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Lirael Vanya?thiel ? Der Pfad der gespaltenen Wurzeln

Verfasst: 31 Mai 2025, 10:52
von gelöschter Charakter_525
Episode I: Eine intakte Welt

Es war ein sch?ner Morgen, als Lirael durch eine Fliege geweckt wurde, die ihr nerv?s ?ber die Nase krabbelte und ein leichtes Kitzeln verursachte, das zwar st?rend, aber nicht unangenehm war. Mit geschlossenen Augen und noch halb im Schlaf strich sie sich mit der Hand ?ber das Gesicht. Die Fliege flog weg und Lirael driftete bereits wieder ab in ein Land voller Tr?ume und Sch?nheit. Doch das emsige Insekt kehrte nach wenigen Augenblicken zur?ck und setzte sich unmittelbar zwischen Liraels Augen und kitzelte sie erneut durch seine feinen, aber sp?rbaren Schritte. Wiederum glitt die Hand zum Gesicht, unklar, ob es sich um eine bewusste Reaktion oder vielmehr einen Reflex im Schlaf handelte.
Ein Blinzeln lie? die Fliege schlie?lich erneut wegfliegen.
Sachte r?hrte sich Lirael und drehte den Kopf ?ber die linke Schulter, nur um festzustellen, dass das Leuchten der Sonne, das nun direkt auf ihr Gesicht fiel, noch etwas zu stark war f?r ihre scharfen Augen. Obschon sie noch beinahe vollst?ndig geschlossen waren, sp?rte sie bereits die fast schon stechende Kraft, die vom Himmel schien. Gleichzeitig genoss sie die W?rme, die die gleiche Kraft auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie entschied sich, mit diesem Zwiespalt umzugehen, indem sie ihre Augen noch etwas geschlossen hielt, um die W?rme noch etwas zu genie?en, die mittlerweile auch anfing, ihre linke Schulter und Arm zu erfassen.
W?hrend sie da sa?, die eine K?rperh?lfte sowie den einen Teil ihres Geistes noch in der Nacht, und die anderen H?lften bereits dem anbrechenden sonnigen Tag ausgesetzt, verarbeitete ihr Geist die beiden Gegens?tze der erfrischenden, aber k?hlen und feuchten Nacht zur W?rme des anbrechenden Tages. Gegens?tze, die gerade in diesem Moment so wahrnehmbar und klar waren, dass man sich in zwei K?rpern gleichzeitig h?tte w?hnen k?nnen und die einen schwachen Geist h?tten zerrei?en k?nnen.
Lirael f?hlte nichts von einer derartigen Zerrissenheit und sie sa? an diesem Morgen unter ihrem Lieblingsbaum, in einer tiefen Ruhe und mit der unersch?tterlichen Gewissheit, dass der Tag und die W?rme, die er mit sich brachte, sie fr?her oder sp?ter vollst?ndig umh?llen w?rden.


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Sie sa? unter ihrem Lieblingsbaum, im Apfelhain hinter der Taverne.
Vor sich die weite K?ste von Moonglow, die offen und unbekannt vor ihr lag, wie eine Welt, die voller Abenteuer darauf wartete, entdeckt und erobert zu werden.
Unter sich die fruchtbare Erde, die die Apfelb?ume gedeihen und ihre Fr?chte saftig und s?? werden lie?. Bedeckt von einem Teppich aus k?hlem und feuchtem Gras, das einem ganzen Universum an Lebewesen als Grundlage diente und der Lirael als Bett ein weiches Nest bot.
?ber sich die Baumkrone und der Himmel, dessen Farbe sich mit jedem Augenblick von einem beinahe schwarzen Nachtblau hin zu einem Gem?lde wandelte, das eine Mischung aus klarem Blau und leuchtendem Gelb, durchzogen mit wei?em Schlackern, abbildete. Die Baumkrone bedeckte genug vom Himmel, damit sich Lirael nicht in der Gr??e und Unendlichkeit des Horizonts zu verlieren drohte, und sie war froh um den sch?tzenden Schirm, den ihr ihr Freund, der Apfelbaum, bot.
Hinter sich den borkigen Baumstamm des alten Baumes, der unersch?tterlich und unverr?ckbar dastand und Lirael Halt gab. Seine Wurzeln hielten den Boden zusammen und der Stamm bildete eine Br?cke zwischen der Welt am Boden und der Welt in der Luft.
In einigem Abstand zum Apfelhain befand sich hinter Lirael die Taverne, die f?r Lirael so wichtig geworden war. Als Fremde war sie in diese unbekannte Welt gezogen worden. Es war ihr sonderbar vorgekommen, und trotz ihrer angeborenen Abneigung gegen feste Strukturen und Einrichtungen war sie angezogen worden durch diesen Ort und vor allem durch die Lebewesen, die ihn ausmachten. Die Aura und Kraft, die von dieser Gemeinschaft ausging, war anders als alles, was Lirael kannte, und dennoch konnte sie ihr nicht widerstehen. Und so war sie als Fremde gekommen, hatte als Bekannte geholfen und war als Freundin hier sesshaft geworden.
Ihre ganze kleine Welt war von K?ste zu K?ste umgeben von einem dichten Wald, der vor Leben strotzte. Er strahlte eine Kraft aus, die dem Gef?hl, das sie aus ihrer Kindheit in den W?ldern von Yew zu kennen glaubte, nur wenig nachstand. Er umgab Liraels gegenw?rtigen Lebensmittelpunkt, als wolle er ihn und sie sch?tzen und ihr und ihrem Umfeld Geborgenheit und Sicherheit geben. Gleichzeitig bot ihr der Wald einen R?ckzugsort und verband ihre heutige Welt mit ihrem bisherigen Leben.
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Ihr Geist war noch immer erf?llt mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht vor dieser Kleinigkeit des ?bergangs von Nacht zu Tag. Widerwillig und missmutig begann sie, ihr Bewusstsein darauf vorzubereiten, dass es sich sehr bald mit den profanen Herausforderungen eines weltlichen Lebens w?rde auseinandersetzen m?ssen und sich von der Dramatik des Konflikts zwischen Welt des Mondes und Welt der Sonne w?rde l?sen m?ssen.
Mit einem stillen, aber tiefen Seufzen begann sie, sich diesen Herausforderungen anzunehmen, und drehte den Kopf ?ber die andere Schulter, um ihre Augen vor der Sonne gesch?tzt langsam ?ffnen zu k?nnen. Deutlich mehr M?he w?rde der n?chste Kraftakt ben?tigen. Sie streckte ihre Arme von sich und reckte ihren Oberk?rper etwas in die H?he, als wolle sie die letzten schlafenden Muskeln ebenfalls erwecken.
Nachdem sie sich der weiteren Existenz all ihrer Gliedma?en und Muskeln versichert hatte und ihr Geist sich langsam aber sicher gen?gend vom erholenden Gef?hl von Schlaf und Ruhe verabschiedet hatte, erhob sie sich langsam. Sie st?tzte beide Arme in die H?ften und blickte zufrieden um sich.

Ihre Welt schien intakt.

Mit leichtem Schritt begann sie zum n?chsten Apfelbaum zu laufen und erhob dabei den Blick, um die Kronen nach den saftigen Fr?chten dieser standhaften Lebewesen abzusuchen. Bareti w?rde sie dankend ?bernehmen, um Most f?r die durstigen G?ste der Taverne herzustellen, und Lirael w?rde sicherstellen, dass diese Ernte im Einklang mit den Bed?rfnissen der B?ume geschah.
Bareti hatte sie gebeten, sich um den Hain und die Umgebung der Taverne zu k?mmern, was Lirael im ersten Moment etwas befremdet hatte, schienen ihr dieser kultivierte Anbau doch fremd. Sie hatte jedoch schnell erkannt, wie viel Bedeutung Bareti dieser Aufgabe und dem Hain beima? und wie sehr die Freunde der Taverne den Schatten und die Erholung unter diesen B?umen sch?tzten. Und so hatte sie erkannt, dass dies ihre M?glichkeit war, gleichzeitig der Welt der Pflanzen, der Welt der Tiere und der Welt der wissenden Wesen zu dienen.
Sie ging langsam weiter und erblickte ein paar B?ume weiter einen Ast, an dem sich die Bl?tter langsam gelblich zu verf?rben schienen und die bei n?herem Hinsehen schwarze Spuren aufwiesen. Vermutlich von einem Mehltaupilz befallen, dachte sie und betrachtete dabei die Bl?tter, die etwas ?ber Kopfh?he hingen, eingehend. Im Wald h?tte sie sich ?ber diesen Anblick erfreut, war doch auch der Pilz ein Lebewesen und Teil eines Systems, das im Einklang lebte und funktionierte. Hier im Hain w?rde er aber die Apfelb?ume st?ren und ?ber die Zeit Sch?den verursachen, die entgegen dem Sinn dieser Kultur gingen. Lirael hatte diesen Umstand mittlerweile akzeptiert und verstanden, dass selbst Waldelfen ihre Umgebung mitformten und dass es auch eine Form der Bewirtschaftung im Einklang mit der Natur geben kann.
Sie betrachtete den Baum eine Weile und begutachtete den Stamm und die Krone in ihrer ganzen Pracht. Der Baum schien ansonsten gesund und man konnte annehmen, dass der Pilz erst diesen einen Ast befallen hatte. Vermutlich war er durch eine Amsel von einem anderen, weniger gut umsorgten Obstgarten eingeflogen worden.
Lirael ging zum Baum und tastete mit der flachen Hand der Rinde entlang. Nach einem Moment hielt sie inne und lehnte sich vor, bis ihre Stirn die Rinde ber?hrte. Still verharrte sie einen Moment in dieser Position und schloss dazu die Augen, bis sie sich schlie?lich dem kranken Ast zuwandte und ihn mit einem ge?bten Schnitt abtrennte. Sie hatte sich vergewissert, dass der Apfelbaum, dieses unglaubliche Lebewesen, das ihr und ihren Freunden Jahr f?r Jahr diese k?stlichen Fr?chte schenkte, wusste, was sie tun w?rde und warum sie es tun w?rde.

Nachdem sie den Hain abgegangen war und die reifen ?pfel abgelesen hatte, lief sie langsamen Schrittes in Richtung des Geb?udes der Taverne. Die Sonne erhellte den Tag mittlerweile deutlich, und dennoch war es noch fr?h. Es waren keine Bewegungen aus der Taverne zu sehen und Lirael vermutete, dass entweder keine G?ste ?bernachtet hatten oder dass sie gerade dabei waren, ihren Reiseproviant vorzubereiten.
Wie beinahe jeden Morgen ging Lirael zum hinteren Eingang, der direkt in die K?che f?hrte. Sie deponierte die ?pfel in einem Weidenkorb, den Bareti eigens zu diesem Zweck aufgestellt hatte. Sie nahm eine kleine Axt, die an der Wand hing, zur Hand und schnallte sie an ihren G?rtel. Danach machte sie sich in eiligen Schritten davon, als f?rchtete sie doch noch jemandem zu begegnen. Ihre Schritte waren zielgerichtet und folgten dem gewohnten Pfad um das Haus herum, auf direktem Weg in den Wald, der die Taverne umgab.
Nachdem sie einige Dutzend Schritte in den Wald hineingelaufen war, nahm sie die Axt vom G?rtel und sah sich um. Die noch immer tief stehende Sonne begann durch das Bl?tterdach zu dringen und lie? die Luft beinahe magisch gr?n leuchten. Mit erhobenem Kopf schloss sie die Augen und atmete tief ein, als wolle sie alle Energie, die Ort und Atmosph?re ihr hier geben konnten, in sich aufnehmen. Sie verharrte eine Weile und horchte den Ger?uschen des Waldes. Sie lie? die k?hle Luft und die Mischung aus Stille und vertrauten Ger?uschen auf sich wirken. Nichts konnte Lirael so beruhigen, ihr in ?hnlicher Art St?rke und Vertrauen geben, wie die Energie, die vom Kraftort Wald ausging.

