliege schließlich erneut wegfliegen.
Sachte rührte sich Lirael und drehte den Kopf über die linke Schulter, nur um festzustellen, dass das Leuchten der Sonne, das nun direkt auf ihr Gesicht fiel, noch etwas zu stark war für ihre scharfen Augen. Obschon sie noch beinahe vollständig geschlossen waren, spürte sie bereits die fast schon stechende Kraft, die vom Himmel schien. Gleichzeitig genoss sie die Wärme, die die gleiche Kraft auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie entschied sich, mit diesem Zwiespalt umzugehen, indem sie ihre Augen noch etwas geschlossen hielt, um die Wärme noch etwas zu genießen, die mittlerweile auch anfing, ihre linke Schulter und Arm zu erfassen.
Während sie da saß, die eine Körperhälfte sowie den einen Teil ihres Geistes noch in der Nacht, und die anderen Hälften bereits dem anbrechenden sonnigen Tag ausgesetzt, verarbeitete ihr Geist die beiden Gegensätze der erfrischenden, aber kühlen und feuchten Nacht zur Wärme des anbrechenden Tages. Gegensätze, die gerade in diesem Moment so wahrnehmbar und klar waren, dass man sich in zwei Körpern gleichzeitig hätte wähnen können und die einen schwachen Geist hätten zerreißen können.
Lirael fühlte nichts von einer derartigen Zerrissenheit und sie saß an diesem Morgen unter ihrem Lieblingsbaum, in einer tiefen Ruhe und mit der unerschütterlichen Gewissheit, dass der Tag und die Wärme, die er mit sich brachte, sie früher oder später vollständig umhüllen würden.


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Sie saß unter ihrem Lieblingsbaum, im Apfelhain hinter der Taverne.
Vor sich die weite Küste von Moonglow, die offen und unbekannt vor ihr lag, wie eine Welt, die voller Abenteuer darauf wartete, entdeckt und erobert zu werden.
Unter sich die fruchtbare Erde, die die Apfelbäume gedeihen und ihre Früchte saftig und süß werden ließ. Bedeckt von einem Teppich aus kühlem und feuchtem Gras, das einem ganzen Universum an Lebewesen als Grundlage diente und der Lirael als Bett ein weiches Nest bot.
Über sich die Baumkrone und der Himmel, dessen Farbe sich mit jedem Augenblick von einem beinahe schwarzen Nachtblau hin zu einem Gemälde wandelte, das eine Mischung aus klarem Blau und leuchtendem Gelb, durchzogen mit weißem Schlackern, abbildete. Die Baumkrone bedeckte genug vom Himmel, damit sich Lirael nicht in der Größe und Unendlichkeit des Horizonts zu verlieren drohte, und sie war froh um den schützenden Schirm, den ihr ihr Freund, der Apfelbaum, bot.
Hinter sich den borkigen Baumstamm des alten Baumes, der unerschütterlich und unverrückbar dastand und Lirael Halt gab. Seine Wurzeln hielten den Boden zusammen und der Stamm bildete eine Brücke zwischen der Welt am Boden und der Welt in der Luft.
In einigem Abstand zum Apfelhain befand sich hinter Lirael die Taverne, die für Lirael so wichtig geworden war. Als Fremde war sie in diese unbekannte Welt gezogen worden. Es war ihr sonderbar vorgekommen, und trotz ihrer angeborenen Abneigung gegen feste Strukturen und Einrichtungen war sie angezogen worden durch diesen Ort und vor allem durch die Lebewesen, die ihn ausmachten. Die Aura und Kraft, die von dieser Gemeinschaft ausging, war anders als alles, was Lirael kannte, und dennoch konnte sie ihr nicht widerstehen. Und so war sie als Fremde gekommen, hatte als Bekannte geholfen und war als Freundin hier sesshaft geworden.
Ihre ganze kleine Welt war von Küste zu Küste umgeben von einem dichten Wald, der vor Leben strotzte. Er strahlte eine Kraft aus, die dem Gefühl, das sie aus ihrer Kindheit in den Wäldern von Yew zu kennen glaubte, nur wenig nachstand. Er umgab Liraels gegenwärtigen Lebensmittelpunkt, als wolle er ihn und sie schützen und ihr und ihrem Umfeld Geborgenheit und Sicherheit geben. Gleichzeitig bot ihr der Wald einen Rückzugsort und verband ihre heutige Welt mit ihrem bisherigen Leben.
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Ihr Geist war noch immer erfüllt mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht vor dieser Kleinigkeit des Übergangs von Nacht zu Tag. Widerwillig und missmutig begann sie, ihr Bewusstsein darauf vorzubereiten, dass es sich sehr bald mit den profanen Herausforderungen eines weltlichen Lebens würde auseinandersetzen müssen und sich von der Dramatik des Konflikts zwischen Welt des Mondes und Welt der Sonne würde lösen müssen.
Mit einem stillen, aber tiefen Seufzen begann sie, sich diesen Herausforderungen anzunehmen, und drehte den Kopf über die andere Schulter, um ihre Augen vor der Sonne geschützt langsam öffnen zu können. Deutlich mehr Mühe würde der nächste Kraftakt benötigen. Sie streckte ihre Arme von sich und reckte ihren Oberkörper etwas in die Höhe, als wolle sie die letzten schlafenden Muskeln ebenfalls erwecken.
Nachdem sie sich der weiteren Existenz all ihrer Gliedmaßen und Muskeln versichert hatte und ihr Geist sich langsam aber sicher genügend vom erholenden Gefühl von Schlaf und Ruhe verabschiedet hatte, erhob sie sich langsam. Sie stützte beide Arme in die Hüften und blickte zufrieden um sich.

