Lirael Vanya?thiel ? Der Pfad der gespaltenen Wurzeln
Verfasst: 31 Mai 2025, 10:52
Episode I: Eine intakte Welt
Es war ein sch?ner Morgen, als Lirael durch eine Fliege geweckt wurde, die ihr nerv?s ?ber die Nase krabbelte und ein leichtes Kitzeln verursachte, das zwar st?rend, aber nicht unangenehm war. Mit geschlossenen Augen und noch halb im Schlaf strich sie sich mit der Hand ?ber das Gesicht. Die Fliege flog weg und Lirael driftete bereits wieder ab in ein Land voller Tr?ume und Sch?nheit. Doch das emsige Insekt kehrte nach wenigen Augenblicken zur?ck und setzte sich unmittelbar zwischen Liraels Augen und kitzelte sie erneut durch seine feinen, aber sp?rbaren Schritte. Wiederum glitt die Hand zum Gesicht, unklar, ob es sich um eine bewusste Reaktion oder vielmehr einen Reflex im Schlaf handelte.
Ein Blinzeln lie? die Fliege schlie?lich erneut wegfliegen.
Sachte r?hrte sich Lirael und drehte den Kopf ?ber die linke Schulter, nur um festzustellen, dass das Leuchten der Sonne, das nun direkt auf ihr Gesicht fiel, noch etwas zu stark war f?r ihre scharfen Augen. Obschon sie noch beinahe vollst?ndig geschlossen waren, sp?rte sie bereits die fast schon stechende Kraft, die vom Himmel schien. Gleichzeitig genoss sie die W?rme, die die gleiche Kraft auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie entschied sich, mit diesem Zwiespalt umzugehen, indem sie ihre Augen noch etwas geschlossen hielt, um die W?rme noch etwas zu genie?en, die mittlerweile auch anfing, ihre linke Schulter und Arm zu erfassen.
W?hrend sie da sa?, die eine K?rperh?lfte sowie den einen Teil ihres Geistes noch in der Nacht, und die anderen H?lften bereits dem anbrechenden sonnigen Tag ausgesetzt, verarbeitete ihr Geist die beiden Gegens?tze der erfrischenden, aber k?hlen und feuchten Nacht zur W?rme des anbrechenden Tages. Gegens?tze, die gerade in diesem Moment so wahrnehmbar und klar waren, dass man sich in zwei K?rpern gleichzeitig h?tte w?hnen k?nnen und die einen schwachen Geist h?tten zerrei?en k?nnen.
Lirael f?hlte nichts von einer derartigen Zerrissenheit und sie sa? an diesem Morgen unter ihrem Lieblingsbaum, in einer tiefen Ruhe und mit der unersch?tterlichen Gewissheit, dass der Tag und die W?rme, die er mit sich brachte, sie fr?her oder sp?ter vollst?ndig umh?llen w?rden.
---
Sie sa? unter ihrem Lieblingsbaum, im Apfelhain hinter der Taverne.
Vor sich die weite K?ste von Moonglow, die offen und unbekannt vor ihr lag, wie eine Welt, die voller Abenteuer darauf wartete, entdeckt und erobert zu werden.
Unter sich die fruchtbare Erde, die die Apfelb?ume gedeihen und ihre Fr?chte saftig und s?? werden lie?. Bedeckt von einem Teppich aus k?hlem und feuchtem Gras, das einem ganzen Universum an Lebewesen als Grundlage diente und der Lirael als Bett ein weiches Nest bot.
?ber sich die Baumkrone und der Himmel, dessen Farbe sich mit jedem Augenblick von einem beinahe schwarzen Nachtblau hin zu einem Gem?lde wandelte, das eine Mischung aus klarem Blau und leuchtendem Gelb, durchzogen mit wei?em Schlackern, abbildete. Die Baumkrone bedeckte genug vom Himmel, damit sich Lirael nicht in der Gr??e und Unendlichkeit des Horizonts zu verlieren drohte, und sie war froh um den sch?tzenden Schirm, den ihr ihr Freund, der Apfelbaum, bot.
Hinter sich den borkigen Baumstamm des alten Baumes, der unersch?tterlich und unverr?ckbar dastand und Lirael Halt gab. Seine Wurzeln hielten den Boden zusammen und der Stamm bildete eine Br?cke zwischen der Welt am Boden und der Welt in der Luft.
In einigem Abstand zum Apfelhain befand sich hinter Lirael die Taverne, die f?r Lirael so wichtig geworden war. Als Fremde war sie in diese unbekannte Welt gezogen worden. Es war ihr sonderbar vorgekommen, und trotz ihrer angeborenen Abneigung gegen feste Strukturen und Einrichtungen war sie angezogen worden durch diesen Ort und vor allem durch die Lebewesen, die ihn ausmachten. Die Aura und Kraft, die von dieser Gemeinschaft ausging, war anders als alles, was Lirael kannte, und dennoch konnte sie ihr nicht widerstehen. Und so war sie als Fremde gekommen, hatte als Bekannte geholfen und war als Freundin hier sesshaft geworden.
Ihre ganze kleine Welt war von K?ste zu K?ste umgeben von einem dichten Wald, der vor Leben strotzte. Er strahlte eine Kraft aus, die dem Gef?hl, das sie aus ihrer Kindheit in den W?ldern von Yew zu kennen glaubte, nur wenig nachstand. Er umgab Liraels gegenw?rtigen Lebensmittelpunkt, als wolle er ihn und sie sch?tzen und ihr und ihrem Umfeld Geborgenheit und Sicherheit geben. Gleichzeitig bot ihr der Wald einen R?ckzugsort und verband ihre heutige Welt mit ihrem bisherigen Leben.
---
Ihr Geist war noch immer erf?llt mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht vor dieser Kleinigkeit des ?bergangs von Nacht zu Tag. Widerwillig und missmutig begann sie, ihr Bewusstsein darauf vorzubereiten, dass es sich sehr bald mit den profanen Herausforderungen eines weltlichen Lebens w?rde auseinandersetzen m?ssen und sich von der Dramatik des Konflikts zwischen Welt des Mondes und Welt der Sonne w?rde l?sen m?ssen.
Mit einem stillen, aber tiefen Seufzen begann sie, sich diesen Herausforderungen anzunehmen, und drehte den Kopf ?ber die andere Schulter, um ihre Augen vor der Sonne gesch?tzt langsam ?ffnen zu k?nnen. Deutlich mehr M?he w?rde der n?chste Kraftakt ben?tigen. Sie streckte ihre Arme von sich und reckte ihren Oberk?rper etwas in die H?he, als wolle sie die letzten schlafenden Muskeln ebenfalls erwecken.