Nach einer Weile begann sie langsam zu laufen und beobachtete dabei den Wald um sich. Zu ihren Aufgaben in der Taverne geh?rte es auch, die K?che mit Feuerholz zu versorgen, und sie suchte nach verdorrten oder verletzten ?sten oder B?umen, deren Nutzung den Wald st?rken w?rden. Es kam vor, dass sie auch gesunde B?ume einschlug, jedoch war ihr dies unliebsam und ?blicherweise nicht n?tig. W?hrend sie suchend durch den Wald ging und sich umsah, dachte sie an die W?lder von Yew und wie sich die W?lder von Moonglow glichen und unterschieden.


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Erst vor wenigen Tagen war sie zum ersten Mal seit Jahren nach Yew zur?ckgekehrt. Sie hatte in der Taverne ein Gespr?ch zwischen Bareti und Elfen belauscht, in dem sie ?ber Yew und die Bedeutung dieses Ortes f?r Elfen gesprochen hatten. Lirael war sich dieser Bedeutung wohl bewusst, und dennoch war sie seit langer Zeit nicht mehr an diesen Ort ihrer Kindheit zur?ckgekehrt. Zu viele belastende Gedanken waren mit diesem Ort verbunden.
Und dennoch hatte sie sich auf einmal mitten in Yew wiedergefunden.
Sie war auf der Suche nach Federn und Holzst?cken, um neue Pfeile herzustellen, und hatte bei den H?ndlern des Blackrocksyndikats nachgefragt, ob sie dies liefern k?nnten. Die H?ndlerin Talia Xerodes, der Lirael bereits einige Male in der Taverne begegnet war, hatte beinahe nerv?s angefangen, von H?ndlern in Yew zu reden, und hatte Lirael kurzerhand an der Hand genommen und war mit ihr zum Reisemagier gerannt, und ehe sie richtig wusste, was geschah, stand sie schon am Stadteingang von Yew und Talia schleifte sie durch die Gassen zur Bognerin Diundriel.
Nachdem die erste ?berumpelung verflogen war und Talia wieder davon gehastet war, stand Lirael also in Yew und wusste nicht recht, wie ihr geschah. Doch noch bevor sie sich ihrer Gef?hle vollumf?nglich bewusstwurde oder sich n?her damit befassen konnte, zupfte etwas an ihrem Hemd. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte hinter sich eine junge Lichtelfin, die auf sie einredete. Lirael schaffte es abwesend, die beiden Informationen "Suche" und "meinen Vater" auszufiltern, und glaubte zu verstehen, dass das Kind seinen Vater suchte. Noch immer abwesend und mit einem Kopf, der gef?llt mit einer ganzen Welt voller Fragen und sich gleichzeitig doch leer anf?hlte, trat Lirael mit dem Kind nach drau?en vor das Lokal, nur um eine bekannte Stimme von der Bar her zu vernehmen. Langsam ging sie in die entsprechende Richtung, wobei das Kind sie ?berholte und sie schlie?lich beinahe zur Bar mitschleifte.
Beinahe wie im Traum vernahm sie die Danksagung der beiden M?nner und setzte sich an den Tresen. Ein Glas Wasser wurde ihr vorgesetzt und sie trank einen Schluck und senkte den Kopf zur Bar hinab. W?hrend neben ihr offenbar ein Gespr?ch zwischen Tochter und Vater stattfand, sa? sie da, abwesend, unsicher und beinahe verloren. Wenngleich sie das Gespr?ch nicht aktiv verfolgte, so drohte dieser Austausch zwischen Vater und Tochter sie doch schmerzlich an ihre eigene verlorene Kindheit zu erinnern.
Nach einigen Minuten war es abermals ein Zupfen an ihrem Hemd, das sie aufriss, als das Kind sich von ihr verabschieden wollte. Der ?ltere Lichtelf, der offenbar der Vater des Kindes war, brachte sie ins Bett. Der Stimme nach war er es, mit dem Bareti an jenem Abend in der Taverne gesprochen hatte.
Nach wenigen Minuten war er zur?ck und setzte sich erneut an den Tresen, jedoch auf Liraels andere Seite, so dass sie nun zwischen dem j?ngeren Waldelfen und dem ?lteren Lichtelfen sa?. Die beiden stellten sich als Rianon und E'lessar vor und sie sprachen eine Weile ?ber die W?lder von Yew und ihre Bedeutung.
Lirael gestand, das Gespr?ch mit Bareti belauscht zu haben, und erz?hlte ?ber die Hintergr?nde ihres langen Fernbleibens aus Yew.
Nach einiger Zeit, deutlich sp?ter als Lirael vermutet h?tte, verabschiedeten sich die beiden und sie blieb allein am Tresen zur?ck. Obschon die Nacht bereits ?ber Yew hereingebrochen war, sah sie in die Kronen der gro?en und kraftvollen B?ume, die diesen zentralen Ort der Stadt umgaben. Es war beeindruckend, welche Aura und Kraft von ihnen ausging, und Lirael verstand besser, wieso dies der Ort der Elfen war, und obschon sie die Hintergr?nde f?r ihr langes Fernbleiben bisher bewusst verdr?ngt hatte, war sie sich sicher, dass sie Yew wohl bald wieder besuchen w?rde. Sie war sich jedoch auch sicher, dass sie wenig Drang versp?rte, sich mit dem Trauma, das ihre Kindheit und Jugend umgab, zu befassen.
Und dennoch, sie war in Yew gewesen und ihre Welt schien nach wie vor intakt.
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Mittlerweile hatte Lirael einen stattlichen Stapel Brennholz aufbereitet und begab sich auf den R?ckweg zur Taverne. Sie n?herte sich wiederum von hinten dem Geb?ude und stapelte das Holz sorgf?ltig neben dem Hintereingang zur K?che auf. Sie h?rte, wie im Innern angeregte Diskussionen gef?hrt wurden, und vermutete, dass eine ganze G?steschar auf das Essen wartete, das in der K?che zubereitet wurde. Durch das K?chenfenster erblickte Lirael Bareti, die offensichtlich dabei war, bei der Zubereitung zu helfen.
Ihre Blicke trafen sich f?r einen Moment und Baretis Miene erhellte sich, als sie ihre Freundin erblickte. Obwohl sie durch ein Fenster getrennt waren und der Blickkontakt nur wenige Augenblicke gedauert hatte, war der Austausch so umfassend, wie es nur durch eine tiefere Verbindung m?glich war.
Lirael hatte nicht das Bed?rfnis, sich in den Schankraum zu G?sten oder Freunden zu begeben. Im Gegenteil, sie sch?tzte ihre Ruhe und Freiheit und mied den Kontakt mit Unbekannten. Bareti wusste dies und respektierte es und freute sich deshalb umso mehr, dass sie Lirael unerwarteterweise gesehen hatte. Lirael hatte ein Buch aus ihrer Tasche genommen und winkte Bareti damit, wobei sich ein breites L?cheln um ihren Mund bildete. Beim Anblick des Buches verbreiterte sich Baretis L?cheln und sie nickte ihr wissend zu.

Auf dem R?ckweg in den Wald dachte Lirael erneut ?ber die Taverne und ihre Freunde, insbesondere Bareti, nach. Besonders nach dem Besuch in Yew wusste sie, wo sie hingeh?ren w?rde, und dennoch versp?rte sie keinen Drang, der nat?rlichen Anziehung dieser Heimat der Elfen nachzugeben. In der Taverne hatte sie etwas gefunden, das sie lange gesucht hatte: Platz, Zugeh?rigkeit, Aufgaben und Anerkennung. Und Zuneigung, die insbesondere Bareti ihr deutlich zeigte. Bareti hatte sich in den letzten Wochen viel Zeit genommen f?r Lirael und hatte ihr enorm viel gezeigt und ihr viel zugeh?rt. Es war Lirael nicht ganz klar, woher dies r?hrte, aber sie f?hlte sich ihrer Freundin verbunden und sch?tzte sie sehr.

Nicht zuletzt hatte Bareti Lirael auch auf die Idee ihres aktuellen Projektes gebracht. Nachdem sie ihre Aufgaben f?r die Taverne am Morgen erledigt hatte, konnte sie sich nun ganz mit diesem Projekt befassen, wovon das Buch, das sie bei sich trug, ein Teil war.
Sie war auf der Suche nach einer Trauerweide, diesem Baum, dessen h?ngende Bl?tter und Zweige auff?llig und jedem bekannt sind. Sie wachsen vorwiegend an Wasserl?ufen, und Lirael war auf dem Weg zum n?chsten Bach, den sie kannte. Sie hoffte dort einen derartigen Baum zu finden, denn sie wollte Zeichnungen seiner Bl?tter und seiner Rinde anfertigen.
Inspiriert von Baretis Forschung hatte Lirael die Idee entwickelt, ihren geliebten Wald zu dokumentieren und alles verf?gbare Wissen ?ber die Pflanzen in ihm aufzuschreiben. Spa?eshalber und obschon sie noch fast gar nichts geschrieben hatte, hatte sie sich bereits Gedanken gemacht ?ber den Titel des Werks:
Flora Moonglowiensis ? die Pflanzen von Moonglow
Und in einem sp?teren Schritt lie?e sich das Werk ausbauen auf die ganze bekannte Welt:
Flora Valmorrica ? Ein botanischer F?hrer durch Valmorra

Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen war, h?rte sie langsam das Pl?tschern eines Wasserlaufs und sah, wie sich das Kronendach weiter vorne zu ?ffnen begann. Nachdem sie einige weitere Minuten dem Wasserlauf gefolgt war, erblickte sie tats?chlich die charakteristische Kronenform einer Trauerweide am Ufer des Bachs. Zufrieden hielt sie einen Moment inne und erfreute sich an der Sch?nheit, die die Natur auch an diesem Ort hervorgebracht hatte. Sie setzte sich dann unter den Baum und nahm ihr Buch hervor und begann, sich einige Notizen zu machen und so gut es ihre Fertigkeiten zulie?en, die Bl?tter und Rinde abzuzeichnen.


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Flora Moonglowiensis ? die Pflanzen von Moonglow

Eintrag: Trauerweide
Die Trauerweide ist ein Baum, der Wuchsh?hen von 6 bis 12 Mannsh?hen erreicht. Der Stammdurchmesser erreicht ?ber 42 Fingerbreit. Die ?ste sind weit ausladend und die Zweige sind d?nn, lang, rutenf?rmig und ?berh?ngend. Die Rinde ist anfangs seidig behaart, hellgrau und sp?ter kahl.
Die Laubbl?tter sind in Blattstiel und -spreite gegliedert. Die einfache Blattspreite ist bei einer L?nge von bis zu 8 FIngerbreit sowie einer Breite von etwas ?ber einem Fingerbreit lanzettlich mit lang zugespitztem oberem Ende und am Grund genauso zusammenlaufend. Der Blattrand ist knorpelig ges?gt. Die Blattoberseite ist dunkelgr?n und die -unterseite graugr?n, beide Seiten sind kahl.
Noch zu erg?nzen:
Generative Merkmale
Zeichnungen Bl?tter
Zeichnungen Knospen und Bl?ten
Zeichnungen Rinde

Weitere Eintr?ge, die vervollst?ndigt werden m?ssen:
Schw?rzling
Farn, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Aschenbl?te
Pilz, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Nachtschatten
Ihre Bl?te wird Nachtherz genannt und ist offenbar giftig.
Mondtau
Moos, auch auf Moonglow heimisch
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Die letzten vier Eintr?ge musste sie ebenfalls noch vervollst?ndigen und dazu bei Nathanael mehr Informationen einfordern.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Lirael damit, die Zeichnungen fertigzustellen. Zwischendurch hielt sie immer wieder inne und erfreute sich an den Kl?ngen und der Sch?nheit um sich herum. Sie stand zwischendurch immer wieder auf und suchte die Umgebung nach weiteren interessanten oder ihr unbekannten Pflanzen ab.
Als die Sonne langsam schw?cher wurde, machte sie sich auf den R?ckweg zur Taverne. Als sie dort ankam, waren noch die letzten Sonnenstrahlen ?ber dem nahen Wasser sichtbar. In der Taverne schien noch immer oder wieder Hochbetrieb zu herrschen. Es schimmerte bereits Kerzenlicht durch die Fenster nach drau?en und das Gel?chter und die angeregten Gespr?che von zufriedenen G?sten waren h?rbar. Lirael machte einen Bogen um das Geb?ude, nur um sich dann wiederum dem Hintereingang zu n?hern. Ein Topf mit etwas Eintopf darin und zwei ?pfel standen auf den Holzdielen vor der T?r. Bareti hatte wie ?blich etwas Essen f?r sie beiseitegestellt und Lirael nahm es mit auf ihrem Weg zum Apfelhain.
Es mochte Au?enstehenden sonderbar vorkommen, aber Lirael wollte es so. Sie w?re im Schankraum willkommen gewesen und Bareti h?tte sich gefreut, Lirael bei sich am Tresen oder Tisch zu sehen. Aber Lirael zog die Ruhe und Einsamkeit des Apfelhains der Gesellschaft in der Taverne vor. Und nicht selten gesellten sich im Verlaufe des Abends Nicoletta oder Bareti f?r eine Weile zu ihr und sie erz?hlten sich von den Erlebnissen des Tages.
Und so sa? Lirael wiederum unter ihrem Lieblingsapfelbaum, mit Blick auf die See, und a? zufrieden etwas von Baretis Eintopf. Sie beobachtete, wie der Kampf zwischen Tag und Nacht sich erneut abspielte, als ob es um das ?berleben zweier Welten ginge. Ihre Gedanken kreisten aber auch immer mehr um den Kampf in ihrem Kopf, zwischen ihren verschiedenen Leben und den verschiedenen Welten, in denen sie wandelte. Ihre alte Heimat Yew, mit den Elfen, zu denen sie geh?rte, und ihre neue Heimat, die Taverne, und den Freunden, die sie hier gewonnen hatte.