Ihre Welt schien intakt.

Mit leichtem Schritt begann sie zum nächsten Apfelbaum zu laufen und erhob dabei den Blick, um die Kronen nach den saftigen Früchten dieser standhaften Lebewesen abzusuchen. Bareti würde sie dankend übernehmen, um Most für die durstigen Gäste der Taverne herzustellen, und Lirael würde sicherstellen, dass diese Ernte im Einklang mit den Bedürfnissen der Bäume geschah.
Bareti hatte sie gebeten, sich um den Hain und die Umgebung der Taverne zu kümmern, was Lirael im ersten Moment etwas befremdet hatte, schienen ihr dieser kultivierte Anbau doch fremd. Sie hatte jedoch schnell erkannt, wie viel Bedeutung Bareti dieser Aufgabe und dem Hain beimaß und wie sehr die Freunde der Taverne den Schatten und die Erholung unter diesen Bäumen schätzten. Und so hatte sie erkannt, dass dies ihre Möglichkeit war, gleichzeitig der Welt der Pflanzen, der Welt der Tiere und der Welt der wissenden Wesen zu dienen.
Sie ging langsam weiter und erblickte ein paar Bäume weiter einen Ast, an dem sich die Blätter langsam gelblich zu verfärben schienen und die bei näherem Hinsehen schwarze Spuren aufwiesen. Vermutlich von einem Mehltaupilz befallen, dachte sie und betrachtete dabei die Blätter, die etwas über Kopfhöhe hingen, eingehend. Im Wald hätte sie sich über diesen Anblick erfreut, war doch auch der Pilz ein Lebewesen und Teil eines Systems, das im Einklang lebte und funktionierte. Hier im Hain würde er aber die Apfelbäume stören und über die Zeit Schäden verursachen, die entgegen dem Sinn dieser Kultur gingen. Lirael hatte diesen Umstand mittlerweile akzeptiert und verstanden, dass selbst Waldelfen ihre Umgebung mitformten und dass es auch eine Form der Bewirtschaftung im Einklang mit der Natur geben kann.
Sie betrachtete den Baum eine Weile und begutachtete den Stamm und die Krone in ihrer ganzen Pracht. Der Baum schien ansonsten gesund und man konnte annehmen, dass der Pilz erst diesen einen Ast befallen hatte. Vermutlich war er durch eine Amsel von einem anderen, weniger gut umsorgten Obstgarten eingeflogen worden.
Lirael ging zum Baum und tastete mit der flachen Hand der Rinde entlang. Nach einem Moment hielt sie inne und lehnte sich vor, bis ihre Stirn die Rinde berührte. Still verharrte sie einen Moment in dieser Position und schloss dazu die Augen, bis sie sich schließlich dem kranken Ast zuwandte und ihn mit einem geübten Schnitt abtrennte. Sie hatte sich vergewissert, dass der Apfelbaum, dieses unglaubliche Lebewesen, das ihr und ihren Freunden Jahr für Jahr diese köstlichen Früchte schenkte, wusste, was sie tun würde und warum sie es tun würde.