Nachdem sie sich der weiteren Existenz all ihrer Gliedma?en und Muskeln versichert hatte und ihr Geist sich langsam aber sicher gen?gend vom erholenden Gef?hl von Schlaf und Ruhe verabschiedet hatte, erhob sie sich langsam. Sie st?tzte beide Arme in die H?ften und blickte zufrieden um sich.
Ihre Welt schien intakt.
Mit leichtem Schritt begann sie zum n?chsten Apfelbaum zu laufen und erhob dabei den Blick, um die Kronen nach den saftigen Fr?chten dieser standhaften Lebewesen abzusuchen. Bareti w?rde sie dankend ?bernehmen, um Most f?r die durstigen G?ste der Taverne herzustellen, und Lirael w?rde sicherstellen, dass diese Ernte im Einklang mit den Bed?rfnissen der B?ume geschah.
Bareti hatte sie gebeten, sich um den Hain und die Umgebung der Taverne zu k?mmern, was Lirael im ersten Moment etwas befremdet hatte, schienen ihr dieser kultivierte Anbau doch fremd. Sie hatte jedoch schnell erkannt, wie viel Bedeutung Bareti dieser Aufgabe und dem Hain beima? und wie sehr die Freunde der Taverne den Schatten und die Erholung unter diesen B?umen sch?tzten. Und so hatte sie erkannt, dass dies ihre M?glichkeit war, gleichzeitig der Welt der Pflanzen, der Welt der Tiere und der Welt der wissenden Wesen zu dienen.
Sie ging langsam weiter und erblickte ein paar B?ume weiter einen Ast, an dem sich die Bl?tter langsam gelblich zu verf?rben schienen und die bei n?herem Hinsehen schwarze Spuren aufwiesen. Vermutlich von einem Mehltaupilz befallen, dachte sie und betrachtete dabei die Bl?tter, die etwas ?ber Kopfh?he hingen, eingehend. Im Wald h?tte sie sich ?ber diesen Anblick erfreut, war doch auch der Pilz ein Lebewesen und Teil eines Systems, das im Einklang lebte und funktionierte. Hier im Hain w?rde er aber die Apfelb?ume st?ren und ?ber die Zeit Sch?den verursachen, die entgegen dem Sinn dieser Kultur gingen. Lirael hatte diesen Umstand mittlerweile akzeptiert und verstanden, dass selbst Waldelfen ihre Umgebung mitformten und dass es auch eine Form der Bewirtschaftung im Einklang mit der Natur geben kann.
Sie betrachtete den Baum eine Weile und begutachtete den Stamm und die Krone in ihrer ganzen Pracht. Der Baum schien ansonsten gesund und man konnte annehmen, dass der Pilz erst diesen einen Ast befallen hatte. Vermutlich war er durch eine Amsel von einem anderen, weniger gut umsorgten Obstgarten eingeflogen worden.
Lirael ging zum Baum und tastete mit der flachen Hand der Rinde entlang. Nach einem Moment hielt sie inne und lehnte sich vor, bis ihre Stirn die Rinde ber?hrte. Still verharrte sie einen Moment in dieser Position und schloss dazu die Augen, bis sie sich schlie?lich dem kranken Ast zuwandte und ihn mit einem ge?bten Schnitt abtrennte. Sie hatte sich vergewissert, dass der Apfelbaum, dieses unglaubliche Lebewesen, das ihr und ihren Freunden Jahr f?r Jahr diese k?stlichen Fr?chte schenkte, wusste, was sie tun w?rde und warum sie es tun w?rde.
Nachdem sie den Hain abgegangen war und die reifen ?pfel abgelesen hatte, lief sie langsamen Schrittes in Richtung des Geb?udes der Taverne. Die Sonne erhellte den Tag mittlerweile deutlich, und dennoch war es noch fr?h. Es waren keine Bewegungen aus der Taverne zu sehen und Lirael vermutete, dass entweder keine G?ste ?bernachtet hatten oder dass sie gerade dabei waren, ihren Reiseproviant vorzubereiten.
Wie beinahe jeden Morgen ging Lirael zum hinteren Eingang, der direkt in die K?che f?hrte. Sie deponierte die ?pfel in einem Weidenkorb, den Bareti eigens zu diesem Zweck aufgestellt hatte. Sie nahm eine kleine Axt, die an der Wand hing, zur Hand und schnallte sie an ihren G?rtel. Danach machte sie sich in eiligen Schritten davon, als f?rchtete sie doch noch jemandem zu begegnen. Ihre Schritte waren zielgerichtet und folgten dem gewohnten Pfad um das Haus herum, auf direktem Weg in den Wald, der die Taverne umgab.
Nachdem sie einige Dutzend Schritte in den Wald hineingelaufen war, nahm sie die Axt vom G?rtel und sah sich um. Die noch immer tief stehende Sonne begann durch das Bl?tterdach zu dringen und lie? die Luft beinahe magisch gr?n leuchten. Mit erhobenem Kopf schloss sie die Augen und atmete tief ein, als wolle sie alle Energie, die Ort und Atmosph?re ihr hier geben konnten, in sich aufnehmen. Sie verharrte eine Weile und horchte den Ger?uschen des Waldes. Sie lie? die k?hle Luft und die Mischung aus Stille und vertrauten Ger?uschen auf sich wirken. Nichts konnte Lirael so beruhigen, ihr in ?hnlicher Art St?rke und Vertrauen geben, wie die Energie, die vom Kraftort Wald ausging.
Nach einer Weile begann sie langsam zu laufen und beobachtete dabei den Wald um sich. Zu ihren Aufgaben in der Taverne geh?rte es auch, die K?che mit Feuerholz zu versorgen, und sie suchte nach verdorrten oder verletzten ?sten oder B?umen, deren Nutzung den Wald st?rken w?rden. Es kam vor, dass sie auch gesunde B?ume einschlug, jedoch war ihr dies unliebsam und ?blicherweise nicht n?tig. W?hrend sie suchend durch den Wald ging und sich umsah, dachte sie an die W?lder von Yew und wie sich die W?lder von Moonglow glichen und unterschieden.
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Erst vor wenigen Tagen war sie zum ersten Mal seit Jahren nach Yew zur?ckgekehrt. Sie hatte in der Taverne ein Gespr?ch zwischen Bareti und Elfen belauscht, in dem sie ?ber Yew und die Bedeutung dieses Ortes f?r Elfen gesprochen hatten. Lirael war sich dieser Bedeutung wohl bewusst, und dennoch war sie seit langer Zeit nicht mehr an diesen Ort ihrer Kindheit zur?ckgekehrt. Zu viele belastende Gedanken waren mit diesem Ort verbunden.