F?r den Moment schien ihre Welt intakt, aber sie bef?rchtete, dass sie sich nicht f?r immer vor diesem inneren Konflikt w?rde verstecken k?nnen.

Episode II: Liraels verzweifelte Suche

Verfasst: 17 Jun 2025, 08:37
von gelöschter Charakter_525
Episode II: Liraels verzweifelte Suche

Lirael rannte? sie rannte so schnell sie konnte durch das Dickicht des Unterholzes, duckte sich unter ?sten hindurch, sprang ?ber dornige Brombeeren und wich Str?uchern aus. Sie rannte nicht oft? nicht, weil sie es nicht konnte oder nicht mochte, sondern weil sie es zu sehr sch?tze ihre Umwelt in allen Details zu beobachten, zu erleben und in sich aufzunehmen.

Doch jetzt war Eile geboten, denn es ging um Leben und Tod.

Sie war auf der Suche nach einer Pflanze, einem ganz besonderen Gew?chs, dessen heilende Kr?fte ben?tigt wurden, um grosses Leid abzuwenden. Die erste Arznei, die Brennnessel, hatte sie schnell gefunden, wuchs sie doch h?ufig entlang von Pfaden und Wegen. Aber das zweite Gew?chs, das Eisenkraut, war schwieriger zu finden. Es war selten und wuchs nur an wenigen Orten, meist im Randbereich von Lichtungen in Begleitung von Gr?sern. Und genau nach so einem Ort war Lirael auf der Suche. Sie brauchte unbedingt das Eisenkraut da es helfen w?rde die Blutung zu lindern, die Blutung, die den Verletzten t?ten w?rde, wenn sie nicht bald gestillt wurde. Sie hatte bereits Brennnesseln besorgt, die helfen sollten, die die Anzeichen der Vergiftung zu lindern, die vermutlich f?r das Fieber und den Sch?ttelfrost verantwortlich waren. Als dringender stellte sich jedoch die Wunde heraus, die erst auf den zweiten Blick sichtbar wurde, im hinteren Lendenbereich, nur wenige fingerbreit und kaum sichtbar, vermutlich von einem kleinen Dolch. Dennoch war es diese Wunde die sich als gravierender herausstellte und ?ber die in den letzten Stunden eine betr?chtliche Menge Blut abgeflossen war. Nur eine Arznei, die half die Wunde schneller zu verschliessen konnte noch helfen.

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Am Vorabend war die Stimmung in der Taverne eine ganz andere?
Die ganze Gruppe war in der Taverne versammelt und bereitete sich auf den Ansturm des Abends vor. Die Sonne stand noch eine Handbreit ?ber dem Horizont und es sassen erst zwei G?ste im Schankraum, die auf ihr fr?hes Abendessen warteten, das Bareti gerade in der K?che zubereitete. Nicoletta stand hinter dem Tresen und trocknete einige Gl?ser ab, w?hrend Ulaf Bierf?sser von draussen hineinschleppte, um den Vorrat hinter dem Tresen wieder aufzustocken. Nathanael war auf der oberen Etage und sass vermutlich auf seinem Sessel, in dem er am liebsten B?cher aus Baretis Bibliothek studierte. Lirael war draussen im Garten und schnitt Majoran und Rosmarin, damit Bareti ger?stet war f?r die G?stezahl, die an diesem Abend erwartet wurde.
Und bald begann der Ansturm und die Taverne f?llte sich, war es doch schliesslich Samstagabend. Allerlei G?ste fanden sich im Verlauf des Abends ein, solche die auf der Durchreise waren, solche die sich hier mit Freunden trafen und solche die etwas Gesellschaft suchten. Nicoletta und Bareti waren in ihrem Element und genossen den Betrieb und bl?hten regelrecht auf im Trubel der vollen Taverne.
Lirael blieb zuerst noch eine Weile draussen und richtete noch etwas Heu sowie einen Korb mit ?pfeln her f?r die Pferde her. Nach einer Weile hatte sie jedoch alles erledigt, was es draussen noch zu erledigen hab und sie begab sich ebenfalls in den Schankraum. Sie setzte sich in eine der Ecken und beobachtete das rege Treiben mit Distanz. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und beinahe jeder Platz war besetzt. Nicoletta nickte Lirael zu und sie wusste, dass sie sich nun ihrer n?chsten Aufgabe w?rde stellen m?ssen. Sie erhob sich langsam und ging mit betont gem?chlichen Schritten zum Tresen, band sich eine Sch?rze um und stellte sich neben Nicoletta hinter die Bar.
Lirael mochte es nicht hinter dem Tresen zu stehen und die Besucher zu bedienen. Es war weniger das Bedienen die sie st?rte, sondern vielmehr die Tatsache im Mittelpunkt zu stehen und unweigerlich eine Vielzahl von Augenpaaren auf sich zu wissen. Noch dazu hatte sie M?he sich die unglaubliche Anzahl an m?glichen Getr?nken zu merken und auch die oberfl?chlichen Gespr?che, die die G?ste teilweise einforderten, waren ihr unangenehm. Alles in allem konnte sich Lirael wenige T?tigkeiten vorstellen, die sie weniger gern gemacht h?tte. Und dennoch stand sie nun da und tat genau, was ihr so unliebsam war.
Sie war nun Teil einer Gruppe, einer Gemeinschaft, und als solche unterst?tze man sich und nahm auch unliebsame Dinge in Kauf. Sie wusste wie viel die Taverne Bareti bedeutete und um sie zufrieden und gl?cklich zu wissen, w?rde sie vieles in Kauf nehmen.

Nachdem der letzte Gast gegangen war, wurde aufger?umt. Sie arbeiteten Hand in Hand und selbst Mephrit hat sich die schweren Handschuhe ausgezogen und machte sich daran in der K?che die T?pfe abzuwaschen und wegzur?umen. Sie waren alle m?de und doch konnten sie nach der Anstrengung des Abends nicht einfach abschalten und sich hinlegen. Und so tranken sie gemeinsam noch ein Glas Most und sassen noch eine Weile zusammen und diskutierten ?ber den Abend, verhandelten die verschiedenen G?ste, lachten ?ber Peinlichkeiten, die sich zugetragen hatten und sprachen besorgt ?ber einige Stammg?ste. Als Lirael sp?rte, wie sie ein G?hnen unterdr?cken musste, strecke sie sich und erhob sich, langsam ging sie zur T?r und trat auf die Terrasse hinaus, um etwas frische Nachtluft einzuatmen. Sie blickte zum Himmel, beobachtete die Sterne und setzte sich dann auf die Treppe.
Es war in diesem Moment der Ruhe, in der Lirael durch die Stille eine Art leises Wimmern vernahm. Kaum h?rbar, fein und beinahe nur f?r die Ohren einer Elfin zu h?ren klang es wie ein Schluchzen und St?hnen. Sie erhob sich und blickte in die Nacht hinaus die finster war ohne den Mondschein, der sich erst sp?ter zeigen w?rde. Nur dank ihrer Elfenaugen, deren Blick gesch?rft war durch ein Leben im Halbschatten des Waldes, war es ihr m?glich, ein schwarzes B?ndel wahrzunehmen, das weit vorne am Wegrand lag. Die Laute schienen aus dieser Richtung zu kommen und Lirael entschied sich der Sache auf den Grund zu gehen. Sie ging mit vorsichtigen, aber z?gigen Schritten in der entsprechenden Richtung, bis ihr klar wurde, dass es sich um eine Person handeln musste, die dort am Boden lag. Ihre Schritte wurden weiter und sie begann beinahe zu rennen, bis sie sich ?ber den K?rper beugen konnte, der hier am Boden lag.
Das Gesicht der Person war halb dem Boden zugewandt und lag im Schlamm. Lirael versuchte sie zu bewegen und zu sehen, was ihr fehlte. Aufgrund der Statur musste es sich um eine Frau handeln, was sich best?tigte als sich Lirael ?ber sie lehnte, um die freie H?lfte des Gesichtes erblicken zu k?nnen. Sie war in einen schweren Stoff geh?llt, unklar ob es sich um einen Umgang oder Mantel handelte, der aber nass war. Lirael versuchte sie anzusprechen, aber die Person schien nicht ansprechbar und ohnm?chtig. Lirael richtete sich auf und kniete vor der Gestalt am Boden, die H?nde nass vom Stoff, wobei sie mit Schreck feststellte, dass die Quelle der Feuchtigkeit Blut sein musste, dass sie nun ?berall an ihren H?nden hatte.
Sie musste Hilfe holen, denn unm?glich konnte sie die Verwundete selbst zur Taverne zur?ckschleifen. Die Strecke war nicht weit, sie konnte das Licht der Taverne nicht weit entfernt durch die B?ume sehen, aber es war unm?glich, dass sie auch eine kleine Person diese Strecke w?rde tragen k?nnen. Sie erhob sich, blickte noch einmal auf die Gestalt und rannte dann los, so schnell sie konnte.
In der Taverne st?rmte sie zur T?re hinein, die Freunde der Taverne sassen noch immer in ruhige Gespr?che vertieft dort und genossen die letzten Minuten vor der verdienten Ruhe der Nacht.
?Ich brauche Hilfe!? Schrie sie beinahe als sie zur T?re hineinst?rzte. Bareti schoss auf, vor Schreck aber auch vor Verwunderung, war es doch absolut ungew?hnlich Lirael derart laut und emotional zu h?ren. Auch die anderen wandten ihr erschrocken den Blick zu.
?Da ist jemand verletzt vor der Taverne, wir m?ssen sie hierherholen!?
Ihr Blick fiel unmittelbar auf Mephrit, der bereits dabei war sich zu erheben. Er war wohl der Einzige, der im Stande sein w?rde, eine Person zur?ck zur Taverne zu tragen und nach den vielen Stunden, die er am Amboss verbrachte, w?rde er dies problemlos tun k?nnen.
Gleichzeitig begann Bareti bereits das Szepter zu ?bernehmen:
?Konntest du sehen was der Person fehlt? Ist sie schwer verletzt?? Lirael hob vielsagend ihre blutverschmierte Hand und war bereits wieder halb aus der T?re um zur?ck zur Verwundeten zu rennen. Mephrit folgte ihr und auch Nicoletta rannte mit ihnen aus dem Geb?ude. Bareti blieb zur?ck und stiess einige Tische zusammen und suchte T?cher und Medizin zusammen.
Bei der Verwundeten angekommen hielten sie einen Moment inne, um die Szene aufzunehmen. Schliesslich kniete sich Mephrit nieder und hob die Frau auf seine Arme, was ihm mit Leichtigkeit gelang, war die Frau doch kaum halb so gross wie er. Nun auf seinen Armen wurde zum ersten Mal der Blick auf ihr Gesicht vollst?ndig frei und ihre blonden Haare hingen hinunter. So schnell wie m?glich eilten sie zur Taverne zur?ck, wo Mephrit sie auf die hergerichteten Tische legt.
Baretis H?nde arbeiteten schnell und pr?zise, w?hrend sie die blutgetr?nkten Stoffbahnen beiseiteschob. Mit jeder freigelegten Stichwunde wurde das Ausma? der Verletzungen deutlicher - feine, tiefe Einstiche, wahrscheinlich von einem schmalen Dolch verursacht. Ihre Bewegungen waren routiniert, als sie begann, die Wunden zu s?ubern und zu verbinden.
"Halte sie fest", wies sie Mephrit an, w?hrend ihre H?nde unentwegt arbeiteten. Nicoletta eilte mit dampfendem Wasser herbei, w?hrend Lirael schweigend frische Bandagen und Heilkr?uter reichte. Die Taverne, sonst voller Leben, war jetzt nur noch ein Ort konzentrierter Stille, unterbrochen vom leisen St?hnen der Verletzten.
Zwischen den Versorgungsarbeiten tauschten sie besorgte Blicke aus. "Sollten wir nach Angreifern Ausschau halten?", fl?sterte Nicoletta. Ohne ein Wort griffen Ulaf und Nathanael nach ihren Waffen und verschwanden in der Dunkelheit, um das Gel?nde abzusuchen.
Stunde um Stunde verging, bis die ersten V?gel den neuen Tag ank?ndigten. Endlich gelang es, die meisten Blutungen zu stillen. Die Frau atmete flach, aber gleichm??ig - ein schwaches Zeichen der Stabilisierung.
Bareti musterte den durchtrainierten K?rper der Fremden. Die alten Narben, die sich ?ber ihre Haut zogen, erz?hlten von einem Leben voller K?mpfe. Doch diese neuen Wunden... sie waren anders. T?ckischer.
Besonders die tiefe Stichwunde im Lendenbereich bereitete Bareti Kopfzerbrechen. Trotz aller Bem?hungen sickerte immer wieder Blut nach, und die Haut verf?rbte sich unheilvoll. "Das sieht nach Gift aus", murmelte sie, w?hrend sie erneut eine durchtr?nkte Bandage abnahm.
Die Bl?sse der Frau war inzwischen be?ngstigend. Bareti hob den Blick und sah in die besorgten Gesichter ihrer Freunde. "Ich wei? nicht, ob sie das ?bersteht", gestand sie schlie?lich. "Ich muss in meinen B?chern nachsehen."
W?hrend Bareti in der Bibliothek verschwand, blieben die anderen zur?ck. "Wer k?nnte das gewesen sein?", fragte Nathanael. "Und warum gerade hier?" Die R?ckkehr von Ulaf und Nathanael brachte keine Antworten - keine Spuren, keine Hinweise. Zumindest schien die Taverne nicht das Ziel gewesen zu sein.
Mephrit nutzte die Zeit, um aus Brettern und Decken eine notd?rftige Liege zu zimmern. Behutsam betteten sie die Verletzte darauf, die Seitenlage erleichterte das Atmen.
Als Bareti zur?ckkehrte, trug sie einen schweren Folianten unter dem Arm. Sie verglich die Wunde minuti?s mit einer Zeichnung im Buch, dann richtete sie sich auf. Ihr Blick traf Liraels. "Brennnesseln", begann sie, z?gerte kurz, "und Eisenkraut."
Liraels anf?ngliches L?cheln erstarb, als sie den zweiten Namen h?rte. "Ein Gerinnungsgift", erkl?rte Bareti und deutete auf die tiefe Wunde. "Deshalb h?rt die Blutung nicht auf."
Die Stille, die folgte, war schwer wie Blei. Lirael stand bereits, wissend, was von ihr erwartet wurde. "Ich werde versuchen, die Verletzung zu stabilisieren", sagte Bareti leise. "Aber wir brauchen diese Kr?uter. Und selbst wenn..." Ihr Satz blieb unvollendet, die unausgesprochene Bef?rchtung hing im Raum.

