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Tagebucheintrag, 5. Tag des Nebelmondes

Verfasst: 05 Jun 2025, 20:09
von Lucio Fernandez
Allein und in Kerzenlicht gehüllt sitzt Lucio tief in der Nacht vor seinem Tagebuch. Versunken in wirren Gedanken schreibt er:

....der Regen spricht wieder. Ich höre ihn. Nicht das Prasseln auf dem Dach – nein, seine Stimme. Leise, schneidend, wie das Schleifen einer Klinge. Er flüstert Namen. Alte Namen. Die ich längst vergessen wollte.

Impjerod.
Michtik.

Tot, tot, alle tot. Ich habe ihre Gesichter gesehen, wie sie mich angeschaut haben, bevor sie fielen. Nicht mit Angst – nein, schlimmer – mit Verständnis. Als hätten sie gewusst, dass es so kommen musste. Dass ich sie zurücklassen würde. Ich habe sie nicht einmal begraben. Keine Zeit. Kein Mut. Kein Herz mehr übrig.

Ich höre sie nachts, weißt du? Sie kommen, wenn das Feuer schwächer wird. Imp singt manchmal. Ja. Dieses alte Lied… das er immer summte, wenn er nervös war. Kurz vor dem Kampf. Ja. Nur – die Stimme klingt falsch. Nass. Voll Erde.

Ich kann den Schwertgriff kaum noch halten, so steif sind meine Finger. Aber ich greife trotzdem danach, wenn ich ihn höre. Nur um sicherzugehen. Nur um zu wissen, dass ich noch da bin. Dass ich noch jemand bin.

War ich jemals jemand?

Sie nannten uns Streiter des Gleichgewichts. Lächerlich.

Wir haben geschlachtet. Unzählige Male.

Wir waren gut – gut darin, Leben zu nehmen. So gut, dass man uns lobte. Ja, bejubelt sogar.

Und jetzt… Jetzt applaudiert keiner mehr. Keiner mehr da.

Ich rede manchmal mit der Wand. Heute hat sie mir widersprochen. Hat behauptet, ich hätte Imp selbst getötet. Ich habe gelacht. Laut. Vielleicht zu laut. Ich höre meine Stimme kaum noch, weiß nicht, ob es wirklich meine ist.

Ich habe alles verloren. Nicht durch eine Schlacht. Sondern durch die Zeit. Die Stille. Den Frieden, den ich mir immer gewünscht hatte – er ist eine nicht endende Folter. Ich bin allein. Ich war nie gut im Alleinsein.

Und in den Städten… Gesichter ohne Seelen. Masken, die sich gegenseitig versichern, dass alles in Ordnung ist. Dass es keine Schatten mehr gibt.

Aber ich weiß es besser. Ich bin der Schatten. Ich habe ihn geschaffen.

Ich verachte sie. Die, die heute dort sitzen, feist und satt. Die sich auf die Schultern von Männern wie mir stellen, um sich selbst größer zu machen. Die sich im Glanz ihrer verlogenen Reden sonnen, während sie jene ausstoßen, die ihnen einst die Welt offenhielten.

Aber mehr noch... ich verachte mich selbst.

Ich war dumm. Ich bin wütend. Auf mich. Auf sie. Auf alle!

Warum lebe ich noch? Warum nicht Impjerod oder Michtik, Athros. All jene treuen Freunde. Vielleicht, weil ich vergessen soll. Aber ich kann nicht. Ich will nicht.
Ich spüre sie. Hinter mir. Neben mir. In mir. Stimmen wie Stahl auf Stein. Sie warten. Wie die Dunkelheit da draußen.

Vielleicht, wenn ich die Kerze lösche, verschwinden sie.

Oder, sie kommen und holen mich endlich!