Und dennoch hatte sie sich auf einmal mitten in Yew wiedergefunden.
Sie war auf der Suche nach Federn und Holzst?cken, um neue Pfeile herzustellen, und hatte bei den H?ndlern des Blackrocksyndikats nachgefragt, ob sie dies liefern k?nnten. Die H?ndlerin Talia Xerodes, der Lirael bereits einige Male in der Taverne begegnet war, hatte beinahe nerv?s angefangen, von H?ndlern in Yew zu reden, und hatte Lirael kurzerhand an der Hand genommen und war mit ihr zum Reisemagier gerannt, und ehe sie richtig wusste, was geschah, stand sie schon am Stadteingang von Yew und Talia schleifte sie durch die Gassen zur Bognerin Diundriel.
Nachdem die erste ?berumpelung verflogen war und Talia wieder davon gehastet war, stand Lirael also in Yew und wusste nicht recht, wie ihr geschah. Doch noch bevor sie sich ihrer Gef?hle vollumf?nglich bewusstwurde oder sich n?her damit befassen konnte, zupfte etwas an ihrem Hemd. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte hinter sich eine junge Lichtelfin, die auf sie einredete. Lirael schaffte es abwesend, die beiden Informationen "Suche" und "meinen Vater" auszufiltern, und glaubte zu verstehen, dass das Kind seinen Vater suchte. Noch immer abwesend und mit einem Kopf, der gef?llt mit einer ganzen Welt voller Fragen und sich gleichzeitig doch leer anf?hlte, trat Lirael mit dem Kind nach drau?en vor das Lokal, nur um eine bekannte Stimme von der Bar her zu vernehmen. Langsam ging sie in die entsprechende Richtung, wobei das Kind sie ?berholte und sie schlie?lich beinahe zur Bar mitschleifte.
Beinahe wie im Traum vernahm sie die Danksagung der beiden M?nner und setzte sich an den Tresen. Ein Glas Wasser wurde ihr vorgesetzt und sie trank einen Schluck und senkte den Kopf zur Bar hinab. W?hrend neben ihr offenbar ein Gespr?ch zwischen Tochter und Vater stattfand, sa? sie da, abwesend, unsicher und beinahe verloren. Wenngleich sie das Gespr?ch nicht aktiv verfolgte, so drohte dieser Austausch zwischen Vater und Tochter sie doch schmerzlich an ihre eigene verlorene Kindheit zu erinnern.
Nach einigen Minuten war es abermals ein Zupfen an ihrem Hemd, das sie aufriss, als das Kind sich von ihr verabschieden wollte. Der ?ltere Lichtelf, der offenbar der Vater des Kindes war, brachte sie ins Bett. Der Stimme nach war er es, mit dem Bareti an jenem Abend in der Taverne gesprochen hatte.
Nach wenigen Minuten war er zur?ck und setzte sich erneut an den Tresen, jedoch auf Liraels andere Seite, so dass sie nun zwischen dem j?ngeren Waldelfen und dem ?lteren Lichtelfen sa?. Die beiden stellten sich als Rianon und E'lessar vor und sie sprachen eine Weile ?ber die W?lder von Yew und ihre Bedeutung.
Lirael gestand, das Gespr?ch mit Bareti belauscht zu haben, und erz?hlte ?ber die Hintergr?nde ihres langen Fernbleibens aus Yew.
Nach einiger Zeit, deutlich sp?ter als Lirael vermutet h?tte, verabschiedeten sich die beiden und sie blieb allein am Tresen zur?ck. Obschon die Nacht bereits ?ber Yew hereingebrochen war, sah sie in die Kronen der gro?en und kraftvollen B?ume, die diesen zentralen Ort der Stadt umgaben. Es war beeindruckend, welche Aura und Kraft von ihnen ausging, und Lirael verstand besser, wieso dies der Ort der Elfen war, und obschon sie die Hintergr?nde f?r ihr langes Fernbleiben bisher bewusst verdr?ngt hatte, war sie sich sicher, dass sie Yew wohl bald wieder besuchen w?rde. Sie war sich jedoch auch sicher, dass sie wenig Drang versp?rte, sich mit dem Trauma, das ihre Kindheit und Jugend umgab, zu befassen.
Und dennoch, sie war in Yew gewesen und ihre Welt schien nach wie vor intakt.
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Mittlerweile hatte Lirael einen stattlichen Stapel Brennholz aufbereitet und begab sich auf den R?ckweg zur Taverne. Sie n?herte sich wiederum von hinten dem Geb?ude und stapelte das Holz sorgf?ltig neben dem Hintereingang zur K?che auf. Sie h?rte, wie im Innern angeregte Diskussionen gef?hrt wurden, und vermutete, dass eine ganze G?steschar auf das Essen wartete, das in der K?che zubereitet wurde. Durch das K?chenfenster erblickte Lirael Bareti, die offensichtlich dabei war, bei der Zubereitung zu helfen.
Ihre Blicke trafen sich f?r einen Moment und Baretis Miene erhellte sich, als sie ihre Freundin erblickte. Obwohl sie durch ein Fenster getrennt waren und der Blickkontakt nur wenige Augenblicke gedauert hatte, war der Austausch so umfassend, wie es nur durch eine tiefere Verbindung m?glich war.
Lirael hatte nicht das Bed?rfnis, sich in den Schankraum zu G?sten oder Freunden zu begeben. Im Gegenteil, sie sch?tzte ihre Ruhe und Freiheit und mied den Kontakt mit Unbekannten. Bareti wusste dies und respektierte es und freute sich deshalb umso mehr, dass sie Lirael unerwarteterweise gesehen hatte. Lirael hatte ein Buch aus ihrer Tasche genommen und winkte Bareti damit, wobei sich ein breites L?cheln um ihren Mund bildete. Beim Anblick des Buches verbreiterte sich Baretis L?cheln und sie nickte ihr wissend zu.
Auf dem R?ckweg in den Wald dachte Lirael erneut ?ber die Taverne und ihre Freunde, insbesondere Bareti, nach. Besonders nach dem Besuch in Yew wusste sie, wo sie hingeh?ren w?rde, und dennoch versp?rte sie keinen Drang, der nat?rlichen Anziehung dieser Heimat der Elfen nachzugeben. In der Taverne hatte sie etwas gefunden, das sie lange gesucht hatte: Platz, Zugeh?rigkeit, Aufgaben und Anerkennung. Und Zuneigung, die insbesondere Bareti ihr deutlich zeigte. Bareti hatte sich in den letzten Wochen viel Zeit genommen f?r Lirael und hatte ihr enorm viel gezeigt und ihr viel zugeh?rt. Es war Lirael nicht ganz klar, woher dies r?hrte, aber sie f?hlte sich ihrer Freundin verbunden und sch?tzte sie sehr.