---
Die Brennnesseln hatte sie m?helos gefunden ? sie wuchsen in ?ppigen B?scheln entlang der Waldpfade. Doch das Eisenkraut... dieses widerborstige Kraut wollte sich ihr nicht zeigen. Auf Moonglow war es ohnehin eine Rarit?t, ein scheues Gew?chs, das sich nur den Geduldigsten offenbarte. Doch Lirael kannte diese W?lder wie ihre eigenen H?nde. Die anderen w?rden erwarten, dass sie mit vollen Taschen zur?ckkehrte. Sie selbst hatte es erwartet.

Den ganzen Morgen durchstreifte sie jedes Fleckchen Erde, das ihr als m?glicher Standort erschien. Sie suchte in den lichtdurchfluteten Randzonen der Lichtungen, zwischen den knorrigen Wurzeln alter Eichen, sogar an den ungew?hnlichen Stellen, wo sie es vor Jahren einmal gesehen hatte. Doch als die Sonne ihren h?chsten Stand erreicht hatte, kehrte sie mit leeren H?nden zur?ck ? nur die Brennnesseln als stumme Zeugen ihres vergeblichen Suchens in der Tasche.
Der verstohlene Blick, den ihr Nicoletta beim Eintreten zuwarf, sagte ihr alles, noch bevor Bareti sie wortlos hinausf?hrte. Die Wirtin nahm ihre H?nde in die eigenen, und Lirael sp?rte bereits die Worte kommen, die sie nicht h?ren wollte.
"Sie ist gegangen, Lirael."
Liraels Blick verhakte sich an Baretis Lippen, als k?nne sie die Wahrheit dadurch ungeschehen machen. Mechanisch griff sie nach ihrer Tasche, wo die Brennnesselbl?tter hervorlugten. Bareti sch?ttelte kaum merklich den Kopf.
"Es war zu sp?t. Die Wunden... sie waren zu tief."
"Aber mit Eisenkraut...", presste Lirael hervor.
"Vielleicht", seufzte Bareti. "Vielleicht auch nicht." Ihre Stimme war ein Hauch, als f?rchte sie, die tote Frau damit zu wecken.
Die Tr?nen brannten, doch sie fielen nicht. Nicht jetzt. Nicht vor den anderen. Erst als sie im Gemeinschaftsraum stand und auf die reglose Gestalt blickte ? die blonden Str?hnen, die sich jetzt im Licht der Kerzen golden f?rbten ?, brach etwas in ihr. Mephrit drehte die Tote behutsam, und zum ersten Mal sah Lirael das ganze Gesicht: edel geschnitten, selbst im Tod noch von einer eigenartigen W?rde.
Warum hatte sie nicht fr?her gesp?rt, dass jemand in Not war? Warum hatte der Wald ihr das Eisenkraut verweigert, ausgerechnet heute? Die Fragen h?mmerten in ihrem Sch?del, jeder Gedanke ein neuer Nagel im Sarg ihrer Selbstvorw?rfe.
Baretis Arm legte sich um ihre Schultern. "Wir haben alles getan", fl?sterte sie. Doch Lirael h?rte nur das unausgesprochene "Du hast versagt".
Sie entwand sich der Umarmung und floh in den Apfelhain. Stunden sp?ter fand sie sich an der Stelle wieder, wo alles begonnen hatte. Keine Spur, kein Hinweis ? nur das stumme Echo eines Verbrechens.
Und dann, als wollte das Schicksal ihr ins Gesicht lachen, entdeckte sie es: Ein bescheidenes B?schel Eisenkraut, seine rosa Bl?ten im Abendlicht wie blutige Tr?nen. Lirael wischte sich ?ber die Augen und machte einen weiten Bogen um die Taverne, wo die G?ste in ged?mpfter Stimmung sa?en.
Bareti fand sie schlie?lich unter dem alten Apfelbaum. Schweigend lie? sie sich neben Lirael nieder, der Arm um ihre Schultern eine stumme Br?cke zwischen ihren Welten. Lirael lehnte ihren Kopf an Baretis Schulter, und so verharrten sie, bis die letzten Sonnenstrahlen erloschen.
"Morgen beerdigen wir sie", sagte Bareti schlie?lich und erhob sich, w?hrend die Dunkelheit Lirael einsamer zur?cklie? als je zuvor.

---
Der Morgen graute k?hl und still, als sie sich im hintersten Winkel des Apfelhains versammelten. Mephrits Picke und Ulafs Schaufel arbeiteten im synchronen Rhythmus, w?hrend die Erde sich neben dem Loch auft?rmte. Bareti hatte t?rkisfarbene Flachsbl?ten zu einem schlichten Strauss gebunden - ein schwacher Farbtupfer in der tr?ben Morgend?mmerung.
Als das Grab fertig war, trugen der Zwerg und der bullige Schmied die Tote herbei, ihr Leib in schlichtes Leinen geh?llt. Das ungleiche Paar wirkte heute nicht komisch, sondern nur unendlich m?de. Bareti legte den Blumenstrauss auf die reglose Brust und verharrte einen Augenblick mit gesenktem Kopf.
In der schweigenden Runde war nur das Rascheln der Bl?tter zu h?ren. Dann kniete Lirael nieder und l?ste vorsichtig den goldenen Armreif von der erkalteten Hand. Nicolettas Atem stockte h?rbar, doch Baretis zustimmender Blick lie? keinen Widerspruch zu.
"Falls jemand nach ihr sucht", erkl?rte Lirael mit belegter Stimme, w?hrend sie den Reif an ihr eigenes Handgelenk schob, "wird dies ein Zeichen sein." Nicolettas Stirn gl?ttete sich langsam.
Bareti trat vor und sprach mit ruhiger, fester Stimme: "Wir kannten dich nicht, Fremde, doch wir waren bei dir, als du gingst. M?gest du Frieden finden. Und wir werden die Wahrheit ?ber dein Schicksal ans Licht bringen."
Ein Nicken, dann senkten Mephrit und Ulaf den Leichnam in die Erde. Die dumpfen Aufschl?ge der Erdklumpen auf dem Leinentuch hallten unertr?glich laut in der Morgenstille. Zum Schluss rammten sie einen Pfahl ins Erdreich und befestigten ein schlichtes Holzschild - sie kannten die G?tter dieser Fremden nicht, aber ein junger Apfelbaum w?rde hier Wurzeln schlagen als stummes Denkmal.
Der R?ckweg zur Taverne verlief schweigend. Doch als die anderen durch das Tor traten, bog Lirael abrupt ab und verschwand zwischen den B?umen. Ihre Stiefel traten hart auf, als w?rde sie den Wald f?r sein Versagen bestrafen wollen.
Baretis Worte klangen hohl in ihren Ohren. Zwei Mal hatte sie das Schicksal dieser Frau in H?nden gehalten - beim Finden und beim Suchen der Heilkr?uter. Zwei Mal hatte sie versagt. Irgendwo wartete vielleicht eine Familie, ahnungslos, w?hrend sie hier im Dreck verweste.
Mit jedem Schritt wuchs die Wut - gegen sich selbst, gegen den verr?terischen Wald, sogar gegen Baretis stoische Gelassenheit. Wie konnte sie nur so gleichm?tig bleiben, wo doch diese Trag?die so klar auf Liraels Schultern lastete?
Die ?ste schlugen gegen ihre Arme, als sie immer tiefer in den Wald eindrang, weg von der Taverne, weg von den Blicken der anderen, weg von dieser unertr?glichen Schuld, die sie doch nirgendwo absch?tteln konnte.