Nachdem sie den Hain abgegangen war und die reifen Äpfel abgelesen hatte, lief sie langsamen Schrittes in Richtung des Gebäudes der Taverne. Die Sonne erhellte den Tag mittlerweile deutlich, und dennoch war es noch früh. Es waren keine Bewegungen aus der Taverne zu sehen und Lirael vermutete, dass entweder keine Gäste übernachtet hatten oder dass sie gerade dabei waren, ihren Reiseproviant vorzubereiten.
Wie beinahe jeden Morgen ging Lirael zum hinteren Eingang, der direkt in die Küche führte. Sie deponierte die Äpfel in einem Weidenkorb, den Bareti eigens zu diesem Zweck aufgestellt hatte. Sie nahm eine kleine Axt, die an der Wand hing, zur Hand und schnallte sie an ihren Gürtel. Danach machte sie sich in eiligen Schritten davon, als fürchtete sie doch noch jemandem zu begegnen. Ihre Schritte waren zielgerichtet und folgten dem gewohnten Pfad um das Haus herum, auf direktem Weg in den Wald, der die Taverne umgab.
Nachdem sie einige Dutzend Schritte in den Wald hineingelaufen war, nahm sie die Axt vom Gürtel und sah sich um. Die noch immer tief stehende Sonne begann durch das Blätterdach zu dringen und ließ die Luft beinahe magisch grün leuchten. Mit erhobenem Kopf schloss sie die Augen und atmete tief ein, als wolle sie alle Energie, die Ort und Atmosphäre ihr hier geben konnten, in sich aufnehmen. Sie verharrte eine Weile und horchte den Geräuschen des Waldes. Sie ließ die kühle Luft und die Mischung aus Stille und vertrauten Geräuschen auf sich wirken. Nichts konnte Lirael so beruhigen, ihr in ähnlicher Art Stärke und Vertrauen geben, wie die Energie, die vom Kraftort Wald ausging.

Nach einer Weile begann sie langsam zu laufen und beobachtete dabei den Wald um sich. Zu ihren Aufgaben in der Taverne gehörte es auch, die Küche mit Feuerholz zu versorgen, und sie suchte nach verdorrten oder verletzten Ästen oder Bäumen, deren Nutzung den Wald stärken würden. Es kam vor, dass sie auch gesunde Bäume einschlug, jedoch war ihr dies unliebsam und üblicherweise nicht nötig. Während sie suchend durch den Wald ging und sich umsah, dachte sie an die Wälder von Yew und wie sich die Wälder von Moonglow glichen und unterschieden.