Nicht zuletzt hatte Bareti Lirael auch auf die Idee ihres aktuellen Projektes gebracht. Nachdem sie ihre Aufgaben f?r die Taverne am Morgen erledigt hatte, konnte sie sich nun ganz mit diesem Projekt befassen, wovon das Buch, das sie bei sich trug, ein Teil war.
Sie war auf der Suche nach einer Trauerweide, diesem Baum, dessen h?ngende Bl?tter und Zweige auff?llig und jedem bekannt sind. Sie wachsen vorwiegend an Wasserl?ufen, und Lirael war auf dem Weg zum n?chsten Bach, den sie kannte. Sie hoffte dort einen derartigen Baum zu finden, denn sie wollte Zeichnungen seiner Bl?tter und seiner Rinde anfertigen.
Inspiriert von Baretis Forschung hatte Lirael die Idee entwickelt, ihren geliebten Wald zu dokumentieren und alles verf?gbare Wissen ?ber die Pflanzen in ihm aufzuschreiben. Spa?eshalber und obschon sie noch fast gar nichts geschrieben hatte, hatte sie sich bereits Gedanken gemacht ?ber den Titel des Werks:
Flora Moonglowiensis ? die Pflanzen von Moonglow
Und in einem sp?teren Schritt lie?e sich das Werk ausbauen auf die ganze bekannte Welt:
Flora Valmorrica ? Ein botanischer F?hrer durch Valmorra
Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen war, h?rte sie langsam das Pl?tschern eines Wasserlaufs und sah, wie sich das Kronendach weiter vorne zu ?ffnen begann. Nachdem sie einige weitere Minuten dem Wasserlauf gefolgt war, erblickte sie tats?chlich die charakteristische Kronenform einer Trauerweide am Ufer des Bachs. Zufrieden hielt sie einen Moment inne und erfreute sich an der Sch?nheit, die die Natur auch an diesem Ort hervorgebracht hatte. Sie setzte sich dann unter den Baum und nahm ihr Buch hervor und begann, sich einige Notizen zu machen und so gut es ihre Fertigkeiten zulie?en, die Bl?tter und Rinde abzuzeichnen.
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Flora Moonglowiensis ? die Pflanzen von Moonglow
Eintrag: Trauerweide
Die Trauerweide ist ein Baum, der Wuchsh?hen von 6 bis 12 Mannsh?hen erreicht. Der Stammdurchmesser erreicht ?ber 42 Fingerbreit. Die ?ste sind weit ausladend und die Zweige sind d?nn, lang, rutenf?rmig und ?berh?ngend. Die Rinde ist anfangs seidig behaart, hellgrau und sp?ter kahl.
Die Laubbl?tter sind in Blattstiel und -spreite gegliedert. Die einfache Blattspreite ist bei einer L?nge von bis zu 8 FIngerbreit sowie einer Breite von etwas ?ber einem Fingerbreit lanzettlich mit lang zugespitztem oberem Ende und am Grund genauso zusammenlaufend. Der Blattrand ist knorpelig ges?gt. Die Blattoberseite ist dunkelgr?n und die -unterseite graugr?n, beide Seiten sind kahl.
Noch zu erg?nzen:
Generative Merkmale
Zeichnungen Bl?tter
Zeichnungen Knospen und Bl?ten
Zeichnungen Rinde
Weitere Eintr?ge, die vervollst?ndigt werden m?ssen:
Schw?rzling
Farn, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Aschenbl?te
Pilz, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Nachtschatten
Ihre Bl?te wird Nachtherz genannt und ist offenbar giftig.
Mondtau
Moos, auch auf Moonglow heimisch
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Die letzten vier Eintr?ge musste sie ebenfalls noch vervollst?ndigen und dazu bei Nathanael mehr Informationen einfordern.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Lirael damit, die Zeichnungen fertigzustellen. Zwischendurch hielt sie immer wieder inne und erfreute sich an den Kl?ngen und der Sch?nheit um sich herum. Sie stand zwischendurch immer wieder auf und suchte die Umgebung nach weiteren interessanten oder ihr unbekannten Pflanzen ab.
Als die Sonne langsam schw?cher wurde, machte sie sich auf den R?ckweg zur Taverne. Als sie dort ankam, waren noch die letzten Sonnenstrahlen ?ber dem nahen Wasser sichtbar. In der Taverne schien noch immer oder wieder Hochbetrieb zu herrschen. Es schimmerte bereits Kerzenlicht durch die Fenster nach drau?en und das Gel?chter und die angeregten Gespr?che von zufriedenen G?sten waren h?rbar. Lirael machte einen Bogen um das Geb?ude, nur um sich dann wiederum dem Hintereingang zu n?hern. Ein Topf mit etwas Eintopf darin und zwei ?pfel standen auf den Holzdielen vor der T?r. Bareti hatte wie ?blich etwas Essen f?r sie beiseitegestellt und Lirael nahm es mit auf ihrem Weg zum Apfelhain.
Es mochte Au?enstehenden sonderbar vorkommen, aber Lirael wollte es so. Sie w?re im Schankraum willkommen gewesen und Bareti h?tte sich gefreut, Lirael bei sich am Tresen oder Tisch zu sehen. Aber Lirael zog die Ruhe und Einsamkeit des Apfelhains der Gesellschaft in der Taverne vor. Und nicht selten gesellten sich im Verlaufe des Abends Nicoletta oder Bareti f?r eine Weile zu ihr und sie erz?hlten sich von den Erlebnissen des Tages.
Und so sa? Lirael wiederum unter ihrem Lieblingsapfelbaum, mit Blick auf die See, und a? zufrieden etwas von Baretis Eintopf. Sie beobachtete, wie der Kampf zwischen Tag und Nacht sich erneut abspielte, als ob es um das ?berleben zweier Welten ginge. Ihre Gedanken kreisten aber auch immer mehr um den Kampf in ihrem Kopf, zwischen ihren verschiedenen Leben und den verschiedenen Welten, in denen sie wandelte. Ihre alte Heimat Yew, mit den Elfen, zu denen sie geh?rte, und ihre neue Heimat, die Taverne, und den Freunden, die sie hier gewonnen hatte.
F?r den Moment schien ihre Welt intakt, aber sie bef?rchtete, dass sie sich nicht f?r immer vor diesem inneren Konflikt w?rde verstecken k?nnen.