Episode III Rückblick 1 - Zwischen Moos und Mondlicht

Verfasst: 12 Jul 2025, 22:42
von gelöschter Charakter_525
Episode III Rückblick 1 - Zwischen Moos und Mondlicht

Das Flüstern im Blattwerk
Die Blätter tanzten leise über ihr, geführt vom Wind, der wie ein ferner Atem durch das Blätterdach strich. Lirael lag ausgestreckt auf einem dicken Ast, hoch oben in einer alten Eiche, den Blick gen Himmel gerichtet. Zwischen den Zweigen blitzte das Licht der Nachmittagssonne hindurch, gefiltert durch sattgrünes Laub. Sie zählte die Strahlen nicht mehr. Es war ein stiller Tag, ein Tag ohne Ziel – und doch voller Bedeutung.
Ein Falkenruf zerriss kurz die Luft, dann wieder Schweigen. Unter ihr bewegte sich der Wald wie ein atmendes Wesen, jedes Rascheln, jeder Duft, jede Bewegung ein Teil eines größeren Ganzen. In ihren Fingern drehte sie einen Farnwedel, langsam, gedankenverloren. Sie hatte ihn heute früh gefunden – an einem Ort, den sie kannte, aber lange nicht besucht hatte. Der Boden dort war weicher gewesen als sonst. Frischer. Und es war ihr, als hätte der Wind dort anders geklungen.

Wärmer.
Vertrauter.

Ein Käfer kroch ihren Unterarm entlang, sie spürte ihn kaum. Ihre Gedanken wanderten.

Nicht in die Zukunft. Auch nicht in das Jetzt.

Sondern zurück. Zurück zu jenen ersten Jahren in der Wildnis. Zurück zu der Zeit, als sie nicht wusste, ob sie Teil dieses Waldes war – oder nur eine Fremde in seinem Schatten. Und weiter zurück, zu jenem Tag, als sie ihn traf.

Den Alten.

Den schweigsamen Waldelfen mit Augen wie dunkles Holz und einer Ruhe, die mehr sagte als Worte je könnten.

Lirael schloss die Augen.
Und ließ sich fallen – nicht vom Ast, sondern in die Erinnerung.
In das, was war.
Und was in ihr nie aufgehört hatte zu sein.

Am Rand der Welt
Es hatte keine klare Grenze gegeben. Kein „Jetzt gehe ich“ und kein „Jetzt bin ich fort“. Der Übergang war fließend gewesen, wie Nebel zwischen Bäumen. Ein letzter Blick auf ein Haus, das nie ihres gewesen war. Eine Tür, die sich schloss – nicht mit einem Knall, sondern mit Gleichgültigkeit.

Und dann war da nur noch der Wald gewesen.

Die ersten Wochen waren schwierig. Kälte kroch in ihre Glieder, selbst wenn die Sonne schien. Manchmal verirrte sie sich, stand plötzlich vor einem fremden Felsen oder in einer Schlucht, deren Wände zu hoch zum Klettern schienen. Sie lebte von Wurzeln, Beeren, kleinen Tieren, die sie mit Glück oder List fing. Manchmal brachte sie sich in Gefahr. Manchmal rannte sie blind durch den Wald, nur um der Enge der eigenen Gedanken zu entkommen.

Aber sie blieb.
Tag um Tag, Nacht um Nacht

Mit der Zeit begann sie, Muster zu erkennen: Welche Moose sich unter den Füßen weicher anfühlten, weil dort Wasser lag. Welche Vögel zuerst riefen, wenn sich ein Raubtier näherte. Welche Pflanzen morgens ihren Duft veränderten, je nach Wetter. Sie sprach nicht mehr viel – mit niemandem. Doch die Stille war kein Feind mehr.
In der Dunkelheit hörte sie das Rascheln der Blätter über sich. In der Ferne das Knacken eines Astes, das Huschen eines kleinen Tieres. Und manchmal, wenn der Wind durch die Zweige fuhr wie ein Flüstern, hatte sie das Gefühl, der Wald höre ihr zu. Nicht als Mensch, nicht als Kind – sondern als Wesen. Einmal, in einer regnerischen Nacht, fand sie Zuflucht unter den Wurzeln einer umgestürzten Tanne. Der Boden war feucht, aber der Stamm schützte sie, und in der Enge des Raumes legte sich zum ersten Mal seit langem ein Hauch von Frieden auf sie. Sie lauschte dem Tropfen des Wassers, das durch die Nadeln fiel, und schlief ein mit dem Gefühl, dass etwas über sie wachte – etwas Altes, etwas Geduldiges.

Es war in diesen Tagen, dass sich etwas veränderte.
Nicht plötzlich. Nicht dramatisch.
Aber spürbar.

Die Tiere flohen nicht mehr sofort, wenn sie kam. Ein Reh sah sie an und wandte sich langsam ab. Ein Rabe krächzte, als würde er sie prüfen. Und sie begann, nicht mehr nur zu überleben – sondern zu leben. Ein Ort im Innern wurde still. Und in dieser Stille war Platz.
Platz für etwas Neues.
Für eine Begegnung.
Eine, die alles verändern würde.

Der, der mit dem Wind sprach
Es war ein grauer Morgen gewesen, dunstig und kalt. Der Nebel hing schwer zwischen den Bäumen, als hätte der Wald beschlossen, seine Geheimnisse einzuschließen. Lirael war stundenlang gewandert, ohne Ziel, nur dem Gefühl folgend, dass es heute anders war. Irgendetwas in der Luft vibrierte – ein leises, kaum wahrnehmbares Drängen, wie eine Stimme ohne Worte.
Sie betrat eine Senke, umgeben von alten Eichen, deren Äste sich weit über den Boden krümmten. Moos bedeckte alles – Steine, Wurzeln, sogar einen verfallenen Altar, der wie ein Überbleibsel aus uralter Zeit wirkte.

Dort stand er.
Still.
Als wäre er schon immer da gewesen.

Ein alter Elf, von Jahren gezeichnet, aber aufrecht wie ein Baum im Wind. Seine Haut war wie Rinde, braungrün, und in seinem langen Haar hingen kleine Federn, Samen, getrocknete Blätter. Seine Augen waren dunkel – nicht leer, nicht müde. Sondern tief. Voll wie ein unberührter See. Lirael griff instinktiv nach dem Bogen auf ihrem Rücken, doch er hob nur leicht eine Hand. Keine Drohung. Kein Befehl. Nur Ruhe.
Sie verharrte.
„Du trittst in ein altes Herz“, sagte er nach einer langen Weile. Seine Stimme war rau wie trockene Blätter, aber nicht unangenehm.
„Ein Herz, das schlägt, auch wenn es keiner hört.“

Sie sagte nichts.
Etwas in ihr – vielleicht die letzten Reste der rastlosen Jahre – wollte weglaufen. Doch ihre Füße blieben.
Er wandte sich um und ging tiefer in die Senke, auf einem kaum sichtbaren Pfad zwischen Farn und Nebel. Nach einigen Herzschlägen folgte sie ihm. Er sprach nicht viel. Manchmal zeigte er auf eine Pflanze, und sie musste erraten, was sie tat. Manchmal legte er ihr einen Stein in die Hand und wartete. Und manchmal saßen sie einfach nur da, schweigend, stundenlang – bis sie merkte, dass es nicht darum ging, etwas zu „tun“.

Sondern zu sein.

Nach dem dritten Tag fragte sie ihn, wer er sei.
Er lächelte kaum merklich.
„Ich war ein Hörender. Jetzt bin ich Teil.“
Mehr sagte er nicht.
Und sie fragte nicht weiter.

In den Nächten zeigte er ihr, wie man den Atem des Windes hört – nicht das Rauschen, sondern die Richtung, das Flüstern zwischen den Stämmen. Wie man spürt, ob ein Ort wütend ist oder ruhig. Er zeigte ihr einen Baum, in dessen Rinde ein uraltes Zeichen eingeritzt war – ein geschwungener Bogen mit einer Wurzel darunter.
„Wenn du das siehst, weißt du: Hier ruht Erinnerung.“
Lirael sog alles auf, schweigend, lernend. Nicht wie ein Kind, das belehrt wird, sondern wie eine Schwester, die sich erinnert.
Nach einer Woche war er fort. Kein Abschied. Kein Zeichen. Nur ein frischer Kreis aus Steinen, in dessen Mitte ein Bündel Beifuß lag – und ein geschnitzter Anhänger aus Rinde, in den das gleiche Zeichen eingeritzt war wie in den Baum.
Sie trug ihn seither bei sich.
Nicht als Talisman.
Sondern als Antwort.

Lehren aus Stille
Die Tage nach seinem Verschwinden waren von einer sonderbaren Leere erfüllt – nicht wie Verlust, sondern wie ein stiller Raum, der nun Platz bot für etwas Eigenes. Lirael kehrte an Orte zurück, die sie mit ihm durchschritten hatte, und suchte nicht nach Antworten, sondern nach Empfinden. Nach dem, was geblieben war. Die Lehren des Alten waren keine Anweisungen gewesen. Keine Zauber, keine Rituale in Worten. Sie lagen zwischen Gesten, Blicken, und dem Verstummen. Sie erinnerte sich an die drei Nächte im Hain, die er ihr auferlegt hatte – schweigend, ohne Feuer, ohne Bewegung, nur lauschend. Zunächst war sie unruhig gewesen, das Zwitschern der Tiere schien zu schrill, das Knacken in der Dunkelheit zu laut. Doch in der zweiten Nacht hatte sich etwas verändert. Sie begann zu unterscheiden: Das leise Schaben einer Kröte unter einem Blatt. Der Hauch eines Kauzes, der über das Laub glitt. Und ein Moment – kaum länger als ein Atemzug – in dem alles still war. Keine Bewegung. Kein Laut.

Und doch war da Leben.

Am dritten Morgen war sie aufgewacht, bevor die Sonne das Laub berührte. In ihr war etwas gewachsen, das sie nicht benennen konnte. Kein Wissen, sondern eine neue Art des Sehens. Nicht mit den Augen – sondern mit Hingabe.
Sie erinnerte sich an ein anderes Bild:
Der Alte hatte ihr eine winzige, unscheinbare Pflanze gezeigt. Drei Blätter, zartgrün, kaum anders als das Moos drumherum. „Was siehst du?“ hatte er gefragt.
Sie hatte geantwortet: „Ein Kraut. Jung.“
Er hatte den Kopf geschüttelt.
„Du siehst es. Aber du hörst es nicht.“
Dann hatte er geschwiegen.

Es dauerte Stunden. Sie saß davor, lauschte, spürte. Und irgendwann – war da etwas.
Nicht Worte. Keine Stimme.
Aber ein Gefühl, das von der Pflanze ausging, wie eine winzige Schwingung. Zart, ruhig, wachsend.
Sie hatte die Augen geschlossen.
Und gelächelt.
Seither wusste sie: Alles lebt. Alles spricht. Aber nicht in ihrer Sprache
.
Ein anderes Mal führte er sie zu einem Baum, dessen Stamm von Narben durchzogen war – vom Blitz getroffen, halb verbrannt, doch voller Triebe.
„Was lernst du aus ihm?“
Sie hatte lange geschwiegen.
„Dass selbst das Gebrochene weiterträgt.“
Er hatte genickt.
Was geblieben war, war kein Lehrbuch, keine Technik, keine Macht.
Sondern ein inneres Wissen. Eine Verbindung, die mehr fühlte als dachte. Sie begann, ihre Tage bewusster zu leben. Den Wind zu lesen. Die Richtung von Spuren nicht nur zu sehen, sondern zu erspüren. Sie wusste nun, wann ein Ort „ruhig“ war – und wann nicht. Wann der Wald atmete. Und wann er litt. Und wenn sie in der Dämmerung unter alten Bäumen saß, mit dem Rücken an einem Stamm, den Bogen neben sich und den Anhänger aus Rinde auf der Brust, dann konnte sie es spüren:

Der Wald sah sie.
Und sie war nicht mehr nur Gast.

Wie Tau auf alten Blättern
Es war ein klarer Morgen gewesen, an dem sie ihn suchte. Ein letzter Gedanke, eine Frage auf den Lippen, etwas Unausgesprochenes, das sie teilen wollte.
Doch der Hain war leer.
Der Platz, an dem er zuletzt gesessen hatte – auf dem flachen Stein zwischen den moosbedeckten Wurzeln – war verlassen. Nur ein Kreis aus glattgelegten Steinen blieb zurück. In seiner Mitte: ein Bündel Beifuß, sorgfältig geschnürt mit einem dünnen Streifen Baumrinde, und daneben ein kleines Stück geschnitzten Holzes. Der Anhänger war schlicht: Rinde, dunkel und glatt, in der das Zeichen eingeritzt war, das sie kannte – der geschwungene Bogen mit der Wurzel darunter. Sie nahm ihn auf, hielt ihn eine Weile in den Händen.
Kein Wort, kein Abschied.
Und doch war alles gesagt.
Es war keine Trauer, die sie empfand.
Nur ein tiefes, ehrliches Verstehen.
Er war gegangen wie der Nebel am Morgen: still, ohne Spur, aber nie wirklich fort.