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Erst vor wenigen Tagen war sie zum ersten Mal seit Jahren nach Yew zurückgekehrt. Sie hatte in der Taverne ein Gespräch zwischen Bareti und Elfen belauscht, in dem sie über Yew und die Bedeutung dieses Ortes für Elfen gesprochen hatten. Lirael war sich dieser Bedeutung wohl bewusst, und dennoch war sie seit langer Zeit nicht mehr an diesen Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt. Zu viele belastende Gedanken waren mit diesem Ort verbunden.
Und dennoch hatte sie sich auf einmal mitten in Yew wiedergefunden.
Sie war auf der Suche nach Federn und Holzstücken, um neue Pfeile herzustellen, und hatte bei den Händlern des Blackrocksyndikats nachgefragt, ob sie dies liefern könnten. Die Händlerin Talia Xerodes, der Lirael bereits einige Male in der Taverne begegnet war, hatte beinahe nervös angefangen, von Händlern in Yew zu reden, und hatte Lirael kurzerhand an der Hand genommen und war mit ihr zum Reisemagier gerannt, und ehe sie richtig wusste, was geschah, stand sie schon am Stadteingang von Yew und Talia schleifte sie durch die Gassen zur Bognerin Diundriel.
Nachdem die erste Überumpelung verflogen war und Talia wieder davon gehastet war, stand Lirael also in Yew und wusste nicht recht, wie ihr geschah. Doch noch bevor sie sich ihrer Gefühle vollumfänglich bewusstwurde oder sich näher damit befassen konnte, zupfte etwas an ihrem Hemd. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte hinter sich eine junge Lichtelfin, die auf sie einredete. Lirael schaffte es abwesend, die beiden Informationen "Suche" und "meinen Vater" auszufiltern, und glaubte zu verstehen, dass das Kind seinen Vater suchte. Noch immer abwesend und mit einem Kopf, der gefüllt mit einer ganzen Welt voller Fragen und sich gleichzeitig doch leer anfühlte, trat Lirael mit dem Kind nach draußen vor das Lokal, nur um eine bekannte Stimme von der Bar her zu vernehmen. Langsam ging sie in die entsprechende Richtung, wobei das Kind sie überholte und sie schließlich beinahe zur Bar mitschleifte.
Beinahe wie im Traum vernahm sie die Danksagung der beiden Männer und setzte sich an den Tresen. Ein Glas Wasser wurde ihr vorgesetzt und sie trank einen Schluck und senkte den Kopf zur Bar hinab. Während neben ihr offenbar ein Gespräch zwischen Tochter und Vater stattfand, saß sie da, abwesend, unsicher und beinahe verloren. Wenngleich sie das Gespräch nicht aktiv verfolgte, so drohte dieser Austausch zwischen Vater und Tochter sie doch schmerzlich an ihre eigene verlorene Kindheit zu erinnern.
Nach einigen Minuten war es abermals ein Zupfen an ihrem Hemd, das sie aufriss, als das Kind sich von ihr verabschieden wollte. Der ältere Lichtelf, der offenbar der Vater des Kindes war, brachte sie ins Bett. Der Stimme nach war er es, mit dem Bareti an jenem Abend in der Taverne gesprochen hatte.
Nach wenigen Minuten war er zurück und setzte sich erneut an den Tresen, jedoch auf Liraels andere Seite, so dass sie nun zwischen dem jüngeren Waldelfen und dem älteren Lichtelfen saß. Die beiden stellten sich als Rianon und E'lessar vor und sie sprachen eine Weile über die Wälder von Yew und ihre Bedeutung.
Lirael gestand, das Gespräch mit Bareti belauscht zu haben, und erzählte über die Hintergründe ihres langen Fernbleibens aus Yew.
Nach einiger Zeit, deutlich später als Lirael vermutet hätte, verabschiedeten sich die beiden und sie blieb allein am Tresen zurück. Obschon die Nacht bereits über Yew hereingebrochen war, sah sie in die Kronen der großen und kraftvollen Bäume, die diesen zentralen Ort der Stadt umgaben. Es war beeindruckend, welche Aura und Kraft von ihnen ausging, und Lirael verstand besser, wieso dies der Ort der Elfen war, und obschon sie die Hintergründe für ihr langes Fernbleiben bisher bewusst verdrängt hatte, war sie sich sicher, dass sie Yew wohl bald wieder besuchen würde. Sie war sich jedoch auch sicher, dass sie wenig Drang verspürte, sich mit dem Trauma, das ihre Kindheit und Jugend umgab, zu befassen.
Und dennoch, sie war in Yew gewesen und ihre Welt schien nach wie vor intakt.
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Mittlerweile hatte Lirael einen stattlichen Stapel Brennholz aufbereitet und begab sich auf den Rückweg zur Taverne. Sie näherte sich wiederum von hinten dem Gebäude und stapelte das Holz sorgfältig neben dem Hintereingang zur Küche auf. Sie hörte, wie im Innern angeregte Diskussionen geführt wurden, und vermutete, dass eine ganze Gästeschar auf das Essen wartete, das in der Küche zubereitet wurde. Durch das Küchenfenster erblickte Lirael Bareti, die offensichtlich dabei war, bei der Zubereitung zu helfen.
Ihre Blicke trafen sich für einen Moment und Baretis Miene erhellte sich, als sie ihre Freundin erblickte. Obwohl sie durch ein Fenster getrennt waren und der Blickkontakt nur wenige Augenblicke gedauert hatte, war der Austausch so umfassend, wie es nur durch eine tiefere Verbindung möglich war.
Lirael hatte nicht das Bedürfnis, sich in den Schankraum zu Gästen oder Freunden zu begeben. Im Gegenteil, sie schätzte ihre Ruhe und Freiheit und mied den Kontakt mit Unbekannten. Bareti wusste dies und respektierte es und freute sich deshalb umso mehr, dass sie Lirael unerwarteterweise gesehen hatte. Lirael hatte ein Buch aus ihrer Tasche genommen und winkte Bareti damit, wobei sich ein breites Lächeln um ihren Mund bildete. Beim Anblick des Buches verbreiterte sich Baretis Lächeln und sie nickte ihr wissend zu.