Es war ein sch?ner Morgen, als Lirael durch eine Fliege geweckt wurde, die ihr nerv?s ?ber die Nase krabbelte und ein leichtes Kitzeln verursachte, das zwar st?rend, aber nicht unangenehm war. Mit geschlossenen Augen und noch halb im Schlaf strich sie sich mit der Hand ?ber das Gesicht. Die Fliege flog weg und Lirael driftete bereits wieder ab in ein Land voller Tr?ume und Sch?nheit. Doch das emsige Insekt kehrte nach wenigen Augenblicken zur?ck und setzte sich unmittelbar zwischen Liraels Augen und kitzelte sie erneut durch seine feinen, aber sp?rbaren Schritte. Wiederum glitt die Hand zum Gesicht, unklar, ob es sich um eine bewusste Reaktion oder vielmehr einen Reflex im Schlaf handelte.
Ein Blinzeln lie? die Fliege schlie?lich erneut wegfliegen.
Sachte r?hrte sich Lirael und drehte den Kopf ?ber die linke Schulter, nur um festzustellen, dass das Leuchten der Sonne, das nun direkt auf ihr Gesicht fiel, noch etwas zu stark war f?r ihre scharfen Augen. Obschon sie noch beinahe vollst?ndig geschlossen waren, sp?rte sie bereits die fast schon stechende Kraft, die vom Himmel schien. Gleichzeitig genoss sie die W?rme, die die gleiche Kraft auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie entschied sich, mit diesem Zwiespalt umzugehen, indem sie ihre Augen noch etwas geschlossen hielt, um die W?rme noch etwas zu genie?en, die mittlerweile auch anfing, ihre linke Schulter und Arm zu erfassen.
W?hrend sie da sa?, die eine K?rperh?lfte sowie den einen Teil ihres Geistes noch in der Nacht, und die anderen H?lften bereits dem anbrechenden sonnigen Tag ausgesetzt, verarbeitete ihr Geist die beiden Gegens?tze der erfrischenden, aber k?hlen und feuchten Nacht zur W?rme des anbrechenden Tages. Gegens?tze, die gerade in diesem Moment so wahrnehmbar und klar waren, dass man sich in zwei K?rpern gleichzeitig h?tte w?hnen k?nnen und die einen schwachen Geist h?tten zerrei?en k?nnen.
Lirael f?hlte nichts von einer derartigen Zerrissenheit und sie sa? an diesem Morgen unter ihrem Lieblingsbaum, in einer tiefen Ruhe und mit der unersch?tterlichen Gewissheit, dass der Tag und die W?rme, die er mit sich brachte, sie fr?her oder sp?ter vollst?ndig umh?llen w?rden.
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Sie sa? unter ihrem Lieblingsbaum, im Apfelhain hinter der Taverne.
Vor sich die weite K?ste von Moonglow, die offen und unbekannt vor ihr lag, wie eine Welt, die voller Abenteuer darauf wartete, entdeckt und erobert zu werden.
Unter sich die fruchtbare Erde, die die Apfelb?ume gedeihen und ihre Fr?chte saftig und s?? werden lie?. Bedeckt von einem Teppich aus k?hlem und feuchtem Gras, das einem ganzen Universum an Lebewesen als Grundlage diente und der Lirael als Bett ein weiches Nest bot.
?ber sich die Baumkrone und der Himmel, dessen Farbe sich mit jedem Augenblick von einem beinahe schwarzen Nachtblau hin zu einem Gem?lde wandelte, das eine Mischung aus klarem Blau und leuchtendem Gelb, durchzogen mit wei?em Schlackern, abbildete. Die Baumkrone bedeckte genug vom Himmel, damit sich Lirael nicht in der Gr??e und Unendlichkeit des Horizonts zu verlieren drohte, und sie war froh um den sch?tzenden Schirm, den ihr ihr Freund, der Apfelbaum, bot.
Hinter sich den borkigen Baumstamm des alten Baumes, der unersch?tterlich und unverr?ckbar dastand und Lirael Halt gab. Seine Wurzeln hielten den Boden zusammen und der Stamm bildete eine Br?cke zwischen der Welt am Boden und der Welt in der Luft.
In einigem Abstand zum Apfelhain befand sich hinter Lirael die Taverne, die f?r Lirael so wichtig geworden war. Als Fremde war sie in diese unbekannte Welt gezogen worden. Es war ihr sonderbar vorgekommen, und trotz ihrer angeborenen Abneigung gegen feste Strukturen und Einrichtungen war sie angezogen worden durch diesen Ort und vor allem durch die Lebewesen, die ihn ausmachten. Die Aura und Kraft, die von dieser Gemeinschaft ausging, war anders als alles, was Lirael kannte, und dennoch konnte sie ihr nicht widerstehen. Und so war sie als Fremde gekommen, hatte als Bekannte geholfen und war als Freundin hier sesshaft geworden.
Ihre ganze kleine Welt war von K?ste zu K?ste umgeben von einem dichten Wald, der vor Leben strotzte. Er strahlte eine Kraft aus, die dem Gef?hl, das sie aus ihrer Kindheit in den W?ldern von Yew zu kennen glaubte, nur wenig nachstand. Er umgab Liraels gegenw?rtigen Lebensmittelpunkt, als wolle er ihn und sie sch?tzen und ihr und ihrem Umfeld Geborgenheit und Sicherheit geben. Gleichzeitig bot ihr der Wald einen R?ckzugsort und verband ihre heutige Welt mit ihrem bisherigen Leben.
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Ihr Geist war noch immer erf?llt mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht vor dieser Kleinigkeit des ?bergangs von Nacht zu Tag. Widerwillig und missmutig begann sie, ihr Bewusstsein darauf vorzubereiten, dass es sich sehr bald mit den profanen Herausforderungen eines weltlichen Lebens w?rde auseinandersetzen m?ssen und sich von der Dramatik des Konflikts zwischen Welt des Mondes und Welt der Sonne w?rde l?sen m?ssen.
Mit einem stillen, aber tiefen Seufzen begann sie, sich diesen Herausforderungen anzunehmen, und drehte den Kopf ?ber die andere Schulter, um ihre Augen vor der Sonne gesch?tzt langsam ?ffnen zu k?nnen. Deutlich mehr M?he w?rde der n?chste Kraftakt ben?tigen. Sie streckte ihre Arme von sich und reckte ihren Oberk?rper etwas in die H?he, als wolle sie die letzten schlafenden Muskeln ebenfalls erwecken.