Noch am selben Tag kehrte sie an einen anderen Ort zurück – einen jener Plätze, die er ihr einst wortlos gezeigt hatte: eine kleine Anhöhe, von alten Steineichen umgeben, mit Blick auf das Tal. Dort setzte sie sich nieder. Und blieb.
Stundenlang.
Der Wind spielte mit ihren Haaren. Vögel kamen und gingen. Ein Rotfuchs schnupperte an ihren Spuren, warf ihr einen flüchtigen Blick zu – und zog weiter.
In der Abenddämmerung legte sie den Anhänger um ihren Hals. Nicht wie ein Zeichen des Verlusts, sondern wie ein stilles Versprechen.
Dass sie gehört hatte.
Dass sie bewahren würde.
Als die ersten Sterne über dem Waldrand aufleuchteten, flüsterte sie:
„Wenn der Wald mich ruft, werde ich wissen, wohin ich gehe.“
Dann erhob sie sich, nahm ihren Bogen, und verschwand im Schatten der Bäume.
Nicht mehr als Flüchtende.
Sondern als eine von ihnen.

Das Echo im Laub
Ein Rascheln durchbrach die Stille. Lirael öffnete die Augen. Die Schatten waren länger geworden, das Licht über dem Blätterdach goldener. Der Bach glitzerte im Abendlicht, Libellen tanzten über dem Wasser. Ihr Blick wanderte zu dem alten Baumstamm, der quer über das Ufer lag – genau wie damals. Moos bedeckte ihn, Pilze wuchsen in kleinen Trauben an seiner Unterseite. Fast hätte sie geglaubt, er würde jeden Moment wieder auftauchen. Leise, aus dem Nebel, wie früher. Sie lächelte nicht. Aber in ihrer Brust war es ruhig.
Nicht leer – nur still.
Ihre Finger glitten zu dem Anhänger an ihrem Hals. Die Rinde war rau geworden, das eingeritzte Zeichen fast von Zeit und Wetter geglättet. Und doch war es da.
Wie die Erinnerung.
Wie das Versprechen.
Der Wald hatte sie nie verlassen.
Er war nicht nur um sie gewesen – er war in ihr gewachsen. Mit jeder Wurzel, jedem Blatt, jedem Atemzug, den sie in seiner Nähe getan hatte.
Und jetzt, wo sie wieder am Rand einer Entscheidung stand – wieder auf einer Schwelle zwischen Vergangenheit und dem, was kommen mochte – spürte sie ihn stärker denn je.
Der alte Elf hatte ihr keine Aufgabe gegeben.
Aber er hatte ihr gezeigt, wie man lauscht, ohne zu hören.
Wie man sieht, ohne zu suchen.
Und wie man Teil wird, ohne zu gehören.
Sie sprang leise vom Ast, auf dem sie gelegen hatte, landete federnd auf dem Waldboden. Ihre Schritte waren lautlos, als sie sich zwischen Farnen und Schatten verlor.
Der Ruf war da.
Noch nicht als Stimme.
Aber als Wind im Geäst.
Als Spannung im Moos.
Als Erinnerung an etwas, das mehr war als sie selbst.
Sie würde bereit sein.

Re: Lirael Vanya’thiel – Der Pfad der gespaltenen Wurzeln

Verfasst: 20 Jul 2025, 22:15
von gelöschter Charakter_525
Episode IV: Die Rückkehr nach Yew

Ankunft im heiligen Hain
Der Wald von Yew empfing sie mit jener eigentümlichen Stille, die nicht leer war, sondern angefüllt mit dem leisen Wispern von Wurzeln, dem Flattern verborgener Flügel zwischen den Ästen und jenem kaum hörbaren Summen, das sich nur jenen offenbarte, die mit offenem Herzen kamen.
Es war früher Abend, doch das Licht unter dem dichten Dach der uralten Bäume wirkte wie gedämpftes Gold, zerbrochen in flackernden Streifen, die über das Moos tanzten und in denen Staubkörner wirbelten, als wären sie kleine Wesen aus einer vergessenen Zeit.
Lirael ging langsam, fast zögerlich, mit einer Anspannung in den Schultern, die sich trotz aller bewussten Bemühung nicht lösen wollte. Jeder Schritt schien mehr zu wiegen als der vorige, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht nur Gewicht, sondern auch Erinnerung aufnehmen.
Rianon war bei ihr, stets einen halben Schritt hinter ihr, nicht aus Unsicherheit, sondern mit jener bedachten Zurückhaltung, die er oft zeigte, wenn er spürte, dass etwas in ihr zu arbeiten begann, das Worte nicht tragen konnten.

Sie hatte ihm nichts gesagt, als sie an jenem Morgen gemeinsam aufgebrochen waren – nur ein Nicken, ein Blick, ein schlichtes „Es ist Zeit.“ Und er hatte verstanden, ohne zu fragen.
Der Pfad, den sie nun gingen, war längst überwachsen, kaum mehr zu erkennen, nur durch einzelne Wurzelwölbungen und das eigenartige Muster der Farnblätter als Weg zu deuten, wenn man wusste, wonach man suchte.

„La liegt weiter nördlich“, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu ihm, und ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren, belegt von etwas, das sie nicht benennen konnte – war es Angst? Ehrfurcht? Oder nur die Nähe zu etwas, das sie tief in sich lange verschlossen gehalten hatte?
Je weiter sie vordrangen, desto mehr veränderte sich die Atmosphäre. Das Rauschen der Blätter wurde langsamer, gedehnter, als würde der Wind selbst den Atem anhalten. Die Tiere verstummten nicht, aber sie zogen sich zurück, beobachteten vielleicht – aus Bäumen, Höhlen oder aus der Luft – ohne sich zu zeigen.
Lirael blieb stehen, ihre Hand an einem moosbedeckten Stamm ruhend, und schloss für einen Moment die Augen.
In der Ferne, kaum mehr als ein Hauch, glaubte sie ein Flüstern zu hören – kein Wort, kein Ruf, sondern etwas wie ein Erinnern, das von unter der Erde kam, dort wo Wurzeln wie Adern durch das Erdreich strichen.
„Hier hat sie mich früher hingebracht“, murmelte sie, und nun klang ihre Stimme anders – weicher, durchlässiger, als wäre sie zugleich wieder das Kind, das sie einst gewesen war.
Rianon schwieg, doch sie spürte ihn neben sich – nicht aufdringlich, nicht drängend, sondern gegenwärtig wie ein ruhiger Strom, auf den man sich verlassen konnte.
Sie setzte sich auf einen halb umgestürzten Stamm, von Pilzen bewachsen und von feuchtem Farn umgeben, und ließ den Blick über die Bäume wandern.
„Ich erinnere mich an ein Lied“, sagte sie schließlich, leise und brüchig, als würde sie es aus einer dunklen Truhe in ihrem Inneren hervorholen, die seit Jahren verschlossen gewesen war. „Meine Mutter hat es gesungen… hier, an genau diesem Ort.“
Ein Zittern ging durch ihre Stimme, doch sie sprach weiter, tastete sich Satz für Satz durch die Vergangenheit, wie jemand, der in der Dämmerung nach vertrauten Konturen sucht.
„Sie sagte, die Bäume tragen unsere Namen – wenn wir still sind, flüstern sie sie im Wind. Ich habe lange nicht mehr zugehört.“
Rianon setzte sich neben sie, sagte noch immer nichts, aber seine Nähe war wie ein Mantel, der sich wärmend um sie legte, ohne sie zu bedrängen.
Lirael legte die Hand auf den Boden, spürte die Feuchtigkeit, die Kühle, das Leben darin – und für einen kurzen Moment glaubte sie, unter ihren Fingerspitzen etwas pulsieren zu fühlen, wie einen Herzschlag, tief in der Erde.
„La ist nah“, sagte sie dann, leise und sicher, und zum ersten Mal an diesem Tag trat etwas in ihre Stimme, das wie Hoffnung klang.
Der Wind drehte, und mit ihm kam ein Duft, der sie für einen Moment erstarren ließ – nicht stark, nicht fremd, sondern vertraut: der Geruch nach Harz, Erde und jenem Hauch von Blüte, der sie als Kind einst beruhigt hatte, wenn sie nachts nicht hatte schlafen können.
Sie stand auf, sah zu Rianon, und in ihren Augen lag etwas Neues – keine Angst mehr, kein Zögern, sondern etwas, das man vielleicht Vertrauen nennen konnte.
„Komm“, sagte sie nur, und ging weiter, tiefer hinein in das Herz des Waldes – dorthin, wo La wartete.

Die Suche nach La
Der Wald wurde stiller, nicht weil er verstummte, sondern weil das, was klang, tiefer sank – unter die hörbare Schwelle, in jenes Rauschen, das in den Adern vibrierte, wenn man lange genug lauschte. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in das verwobene Dickicht von Yew vordrangen, veränderte sich die Welt um sie, als würde die gewohnte Wirklichkeit zurücktreten und einem älteren, fremderen Bewusstsein Platz machen, das sich nicht in Worten zeigte, sondern in Empfindungen, Schatten, Wiederklängen von etwas längst Vergessenem.
Lirael bewegte sich nun fast wie im Traum, geführt nicht von Pfaden, sondern von Spuren, die sich nur dem erschlossen, der sie zu lesen wusste – die Neigung eines Farnes, das seltsame Aufleuchten von Sporenstaub im schrägen Licht, das Flattern eines Vogels, der plötzlich verstummte. Ihre Finger tasteten manchmal über Rinde, über feuchtes Moos, über Wurzeln, die sich wie Adern durch den Boden zogen, als suchte sie mit der Haut, was die Augen allein nicht fassen konnten.
Rianon war bei ihr, sein Schritt ruhig, sein Blick wach, aber ohne das Drängen derer, die führen wollen. Er war da – nicht hinter ihr, nicht vor ihr, sondern neben ihr, so wie man einem Fluss folgt, dessen Verlauf man nicht stören darf, wenn man an sein Ziel gelangen will.

Einmal, als sie innehielt, weil eine feine Verästelung silberner Pilzfäden sich über den Boden zog wie eine Karte, die nur Eingeweihten lesbar war, sagte er leise, beinahe in den Wind hinein:
„La spricht nicht wie wir – aber wer es kennt, weiß, wann es beginnt zu antworten.“
Seine Stimme klang ruhig, fast meditativ, und für einen Moment schloss sie die Augen, als wolle sie nicht nur dem Sinn der Worte lauschen, sondern dem Klang dahinter. Dann nickte sie, fast unmerklich, und ging weiter, barfuß nun, obwohl sie sich nicht daran erinnerte, die Stiefel abgestreift zu haben.
Sie durchquerten ein seichtes Bachbett, dessen Wasser so klar war, dass es fast unsichtbar wurde, einzig verraten durch das Licht, das sich in sanften Brechungen auf Kiesel und Wurzel spiegelte. Lirael kniete sich an den Rand, ließ das Wasser über ihre Fingerspitzen gleiten und fuhr sich dann mit einer feuchten Handfläche über das Gesicht – eine einfache Geste, fast zufällig, und doch hatte sie etwas von einem Ritual.
„Ich war als Kind hier“, sagte sie schließlich, kaum hörbar. „Sie hat mich geführt… nicht oft, aber immer dann, wenn sie meinte, dass ich zu viel in mir trug.“
Rianon antwortete nicht, aber sie spürte ihn – nicht nur als Körper, der neben ihr verweilte, sondern als Präsenz, die nicht festhielt, sondern mitging.
„Ich wusste nie genau, wo La beginnt und wo ich aufhöre“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Vielleicht war das der Punkt.“
Der Hang vor ihnen stieg sanft an, von alten Steinen gesäumt, die in seltsamen Mustern aus dem Boden ragten – teils von Efeu überwuchert, teils blank, als hätte eine unsichtbare Hand sie gerade erst aus der Erde gezogen. Auf manchen schimmerten Reste verwitterter Zeichen – Linien, die vielleicht Runen waren, vielleicht auch nur Risse im Gestein, aber etwas in Liraels Innerem antwortete darauf wie auf einen vertrauten Ruf.
Oben angekommen blieb sie stehen. Die Sicht öffnete sich, und unter ihnen lag eine Senke, überzogen von feinem Nebel, in dessen Innerem die Bäume wie Schattenriesen standen – schwer, uralt, wachsam.