Auf dem Rückweg in den Wald dachte Lirael erneut über die Taverne und ihre Freunde, insbesondere Bareti, nach. Besonders nach dem Besuch in Yew wusste sie, wo sie hingehören würde, und dennoch verspürte sie keinen Drang, der natürlichen Anziehung dieser Heimat der Elfen nachzugeben. In der Taverne hatte sie etwas gefunden, das sie lange gesucht hatte: Platz, Zugehörigkeit, Aufgaben und Anerkennung. Und Zuneigung, die insbesondere Bareti ihr deutlich zeigte. Bareti hatte sich in den letzten Wochen viel Zeit genommen für Lirael und hatte ihr enorm viel gezeigt und ihr viel zugehört. Es war Lirael nicht ganz klar, woher dies rührte, aber sie fühlte sich ihrer Freundin verbunden und schätzte sie sehr.

Nicht zuletzt hatte Bareti Lirael auch auf die Idee ihres aktuellen Projektes gebracht. Nachdem sie ihre Aufgaben für die Taverne am Morgen erledigt hatte, konnte sie sich nun ganz mit diesem Projekt befassen, wovon das Buch, das sie bei sich trug, ein Teil war.
Sie war auf der Suche nach einer Trauerweide, diesem Baum, dessen hängende Blätter und Zweige auffällig und jedem bekannt sind. Sie wachsen vorwiegend an Wasserläufen, und Lirael war auf dem Weg zum nächsten Bach, den sie kannte. Sie hoffte dort einen derartigen Baum zu finden, denn sie wollte Zeichnungen seiner Blätter und seiner Rinde anfertigen.
Inspiriert von Baretis Forschung hatte Lirael die Idee entwickelt, ihren geliebten Wald zu dokumentieren und alles verfügbare Wissen über die Pflanzen in ihm aufzuschreiben. Spaßeshalber und obschon sie noch fast gar nichts geschrieben hatte, hatte sie sich bereits Gedanken gemacht über den Titel des Werks:
Flora Moonglowiensis – die Pflanzen von Moonglow
Und in einem späteren Schritt ließe sich das Werk ausbauen auf die ganze bekannte Welt:
Flora Valmorrica – Ein botanischer Führer durch Valmorra

Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen war, hörte sie langsam das Plätschern eines Wasserlaufs und sah, wie sich das Kronendach weiter vorne zu öffnen begann. Nachdem sie einige weitere Minuten dem Wasserlauf gefolgt war, erblickte sie tatsächlich die charakteristische Kronenform einer Trauerweide am Ufer des Bachs. Zufrieden hielt sie einen Moment inne und erfreute sich an der Schönheit, die die Natur auch an diesem Ort hervorgebracht hatte. Sie setzte sich dann unter den Baum und nahm ihr Buch hervor und begann, sich einige Notizen zu machen und so gut es ihre Fertigkeiten zuließen, die Blätter und Rinde abzuzeichnen.