Nachdem sie sich der weiteren Existenz all ihrer Gliedma?en und Muskeln versichert hatte und ihr Geist sich langsam aber sicher gen?gend vom erholenden Gef?hl von Schlaf und Ruhe verabschiedet hatte, erhob sie sich langsam. Sie st?tzte beide Arme in die H?ften und blickte zufrieden um sich.
Ihre Welt schien intakt.
Mit leichtem Schritt begann sie zum n?chsten Apfelbaum zu laufen und erhob dabei den Blick, um die Kronen nach den saftigen Fr?chten dieser standhaften Lebewesen abzusuchen. Bareti w?rde sie dankend ?bernehmen, um Most f?r die durstigen G?ste der Taverne herzustellen, und Lirael w?rde sicherstellen, dass diese Ernte im Einklang mit den Bed?rfnissen der B?ume geschah.
Bareti hatte sie gebeten, sich um den Hain und die Umgebung der Taverne zu k?mmern, was Lirael im ersten Moment etwas befremdet hatte, schienen ihr dieser kultivierte Anbau doch fremd. Sie hatte jedoch schnell erkannt, wie viel Bedeutung Bareti dieser Aufgabe und dem Hain beima? und wie sehr die Freunde der Taverne den Schatten und die Erholung unter diesen B?umen sch?tzten. Und so hatte sie erkannt, dass dies ihre M?glichkeit war, gleichzeitig der Welt der Pflanzen, der Welt der Tiere und der Welt der wissenden Wesen zu dienen.
Sie ging langsam weiter und erblickte ein paar B?ume weiter einen Ast, an dem sich die Bl?tter langsam gelblich zu verf?rben schienen und die bei n?herem Hinsehen schwarze Spuren aufwiesen. Vermutlich von einem Mehltaupilz befallen, dachte sie und betrachtete dabei die Bl?tter, die etwas ?ber Kopfh?he hingen, eingehend. Im Wald h?tte sie sich ?ber diesen Anblick erfreut, war doch auch der Pilz ein Lebewesen und Teil eines Systems, das im Einklang lebte und funktionierte. Hier im Hain w?rde er aber die Apfelb?ume st?ren und ?ber die Zeit Sch?den verursachen, die entgegen dem Sinn dieser Kultur gingen. Lirael hatte diesen Umstand mittlerweile akzeptiert und verstanden, dass selbst Waldelfen ihre Umgebung mitformten und dass es auch eine Form der Bewirtschaftung im Einklang mit der Natur geben kann.
Sie betrachtete den Baum eine Weile und begutachtete den Stamm und die Krone in ihrer ganzen Pracht. Der Baum schien ansonsten gesund und man konnte annehmen, dass der Pilz erst diesen einen Ast befallen hatte. Vermutlich war er durch eine Amsel von einem anderen, weniger gut umsorgten Obstgarten eingeflogen worden.
Lirael ging zum Baum und tastete mit der flachen Hand der Rinde entlang. Nach einem Moment hielt sie inne und lehnte sich vor, bis ihre Stirn die Rinde ber?hrte. Still verharrte sie einen Moment in dieser Position und schloss dazu die Augen, bis sie sich schlie?lich dem kranken Ast zuwandte und ihn mit einem ge?bten Schnitt abtrennte. Sie hatte sich vergewissert, dass der Apfelbaum, dieses unglaubliche Lebewesen, das ihr und ihren Freunden Jahr f?r Jahr diese k?stlichen Fr?chte schenkte, wusste, was sie tun w?rde und warum sie es tun w?rde.
Nachdem sie den Hain abgegangen war und die reifen ?pfel abgelesen hatte, lief sie langsamen Schrittes in Richtung des Geb?udes der Taverne. Die Sonne erhellte den Tag mittlerweile deutlich, und dennoch war es noch fr?h. Es waren keine Bewegungen aus der Taverne zu sehen und Lirael vermutete, dass entweder keine G?ste ?bernachtet hatten oder dass sie gerade dabei waren, ihren Reiseproviant vorzubereiten.
Wie beinahe jeden Morgen ging Lirael zum hinteren Eingang, der direkt in die K?che f?hrte. Sie deponierte die ?pfel in einem Weidenkorb, den Bareti eigens zu diesem Zweck aufgestellt hatte. Sie nahm eine kleine Axt, die an der Wand hing, zur Hand und schnallte sie an ihren G?rtel. Danach machte sie sich in eiligen Schritten davon, als f?rchtete sie doch noch jemandem zu begegnen. Ihre Schritte waren zielgerichtet und folgten dem gewohnten Pfad um das Haus herum, auf direktem Weg in den Wald, der die Taverne umgab.
Nachdem sie einige Dutzend Schritte in den Wald hineingelaufen war, nahm sie die Axt vom G?rtel und sah sich um. Die noch immer tief stehende Sonne begann durch das Bl?tterdach zu dringen und lie? die Luft beinahe magisch gr?n leuchten. Mit erhobenem Kopf schloss sie die Augen und atmete tief ein, als wolle sie alle Energie, die Ort und Atmosph?re ihr hier geben konnten, in sich aufnehmen. Sie verharrte eine Weile und horchte den Ger?uschen des Waldes. Sie lie? die k?hle Luft und die Mischung aus Stille und vertrauten Ger?uschen auf sich wirken. Nichts konnte Lirael so beruhigen, ihr in ?hnlicher Art St?rke und Vertrauen geben, wie die Energie, die vom Kraftort Wald ausging.
Nach einer Weile begann sie langsam zu laufen und beobachtete dabei den Wald um sich. Zu ihren Aufgaben in der Taverne geh?rte es auch, die K?che mit Feuerholz zu versorgen, und sie suchte nach verdorrten oder verletzten ?sten oder B?umen, deren Nutzung den Wald st?rken w?rden. Es kam vor, dass sie auch gesunde B?ume einschlug, jedoch war ihr dies unliebsam und ?blicherweise nicht n?tig. W?hrend sie suchend durch den Wald ging und sich umsah, dachte sie an die W?lder von Yew und wie sich die W?lder von Moonglow glichen und unterschieden.
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Erst vor wenigen Tagen war sie zum ersten Mal seit Jahren nach Yew zur?ckgekehrt. Sie hatte in der Taverne ein Gespr?ch zwischen Bareti und Elfen belauscht, in dem sie ?ber Yew und die Bedeutung dieses Ortes f?r Elfen gesprochen hatten. Lirael war sich dieser Bedeutung wohl bewusst, und dennoch war sie seit langer Zeit nicht mehr an diesen Ort ihrer Kindheit zur?ckgekehrt. Zu viele belastende Gedanken waren mit diesem Ort verbunden.