„Da“, flüsterte sie, mehr zu sich als zu ihm. „Es ist dort.“
Rianon trat neben sie, sagte nichts, aber als sie seinen Blick spürte, wusste sie, dass er es ebenfalls fühlte – dieses andere, das dort unten pulsierte, nicht als Geräusch, sondern als Möglichkeit.
Sie stiegen hinab, schweigend, Schritt für Schritt, vorbei an Farnen, die sich zur Seite neigten, als wollten sie Platz machen.
Und dann – war es da.
Kein Donner, kein Licht, kein Ruf. Nur das plötzliche, unmissverständliche Wissen, dass sie angekommen waren.
La erhob sich nicht wie ein Monument. Es war nicht gewaltig im Äußeren, sondern in seiner Wirkung – ein Baum, ja, ein uralter Yewbaum, tief verwurzelt, von Zeit gezeichnet, mit einer Rinde, die an ein zerknittertes Gedicht erinnerte. Seine Äste ragten in einem Winkel in den Himmel, der keinem natürlichen Wachstum zu folgen schien, und doch strahlte alles an ihm eine Art von Ordnung aus – eine Stille, die so vollkommen war, dass jedes Wort unangebracht erschien.

Lirael trat näher. Ihre Hand legte sich auf den Stamm, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. Das Holz war kühl, aber nicht abweisend. Kein Flüstern, kein leuchtendes Zeichen, kein göttliches Aufleuchten.
Nur das Gefühl, dass etwas – oder alles – sie erkannt hatte.

„Es erinnert sich“, sagte sie leise. Und als sie das sagte, wusste sie, dass nicht der Baum selbst erinnerte, sondern etwas durch ihn, ein Netz, ein Fluss, das La, das sich in allem spiegelte, was Leben bedeutete – und das durch sie sprach, wenn sie still genug wurde.

Die Meditation und das Ersuchen
Die Lichtung war umfangen von einer Dichte aus Moos, Nebel und Schweigen, wie ein abgeschlossener Raum inmitten der Welt, entrückt und doch zutiefst real, als hätte der Wald selbst beschlossen, diesen Ort vor dem Zahn der Zeit zu schützen.
Lirael stand eine Weile still, das Gesicht dem alten Yewbaum zugewandt, und in ihrer Haltung lag eine Mischung aus Ehrfurcht, Sehnsucht und leiser Furcht – nicht vor dem, was sie sehen würde, sondern vor dem, was in ihr wach werden mochte, wenn sie es zuließ.
Rianon hatte sich, ohne ein Wort zu sagen, am Rand der Lichtung niedergelassen, dort wo die ersten Wurzeln sich wie tastende Finger über den Boden schoben, und begann, mit ruhigen Gesten einen schlichten Kreis aus getrocknetem Beifuß, Farn und silbergrünem Laub zu legen – kein Zauber, kein Schutz, sondern ein Zeichen der Achtung, eine Einladung an das, was hier webte.
Lirael trat näher an den Baum, kniete sich in die feuchte, weiche Erde, legte beide Hände flach gegen die Rinde, deren Oberfläche sich unter ihren Fingern anfühlte wie ein altes Pergament – rau, doch lebendig, durchzogen von feinen Rissen, aus denen ein leiser Duft von Harz und tiefem Wurzelgrund stieg.
Sie schloss die Augen. Und wartete.
Nicht auf ein Zeichen. Nicht auf Worte. Sondern auf den Moment, in dem sie selbst still genug wurde, dass das andere durch sie hindurchfließen konnte.
Ihr Atem verlangsamte sich, wurde flacher, tiefer, und sie senkte die Stirn auf das Holz, spürte, wie die Kälte des Stammes in sie überging, aber nicht als Abweisung, sondern wie das kühlende Tuch auf einer fiebernden Stirn.
Lange geschah nichts – oder besser: nichts Sichtbares.
Doch in ihrem Innern begannen sich Bilder zu lösen, nicht als klare Visionen, sondern wie Farbflecken auf Wasser – flüchtig, sich überlagernd, und doch mit einer Wahrheit, die ihr Herz erkannte, lange bevor der Verstand sie benennen konnte.
Sie sah Schatten, Hände, ein Lachen, das sie vergessen hatte, eine Gestalt mit roten Haaren, die sich über sie beugte, während warme Finger über ihre Stirn strichen. Dann Dunkelheit, dann das Knacken von Holz, ein Rufen, das nie ganz verklungen war.
Sie spürte Tränen, ohne zu weinen.

Und dann war da etwas anderes – nicht ein Bild, sondern ein Empfinden. Eine Sammlung, ein Netz, ein Sog. Das Gefühl, dass sie nicht allein war in sich selbst, sondern durchzogen von Stimmen, Erinnerungen, Fragmenten jener, die ihr einst etwas bedeutet hatten – und die nun, fern jeder Grabstätte, in einem Zwischenraum verweilten, unerlöst, aber nicht vergessen.
„La“, flüsterte sie, die Stirn noch immer gegen den Stamm gelegt, „ich habe sie getragen, so lange ich denken kann. Ich weiß nicht, ob ich sie rette oder ob ich sie loslasse. Ich weiß nur, dass sie nicht verloren gehen dürfen.“
Der Wind antwortete nicht, doch ein leichter Druck ging durch ihre Handflächen, als würde das Holz unter ihnen für einen Moment nachgeben – nicht brechen, nicht weichen, sondern sie aufnehmen.
Etwas in ihr begann zu vibrieren – ein leiser Ton, kaum hörbar, aber durchdringend, wie der erste Klang eines Seiteninstruments, bevor es zu spielen beginnt.
Und dann geschah es.
Zwischen zwei Wurzeln, dort wo der Boden feucht und dunkel war, öffnete sich ohne Bewegung ein kleiner Spalt, aus dem sich, langsam und von feinem Licht durchzogen, ein zarter Trieb schob – nicht mehr als eine Handspanne groß, doch unverkennbar in seiner Form.

Ein Spross des Yewbaumes, ein Yewsetzling.

Sein Stamm war von einem tiefgrünen Braun, fast schwarz, und in seinen Adern schimmerte etwas, das kein Sonnenlicht war.
Lirael öffnete die Augen, und in ihrem Blick lag ein Staunen, das nicht laut wurde, weil es sonst zersprungen wäre. Sie hob die Hände, doch sie berührte den Setzling nicht – sie wartete, bis er sich vollständig gelöst hatte vom Erdreich, bis er, wie durch unsichtbare Kraft gehalten, in ihre Richtung neigte, und sie verstand: Es war nicht ihre Hand, die ihn pflücken durfte, sondern ihr Herz, das ihn tragen musste.
Sie nahm ihn auf – vorsichtig, mit beiden Händen, als wäre er zerbrechlich wie Glas, und doch fühlte sie darin eine Kraft, die so alt war, dass sie keine Worte mehr brauchte.
In diesem Moment vergaß sie, dass Rianon da war. Oder vielmehr: Sie erinnerte sich wieder an ihn.
Als sie sich zu ihm wandte, stand er bereits, trat zu ihr, sah den Setzling in ihren Händen, dann in ihre Augen – und sagte nichts.
Aber sie sah in seinem Blick, dass er verstanden hatte. Nicht alles, vielleicht. Aber genug.
„Ich glaube…“, begann sie, und ihre Stimme war brüchig, wie eine Brücke, die gerade erst gebaut wurde. „…ich glaube, wir können sie in Sicherheit bringen.“
Und dann, wie aus einer Bewegung geboren, stand er direkt vor ihr, seine Hände an ihren Schultern, sein Blick ruhig, tief, nicht fordernd – wartend.
Sie atmete aus. Tief. Schwer. Und ließ sich gegen ihn sinken.
Nicht, weil sie schwach war. Sondern weil sie es durfte.
Und in dieser Stille, inmitten des Raunens von Wurzeln und dem leisen Knistern des Nebels, schloss sie zum ersten Mal seit Jahren wieder die Augen, mit der Gewissheit nicht alleine zu sein.

Wiederkehr des Vertrauens
Der Nebel legte sich langsam wieder über die Lichtung, als hätte das, was geschehen war, einen Schleier aufgewühlt, der nun sanft zurücksank, um das Gewebe des Augenblicks zu wahren.
Lirael saß noch immer am Fuß des Baumes, den Setzling in ihren Händen, der nun ruhig und schwer wie ein lebendiges Versprechen wirkte – nicht mehr fragil, sondern verwurzelt in einer neuen Art von Gewissheit.
Es war kein lauter Triumph, keine aufwallende Freude, sondern eine tiefe, stille Ruhe, die sich in ihr ausbreitete – wie das letzte, lang vermisste Puzzlestück in einem Bild, das sie nie hatte zu Ende sehen dürfen.
Denn in diesem Moment wusste sie es – nicht mit dem Verstand, sondern mit dem ganzen Körper, mit jeder Ader, jedem Atemzug: Dass sie ihre Familie dieses Mal würde in Sicherheit bringen können.
Nicht durch Rache, nicht durch Aufopferung, nicht durch Schuld – sondern durch das, was sie durch La erhalten hatte: einen Weg, die Seelen ihrer Eltern, ihrer Schwestern, ihrer Blutlinie weiterzuführen, fern von den Schatten, die sich nun über Yew zu legen begannen.
Der Setzling war nicht nur Leben. Er war Heimstatt. Zuflucht. Er war das Versprechen, dass das, was war, nicht verloren gehen musste – nicht im Feuer der Welt, nicht in den Stürmen, die kommen würden.
Rianon war bei ihr geblieben, hatte keinen Moment des Wunders gestört, und nun saß er nahe bei ihr, eine Hand im Moos, die andere auf dem Knie ruhend, und in seiner Haltung lag jene Art von Stille, die mehr sagte als jedes gesprochene Wort.

Der Tag war fast vergangen – das Licht der Sonne schien nur noch in weichen Schleifen durch die Baumwipfel, berührte ihre Schultern, ihre Haare, den kleinen Setzling, als wollte es den Moment segnen, ohne ihn zu stören.
Lirael atmete ein – tief, mit jenem Ziehen in der Brust, das sich einstellt, wenn eine lange gehaltene Last plötzlich verschwunden ist und der Körper erst begreifen muss, was nun Raum einnimmt.

Dann drehte sie sich, langsam, noch immer mit dem Setzling im Schoß, und sah Rianon an.
Ihre Augen begegneten sich, und für einen Atemzug war es, als stünde die Welt still – nicht dramatisch, nicht in donnerndem Verlangen, sondern in jener leisen Klarheit, mit der zwei Wesen einander erkennen, wirklich erkennen, jenseits von Masken, Worten, Schuld oder Hoffnung.
„Ich habe… so lange geglaubt, dass niemand mehr da ist“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leise, fast vorsichtig, als wolle sie das, was sie spürte, nicht durch Benennung zerbrechen. „Und dann warst du einfach… hier.“

Rianons Blick war weich, aber nicht mitleidig – er war warm, wach und frei von der Angst, etwas falsch zu machen.
„Ich bin nicht hier, um dich zu halten“, antwortete er. „Nur, damit du weißt, dass du nicht mehr allein bist, wenn du es nicht willst.“
Ein Zittern ging durch ihre Schultern – nicht aus Schwäche, sondern weil sich etwas löste, das so lange still und starr in ihr gelegen hatte.
Dann streckte sie langsam eine Hand aus – nicht zögerlich, aber auch nicht sicher. Ihre Finger berührten seine, fanden Halt, ohne zu klammern, und sie spürte die Wärme seiner Haut, das sanfte Gewicht, das mehr sagte als jede Umarmung.