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Flora Moonglowiensis – die Pflanzen von Moonglow

Eintrag: Trauerweide
Die Trauerweide ist ein Baum, der Wuchshöhen von 6 bis 12 Mannshöhen erreicht. Der Stammdurchmesser erreicht über 42 Fingerbreit. Die Äste sind weit ausladend und die Zweige sind dünn, lang, rutenförmig und überhängend. Die Rinde ist anfangs seidig behaart, hellgrau und später kahl.
Die Laubblätter sind in Blattstiel und -spreite gegliedert. Die einfache Blattspreite ist bei einer Länge von bis zu 8 FIngerbreit sowie einer Breite von etwas über einem Fingerbreit lanzettlich mit lang zugespitztem oberem Ende und am Grund genauso zusammenlaufend. Der Blattrand ist knorpelig gesägt. Die Blattoberseite ist dunkelgrün und die -unterseite graugrün, beide Seiten sind kahl.
Noch zu ergänzen:
Generative Merkmale
Zeichnungen Blätter
Zeichnungen Knospen und Blüten
Zeichnungen Rinde

Weitere Einträge, die vervollständigt werden müssen:
Schwärzling
Farn, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Aschenblüte
Pilz, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Nachtschatten
Ihre Blüte wird Nachtherz genannt und ist offenbar giftig.
Mondtau
Moos, auch auf Moonglow heimisch
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Die letzten vier Einträge musste sie ebenfalls noch vervollständigen und dazu bei Nathanael mehr Informationen einfordern.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Lirael damit, die Zeichnungen fertigzustellen. Zwischendurch hielt sie immer wieder inne und erfreute sich an den Klängen und der Schönheit um sich herum. Sie stand zwischendurch immer wieder auf und suchte die Umgebung nach weiteren interessanten oder ihr unbekannten Pflanzen ab.
Als die Sonne langsam schwächer wurde, machte sie sich auf den Rückweg zur Taverne. Als sie dort ankam, waren noch die letzten Sonnenstrahlen über dem nahen Wasser sichtbar. In der Taverne schien noch immer oder wieder Hochbetrieb zu herrschen. Es schimmerte bereits Kerzenlicht durch die Fenster nach draußen und das Gelächter und die angeregten Gespräche von zufriedenen Gästen waren hörbar. Lirael machte einen Bogen um das Gebäude, nur um sich dann wiederum dem Hintereingang zu nähern. Ein Topf mit etwas Eintopf darin und zwei Äpfel standen auf den Holzdielen vor der Tür. Bareti hatte wie üblich etwas Essen für sie beiseitegestellt und Lirael nahm es mit auf ihrem Weg zum Apfelhain.
Es mochte Außenstehenden sonderbar vorkommen, aber Lirael wollte es so. Sie wäre im Schankraum willkommen gewesen und Bareti hätte sich gefreut, Lirael bei sich am Tresen oder Tisch zu sehen. Aber Lirael zog die Ruhe und Einsamkeit des Apfelhains der Gesellschaft in der Taverne vor. Und nicht selten gesellten sich im Verlaufe des Abends Nicoletta oder Bareti für eine Weile zu ihr und sie erzählten sich von den Erlebnissen des Tages.
Und so saß Lirael wiederum unter ihrem Lieblingsapfelbaum, mit Blick auf die See, und aß zufrieden etwas von Baretis Eintopf. Sie beobachtete, wie der Kampf zwischen Tag und Nacht sich erneut abspielte, als ob es um das Überleben zweier Welten ginge. Ihre Gedanken kreisten aber auch immer mehr um den Kampf in ihrem Kopf, zwischen ihren verschiedenen Leben und den verschiedenen Welten, in denen sie wandelte. Ihre alte Heimat Yew, mit den Elfen, zu denen sie gehörte, und ihre neue Heimat, die Taverne, und den Freunden, die sie hier gewonnen hatte.

Für den Moment schien ihre Welt intakt, aber sie befürchtete, dass sie sich nicht für immer vor diesem inneren Konflikt würde verstecken können.