Und dennoch hatte sie sich auf einmal mitten in Yew wiedergefunden.
Sie war auf der Suche nach Federn und Holzst?cken, um neue Pfeile herzustellen, und hatte bei den H?ndlern des Blackrocksyndikats nachgefragt, ob sie dies liefern k?nnten. Die H?ndlerin Talia Xerodes, der Lirael bereits einige Male in der Taverne begegnet war, hatte beinahe nerv?s angefangen, von H?ndlern in Yew zu reden, und hatte Lirael kurzerhand an der Hand genommen und war mit ihr zum Reisemagier gerannt, und ehe sie richtig wusste, was geschah, stand sie schon am Stadteingang von Yew und Talia schleifte sie durch die Gassen zur Bognerin Diundriel.
Nachdem die erste ?berumpelung verflogen war und Talia wieder davon gehastet war, stand Lirael also in Yew und wusste nicht recht, wie ihr geschah. Doch noch bevor sie sich ihrer Gef?hle vollumf?nglich bewusstwurde oder sich n?her damit befassen konnte, zupfte etwas an ihrem Hemd. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte hinter sich eine junge Lichtelfin, die auf sie einredete. Lirael schaffte es abwesend, die beiden Informationen "Suche" und "meinen Vater" auszufiltern, und glaubte zu verstehen, dass das Kind seinen Vater suchte. Noch immer abwesend und mit einem Kopf, der gef?llt mit einer ganzen Welt voller Fragen und sich gleichzeitig doch leer anf?hlte, trat Lirael mit dem Kind nach drau?en vor das Lokal, nur um eine bekannte Stimme von der Bar her zu vernehmen. Langsam ging sie in die entsprechende Richtung, wobei das Kind sie ?berholte und sie schlie?lich beinahe zur Bar mitschleifte.
Beinahe wie im Traum vernahm sie die Danksagung der beiden M?nner und setzte sich an den Tresen. Ein Glas Wasser wurde ihr vorgesetzt und sie trank einen Schluck und senkte den Kopf zur Bar hinab. W?hrend neben ihr offenbar ein Gespr?ch zwischen Tochter und Vater stattfand, sa? sie da, abwesend, unsicher und beinahe verloren. Wenngleich sie das Gespr?ch nicht aktiv verfolgte, so drohte dieser Austausch zwischen Vater und Tochter sie doch schmerzlich an ihre eigene verlorene Kindheit zu erinnern.
Nach einigen Minuten war es abermals ein Zupfen an ihrem Hemd, das sie aufriss, als das Kind sich von ihr verabschieden wollte. Der ?ltere Lichtelf, der offenbar der Vater des Kindes war, brachte sie ins Bett. Der Stimme nach war er es, mit dem Bareti an jenem Abend in der Taverne gesprochen hatte.
Nach wenigen Minuten war er zur?ck und setzte sich erneut an den Tresen, jedoch auf Liraels andere Seite, so dass sie nun zwischen dem j?ngeren Waldelfen und dem ?lteren Lichtelfen sa?. Die beiden stellten sich als Rianon und E'lessar vor und sie sprachen eine Weile ?ber die W?lder von Yew und ihre Bedeutung.
Lirael gestand, das Gespr?ch mit Bareti belauscht zu haben, und erz?hlte ?ber die Hintergr?nde ihres langen Fernbleibens aus Yew.
Nach einiger Zeit, deutlich sp?ter als Lirael vermutet h?tte, verabschiedeten sich die beiden und sie blieb allein am Tresen zur?ck. Obschon die Nacht bereits ?ber Yew hereingebrochen war, sah sie in die Kronen der gro?en und kraftvollen B?ume, die diesen zentralen Ort der Stadt umgaben. Es war beeindruckend, welche Aura und Kraft von ihnen ausging, und Lirael verstand besser, wieso dies der Ort der Elfen war, und obschon sie die Hintergr?nde f?r ihr langes Fernbleiben bisher bewusst verdr?ngt hatte, war sie sich sicher, dass sie Yew wohl bald wieder besuchen w?rde. Sie war sich jedoch auch sicher, dass sie wenig Drang versp?rte, sich mit dem Trauma, das ihre Kindheit und Jugend umgab, zu befassen.
Und dennoch, sie war in Yew gewesen und ihre Welt schien nach wie vor intakt.
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Mittlerweile hatte Lirael einen stattlichen Stapel Brennholz aufbereitet und begab sich auf den R?ckweg zur Taverne. Sie n?herte sich wiederum von hinten dem Geb?ude und stapelte das Holz sorgf?ltig neben dem Hintereingang zur K?che auf. Sie h?rte, wie im Innern angeregte Diskussionen gef?hrt wurden, und vermutete, dass eine ganze G?steschar auf das Essen wartete, das in der K?che zubereitet wurde. Durch das K?chenfenster erblickte Lirael Bareti, die offensichtlich dabei war, bei der Zubereitung zu helfen.
Ihre Blicke trafen sich f?r einen Moment und Baretis Miene erhellte sich, als sie ihre Freundin erblickte. Obwohl sie durch ein Fenster getrennt waren und der Blickkontakt nur wenige Augenblicke gedauert hatte, war der Austausch so umfassend, wie es nur durch eine tiefere Verbindung m?glich war.
Lirael hatte nicht das Bed?rfnis, sich in den Schankraum zu G?sten oder Freunden zu begeben. Im Gegenteil, sie sch?tzte ihre Ruhe und Freiheit und mied den Kontakt mit Unbekannten. Bareti wusste dies und respektierte es und freute sich deshalb umso mehr, dass sie Lirael unerwarteterweise gesehen hatte. Lirael hatte ein Buch aus ihrer Tasche genommen und winkte Bareti damit, wobei sich ein breites L?cheln um ihren Mund bildete. Beim Anblick des Buches verbreiterte sich Baretis L?cheln und sie nickte ihr wissend zu.
Auf dem R?ckweg in den Wald dachte Lirael erneut ?ber die Taverne und ihre Freunde, insbesondere Bareti, nach. Besonders nach dem Besuch in Yew wusste sie, wo sie hingeh?ren w?rde, und dennoch versp?rte sie keinen Drang, der nat?rlichen Anziehung dieser Heimat der Elfen nachzugeben. In der Taverne hatte sie etwas gefunden, das sie lange gesucht hatte: Platz, Zugeh?rigkeit, Aufgaben und Anerkennung. Und Zuneigung, die insbesondere Bareti ihr deutlich zeigte. Bareti hatte sich in den letzten Wochen viel Zeit genommen f?r Lirael und hatte ihr enorm viel gezeigt und ihr viel zugeh?rt. Es war Lirael nicht ganz klar, woher dies r?hrte, aber sie f?hlte sich ihrer Freundin verbunden und sch?tzte sie sehr.