Sie sah ihn an – lange, mit einem Blick, der nicht suchte, sondern fand.
Und dann, ganz langsam, wie ein Sonnenstrahl, der sich über das erste Blatt des Morgens schiebt, beugte sie sich vor.
Ihre Stirn ruhte einen Moment lang an seiner, und sie spürte seinen Atem, ruhig, beständig, wie ein Versprechen, das keine Worte braucht.
Als sich ihre Lippen schließlich trafen, war es kein Sturm, kein Feuer, keine Flucht – es war ein Innehalten, ein Zulassen, das tiefer ging als jede Leidenschaft, weil es auf Vertrauen gebaut war, nicht auf Verlangen.
Der Kuss war still. Sanft. Kurz. Und doch war er wie ein Keim, der in der Erde ihrer beider Seelen einen ersten, zarten Trieb schob.
Als sie sich löste, hielt sie seinen Blick, und etwas in ihr, das sich jahrelang gegen jede Nähe gewehrt hatte, legte sich zur Ruhe – nicht weil es verschwunden war, sondern weil es zum ersten Mal nicht mehr allein war.

„Danke“, flüsterte sie, nicht für das, was geschehen war, sondern für das, was nicht gesagt werden musste.
Und in diesem Moment wusste sie, dass etwas in ihr begonnen hatte, sich zu wandeln – nicht in eine neue Person, sondern in jemanden, der wagte, zu wachsen.
Jemand, der begonnen hatte, Wurzeln zu schlagen – nicht nur im Wald, sondern in der Gegenwart.

Aufbruch mit dem jungen Yewbaum
Der Morgen kam still, beinahe lautlos, wie eine Antwort, die man nicht erwartet hatte, und dennoch verstand. Kein Ruf der Vögel durchbrach die Dämmerung, kein Tier huschte durch das Dickicht – als hätte der Wald selbst beschlossen, diesen Moment nicht zu stören.
Ein feiner Nebel lag noch immer über der Lichtung, durchzogen von den ersten silbernen Strahlen der Sonne, die sich tastend über das Laub schoben, als prüften sie, ob die Welt bereit war, erneut zu atmen.
Lirael saß bereits, als Rianon erwachte – reglos, den Setzling im Schoß, die Augen halb geschlossen, als lausche sie etwas, das sich jenseits der Sinne bewegte.
Sie sprach nicht, als er sich zu ihr setzte, und er fragte nicht, denn was zwischen ihnen lag, brauchte keine Bestätigung, kein Wiederholen, nur das einfache Weitergehen.
Eine lange Zeit verstrich in gemeinsamer Stille.
Dann richtete Lirael sich auf, hielt den Setzling nun fest in beiden Händen – nicht wie ein Schatz, sondern wie ein Versprechen.
„Ich weiß, wohin er muss“, sagte sie schließlich, ihre Stimme ruhig, geerdet. „Nicht jetzt. Aber bald. Wenn es beginnt.“
Sie meinte nicht nur die Schatten, die über Yew hinwegzogen. Nicht nur das, was sie von Lyr’sa gehört hatte, oder die wachsende Unruhe in den Bäumen. Sie meinte das Ganze – das Unvermeidliche, das sich anbahnte, langsam, wie ein Winter, den man im Geruch des Morgentaus erkennt, lange bevor das Laub fällt.
„Er wird nicht hier bleiben“, fuhr sie fort. „La hat ihn gegeben, damit ich ihn bringe. Dorthin, wo sie sicher sind. Wo niemand mehr an sie heranreicht.“
Ihre Familie. Die Seelen, die in La verwoben gewesen waren wie Erinnerungen in einem Lied – flüchtig, aber spürbar.
Nun lebte ein Teil von ihnen in diesem Setzling, getragen in der Mitte ihres Körpers, behütet von ihrer Entschlossenheit.
Rianon nickte nur. Seine Augen suchten die ihren, und in seinem Blick lag das, was Lirael nun zu erkennen begann: nicht Bedauern, nicht Angst, nicht einmal Sorge – sondern Vertrauen.
Nicht blind. Nicht naiv. Sondern gewachsen, genährt durch das, was sie ihm gezeigt hatte.
Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm, ließ sie einen Moment ruhen – kein Griff, keine Bitte, nur die schlichte, stille Antwort auf das, was er nicht hatte aussprechen müssen.

Dann standen sie gemeinsam auf.
Die Lichtung lag hinter ihnen, der alte Yewbaum wie ein letzter Blick in ein Kapitel, das nicht endet, sondern in etwas anderes übergeht.
Lirael trat ein letztes Mal zu La, neigte das Haupt, berührte die Rinde mit zwei Fingern – wie ein Gruß, wie ein Versprechen, dass sie wiederkehren würde.
Dann wandten sie sich ab, durchquerten das hohe Farnfeld, ließen das Licht hinter sich, das zwischen den Ästen hing wie vergessene Erinnerung.
Der Wald nahm sie auf, wie er sie immer aufgenommen hatte – schweigend, atmend, umarmend.
Doch diesmal war etwas anders.
Lirael trug nicht nur den Setzling. Sie trug Verantwortung. Erinnerung. Hoffnung.
Sie war nicht mehr nur Wanderin. Nicht nur Suchende.
Sie war geworden, was sie nie hatte sein wollen – aber nun mit jeder Faser war: eine Hüterin.
Und als sie mit Rianon Seite an Seite das Dickicht durchschritt, den Blick nach vorn gerichtet, spürte sie in sich zum ersten Mal nicht nur die Sehnsucht nach dem, was verloren war – sondern auch die Gewissheit, dass etwas Neues begann.

Ein stilles, leuchtendes Jetzt. Und ein Weg, der sie tiefer führen würde – zu La, zu sich selbst, und vielleicht – irgendwann – zu dem, was man Berufung nennt.

Re: Lirael Vanya’thiel – Der Pfad der gespaltenen Wurzeln

Verfasst: 21 Jul 2025, 00:55
von Rianon
Rianon folgte Lirael schweigend durch das schummrige Zwielicht des heiligen Hains, und obwohl seine Schritte leise auf dem weichen Moosboden fielen, klang jedes unhörbare Knirschen in seinem Inneren wie ein lauter Schlag; er wollte Lirael nicht in ihrer Konzentration stören. Er nahm wahr, wie das Abendlicht wie flüssiges Bernstein durch das dichte Blätterdach tropfte und Liraels Schultern, die zuvor noch von Anspannung gezeichnet waren, nun ein wenig zu entspannen schienen, als hätte dieser goldene Schleier das Gewicht ihrer Zweifel einen Moment lang getragen. Mit jedem Schritt rückte Lirael tiefer in jene uralte Stille hinein, die kein Schweigen war, sondern ein vielstimmiges Flüstern, das aus den Wurzeln, dem Geäst und dem dichten Unterholz zugleich sprach, und in diesem Flüstern offenbarte sich ein zartes Versprechen: Wer hier mit offenem Herzen wandelte, konnte die vergessenen Stimmen seiner Ahnen vernehmen.
Unwillkürlich senkte Rianon den Blick, spürte das weiche Moos unter seinen Stiefeln und erinnerte sich an sein erstes Flüstern mit dem Yewbaum-Setzling, an die Nacht, in der er noch an sich gezweifelt hatte, und doch das Herz fand, diesen jungen Trieb behutsam zu tragen. Nun lauschte er dem leisen Atem des Waldes, der sich in Liraels gedämpfter Stimme spiegelte, als sie erzählte, wie ihre Mutter einst in dieser Lichtung gesungen hatte, und wie jeder Baum ein Gedicht trug, das von Namen und Erinnerung kündete. Er sah, wie ihre Finger zaghaft die Rinde eines umgestürzten Stammes berührten, als hielten sie ein lebendig gewordenes Versprechen, und ihm wurde klar, dass sie beide nicht länger Beobachter waren, sondern ein Teil dieses gewebten Moments, in dem Vergangenheit und Gegenwart eins wurden.
An der flachen Bachfurt sah Rianon Lirael knien und sich das klare Nass über die erhitzte Stirn streichen, als wolle sie sich mit jedem Tropfen an jene unsichtbare Lebenskraft binden, die in allem pulsierte. Er kniete sich neben sie, spürte ihre Wärme, ohne ein Wort zu sagen, weil jedes gesprochene Wort die Magie jenes Augenblicks zerschlagen hätte. Als sie schließlich leise bekannte, sie habe nie gewusst, wo La beginne und wo sie selbst aufhöre, spürte er, wie sein ganzer Körper antwortete: In diesem Wald, in diesem uralten Gedächtnis, fanden beide ihren Platz. Und als sie den Hang hinaufstiegen zu jener Senke, die im Dunst wie ein heiliges Herz leuchtete, war jeder Schritt für Rianon eine leise Bitte, die Stille nicht zu brechen, sondern ihr zu folgen.
Dann, als sie den Yewbaum erreichten, einen uralten Riesen, dessen Äste in unmöglichen Winkeln in den Himmel wuchsen, vernahm Rianon das unverkennbare Pochen seines eigenen Herzens, laut genug, um mit dem pulsernden Klang der Wurzeln mitzuschwingen. Er beobachtete Lirael, wie sie die Stirn gegen die kühle Rinde legte und in ihrem Atem eine Melodie zu erkennen schien, die er nicht hörte und doch verstand, weil sie mitten in seinem Innern erklang. Während sie dort verweilte, formte er mit ruhigen, bewussten Bewegungen einen schlichten Kreis aus Beifuß und Farn, nicht als Schutzzauber, sondern als Zeichen ehrfürchtigen Einlassens in jenes uralte Netz, das unter der Oberfläche waberte.
Als Lirael schließlich den kleinen Setzling emporhob, der sich wie von unsichtbarer Hand aus der Erde löste, blieb Rianon reglos stehen, von Ehrfurcht ergriffen und zugleich voller Stolz, weil er in ihren Augen sah, wie ein lang gehüteter Zweifel in stille Zuversicht umschlug. Er trat zu ihr, ohne eine Silbe zu verlieren, und legte behutsam eine Hand an ihre Schulter, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war – nicht im Zauber dieses Ortes und nicht in der Bürde, die sie nun trug. Die sanfte Berührung genügte, um Liraels Erschöpfung und ihre neue Kraft zugleich zu bezeugen, und Rianon wusste: Dieses kleine, grüne Leben in ihren Händen war die Fortsetzung einer Familie, die nun weiter atmete, mit jedem Blatt, jedem Ast, jedem flüsternden Windstoß.
Als die Sonne ihre letzten Strahlen durch das Blätterdach sandte und der Nebel sich wie ein zarter Schleier über die Lichtung legte, spürte Rianon, wie in ihm eine tiefe Zufriedenheit aufstieg, weil er Zeuge dieser Verwandlung geworden war. Er beugte sich zu Lirael, sah den Setzling in ihrem Schoß, dann ihren Blick, der ihm entgegenleuchtete wie ein Versprechen, und erkannte, dass Vertrauen nicht im Sturm wächst, sondern im stillen Innehalten. Rianon spürte, wie die Welt um ihn herum zur Ruhe kam – nicht weil sie still wurde, sondern weil in ihm selbst plötzlich etwas schwieg, das ihn so lange getrieben hatte.
Als sie ihre Stirn an seine legte, hielt er den Atem an, nicht aus Schreck, sondern aus einem Respekt vor dem Augenblick, der heiliger war als jedes Gebet, das je über seine Lippen gekommen war. Und als ihre Lippen ihn berührten, spürte er keinen Schock, keinen Taumel – nur eine leise Verschiebung in seinem Innersten. Etwas Altes in ihm, das immer allein durch die Wälder gezogen war, immer mit einem Auge auf die Flucht gerichtet, sank in diesem Moment zu Boden und schlief ein – wie ein müder Vogel, der nach Jahren des Fliegens endlich einen sicheren Ast gefunden hatte. Als sie sich von ihm löste, zögerte er einen Moment, blinzelte, als sei er aus einer langen Meditation zurückgekehrt – und dann hob er den Blick und sah sie an. Gemeinsam erhoben sie sich, und während sie die Lichtung hinter sich ließen, fühlte Rianon, wie sein eigener Weg sich leise in jene große Melodie einfügte und das Leben selbst zu singen begonnen hatten.

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