Nicht zuletzt hatte Bareti Lirael auch auf die Idee ihres aktuellen Projektes gebracht. Nachdem sie ihre Aufgaben f?r die Taverne am Morgen erledigt hatte, konnte sie sich nun ganz mit diesem Projekt befassen, wovon das Buch, das sie bei sich trug, ein Teil war.
Sie war auf der Suche nach einer Trauerweide, diesem Baum, dessen h?ngende Bl?tter und Zweige auff?llig und jedem bekannt sind. Sie wachsen vorwiegend an Wasserl?ufen, und Lirael war auf dem Weg zum n?chsten Bach, den sie kannte. Sie hoffte dort einen derartigen Baum zu finden, denn sie wollte Zeichnungen seiner Bl?tter und seiner Rinde anfertigen.
Inspiriert von Baretis Forschung hatte Lirael die Idee entwickelt, ihren geliebten Wald zu dokumentieren und alles verf?gbare Wissen ?ber die Pflanzen in ihm aufzuschreiben. Spa?eshalber und obschon sie noch fast gar nichts geschrieben hatte, hatte sie sich bereits Gedanken gemacht ?ber den Titel des Werks:
Flora Moonglowiensis ? die Pflanzen von Moonglow
Und in einem sp?teren Schritt lie?e sich das Werk ausbauen auf die ganze bekannte Welt:
Flora Valmorrica ? Ein botanischer F?hrer durch Valmorra
Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen war, h?rte sie langsam das Pl?tschern eines Wasserlaufs und sah, wie sich das Kronendach weiter vorne zu ?ffnen begann. Nachdem sie einige weitere Minuten dem Wasserlauf gefolgt war, erblickte sie tats?chlich die charakteristische Kronenform einer Trauerweide am Ufer des Bachs. Zufrieden hielt sie einen Moment inne und erfreute sich an der Sch?nheit, die die Natur auch an diesem Ort hervorgebracht hatte. Sie setzte sich dann unter den Baum und nahm ihr Buch hervor und begann, sich einige Notizen zu machen und so gut es ihre Fertigkeiten zulie?en, die Bl?tter und Rinde abzuzeichnen.
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Flora Moonglowiensis ? die Pflanzen von Moonglow
Eintrag: Trauerweide
Die Trauerweide ist ein Baum, der Wuchsh?hen von 6 bis 12 Mannsh?hen erreicht. Der Stammdurchmesser erreicht ?ber 42 Fingerbreit. Die ?ste sind weit ausladend und die Zweige sind d?nn, lang, rutenf?rmig und ?berh?ngend. Die Rinde ist anfangs seidig behaart, hellgrau und sp?ter kahl.
Die Laubbl?tter sind in Blattstiel und -spreite gegliedert. Die einfache Blattspreite ist bei einer L?nge von bis zu 8 FIngerbreit sowie einer Breite von etwas ?ber einem Fingerbreit lanzettlich mit lang zugespitztem oberem Ende und am Grund genauso zusammenlaufend. Der Blattrand ist knorpelig ges?gt. Die Blattoberseite ist dunkelgr?n und die -unterseite graugr?n, beide Seiten sind kahl.
Noch zu erg?nzen:
Generative Merkmale
Zeichnungen Bl?tter
Zeichnungen Knospen und Bl?ten
Zeichnungen Rinde
Weitere Eintr?ge, die vervollst?ndigt werden m?ssen:
Schw?rzling
Farn, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Aschenbl?te
Pilz, offenbar giftig und nicht heimisch auf Moonglow
Nachtschatten
Ihre Bl?te wird Nachtherz genannt und ist offenbar giftig.
Mondtau
Moos, auch auf Moonglow heimisch
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Die letzten vier Eintr?ge musste sie ebenfalls noch vervollst?ndigen und dazu bei Nathanael mehr Informationen einfordern.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Lirael damit, die Zeichnungen fertigzustellen. Zwischendurch hielt sie immer wieder inne und erfreute sich an den Kl?ngen und der Sch?nheit um sich herum. Sie stand zwischendurch immer wieder auf und suchte die Umgebung nach weiteren interessanten oder ihr unbekannten Pflanzen ab.
Als die Sonne langsam schw?cher wurde, machte sie sich auf den R?ckweg zur Taverne. Als sie dort ankam, waren noch die letzten Sonnenstrahlen ?ber dem nahen Wasser sichtbar. In der Taverne schien noch immer oder wieder Hochbetrieb zu herrschen. Es schimmerte bereits Kerzenlicht durch die Fenster nach drau?en und das Gel?chter und die angeregten Gespr?che von zufriedenen G?sten waren h?rbar. Lirael machte einen Bogen um das Geb?ude, nur um sich dann wiederum dem Hintereingang zu n?hern. Ein Topf mit etwas Eintopf darin und zwei ?pfel standen auf den Holzdielen vor der T?r. Bareti hatte wie ?blich etwas Essen f?r sie beiseitegestellt und Lirael nahm es mit auf ihrem Weg zum Apfelhain.
Es mochte Au?enstehenden sonderbar vorkommen, aber Lirael wollte es so. Sie w?re im Schankraum willkommen gewesen und Bareti h?tte sich gefreut, Lirael bei sich am Tresen oder Tisch zu sehen. Aber Lirael zog die Ruhe und Einsamkeit des Apfelhains der Gesellschaft in der Taverne vor. Und nicht selten gesellten sich im Verlaufe des Abends Nicoletta oder Bareti f?r eine Weile zu ihr und sie erz?hlten sich von den Erlebnissen des Tages.
Und so sa? Lirael wiederum unter ihrem Lieblingsapfelbaum, mit Blick auf die See, und a? zufrieden etwas von Baretis Eintopf. Sie beobachtete, wie der Kampf zwischen Tag und Nacht sich erneut abspielte, als ob es um das ?berleben zweier Welten ginge. Ihre Gedanken kreisten aber auch immer mehr um den Kampf in ihrem Kopf, zwischen ihren verschiedenen Leben und den verschiedenen Welten, in denen sie wandelte. Ihre alte Heimat Yew, mit den Elfen, zu denen sie geh?rte, und ihre neue Heimat, die Taverne, und den Freunden, die sie hier gewonnen hatte.
F?r den Moment schien ihre Welt intakt, aber sie bef?rchtete, dass sie sich nicht f?r immer vor diesem inneren Konflikt w?rde verstecken k?nnen.