Dem Stern im nassen Grab ein Totenzug. [Sternenfall]
Verfasst: 19 Jun 2025, 23:08
Es brauchte nicht allzu viel Wasser, um jedes Sternen- und Mondlicht zu ertränken. Die sanften Reflexionen der leicht bewegten Wasseroberfläche verblassten bereits zu einer vagen Suggestion, und Ancanagar glaubte nicht, dass sie tiefer als zwanzig Spannen unter den Wellen durch weiche Algen und über kantige Felsen wandelte. Kalte Strömung streichelte nackte Haut, und Fische, Krabben, Tintenfische flohen vor ihrer Präsenz. Die Dunkelheit floss heran. Es war totenstill.
Die spärlichen Büsche der grünen Küste ragten beinahe bis zum Strand, der sich hell wie das Sternenlicht eng an das Ende der Insel schmiegte. Einzelne, dunkle Felsformationen stachen ab und an durch das leuchtende Band. Ein Fuß auf den kühlen Sand - mühsam vertrieb sie die Erinnerung an einen nahen und schrecklichen Traum - und der schmale Strand war bereits erobert. Ein Atemzug der Nachtseeluft, ein erneutes Umarmen des eigenen, schmächtigen Körpers, der wie ein Kreidestrich in der Nacht leuchtete. Eine leise Welle griff voller Vorfreude nach ihren Zehen, ihrem Fuß, ihren Knöcheln. Dummheit. Das Wasser war kalt. Sie spürte die Kälte, aber es war eine ursprüngliche Furcht, die sie sich selbst eng umarmen ließ. Dunkles, kaltes, unbekanntes Wasser umspülte ihren nächsten Schritt voran, und der Sand verlor sogleich die Festigkeit. Das Wasser erreichte ihre Oberschenkel. Dummheit, Dummheit, Dummheit.
Sie hielt inne. War sie vorbereitet? Die Sonne: Ihr Aufgehen war so weit entfernt, wie es irgendwie möglich in dieser Jahreszeit war. Ihre Kleidung: Abgelegt und vor Wind geschützt. Nahrung: Sie hatte erneut gemordet, vor kurzer Zeit, und das Blut war derart bitter gewesen, dass sie nie wieder trinken... Nein, nein, nein, bei der Sache bleiben. Sie war gesättigt. Ihr zusätzliches Gewicht: Mehr als ein paar Hämmer und eine Stange Eisen wiegen sollten. Die Motivation: Ihre Eigene blieb mittelgroß, aber ihr weißhaariger Sperber vor seinem verwunschenen Turm hatte ihr diese Aufgabe gestellt, und es verzehrte sie zu wissen, was sie über diesen arroganten, völlig freien Magier noch erfahren könnte. Und natürlich ihr Ziel: Den Leichnam von einem ihrer Sterne zu bergen, den Kometen, verschlungen von den ewigen Wassern des Ozeans. Irrsinn. Immerhin konnte sie die Flugrichtung des Meteors gut nachvollziehen, die Spur der Verwüstung seiner verlorenen Fragmente zeichnete eine gerade Linie über die Insel. Bis an diese Grenze, an der das Land endete und ein unbekanntes, finsteres Reich begann. Sie würde nur geradewegs in die Dunkelheit gehen müssen.
Zwei weitere Schritte, und das Wasser reichte bis zu ihrem Kinn. Die Reflexe einer lebendigen Frau, eine plötzliche Umarmung des Wassers mit einem ächzenden, scharfen Einatmen zu begrüßen, waren noch vorhanden. Ancanagar rang mit vergessenen Ängsten. Der nächste Schritt würde sicherlich weitere Reflexe aus der Vergangenheit beschwören, denn auch wenn ihr das Wissen um ihre Unsterblichkeit Halt gab - die Vorahnung des Schmerzes einer sich mit Salzwasser füllenden Lunge schmeckte nach Panik und Ertrinken. Gleichzeitig hatte ihr eisenbewehrter Harnisch bereits seine Schwere zum Teil ans Wasser verloren und sie befürchtete, dass das Gewicht nicht genug gewesen wäre. Sie war zudem nicht glücklich, wie sie zu dieser Beschwerung gekommen war - in der Eile ihrer Vorbereitungen hatte sie niemanden gefunden, der ihr einige Hufeisen oder ähnliches verkaufen konnte, daher sah sie sich gezwungen, sich vom Schmied Mephrit, den sie im Grunde nicht einmal kannte, etwas Gewicht zu borgen. Natürlich würde sie die Hämmer und die Stange so bald wie möglich zurückbringen, aber der Bluträuberin und Mörderin lastete es schwer auf dem Gemüt, sich ohne Nachfrage Dinge ausgeborgt zu haben. Sie hoffte, ihre Nachricht würde gefunden und nicht falsch verstanden werden. Und sie hoffte, dass sie die Dinge bald wieder zurückgeben konnte. Nur dazu musste sie unbekannte Wasser betreten. Doch ganz in den Worten des weißhaarigen Magiers, ihres Sperbers: Unbekannte Wasser seien das tägliche Brot für einen Magier.
Also voran. Wasser über Lippen, Nase, Ohren, Augen - die Welt tauchte unter, wurde taub. Das nasse Grab schloss sich über ihren Haaren. Eine bewegte, fahle Landschaft offenbarte sich, ihr Empfinden für Entfernungen verlor an Glaubwürdigkeit. Der Sand ging bereits nach einigen Metern in einen wogenden Algenteppich über. Mehr und mehr der schroffen Felsen. Der Fall in die Tiefe war langsam und sanft und unaufhaltsam, und die Dunkelheit lockte. Fischschwärme glitzerten nahe der Oberfläche in ihren eiligen, synchronen Bewegungen und sie erblickte eine Art Aal, länger als ein Mann, dicker als ein Oberschenkel, der gelassen zwischen einigen Felsen trieb. Er schien sich nicht an der Besucherin zu stören. In dessen Maul, das sich langsam schloss und wieder öffnete, sah sie scharfe, eckige Zähne.
Voran, voran. Zögerliche Schritte, gegen das schwere Wasser, mehr und mehr Druck auf ihren Ohren, dann ein Knacken der Trommelfelle, nur um bald neuen Druck zu spüren. Das Eisen zog sie herab, ihre verbleibende Luft strebte hinauf. Sie wollte nicht ausatmen. Eigenartig, wie sie sich an dieses Zeichen des Lebens klammerte, während ihr schweigendes Herz und ihre kalte Brust völlig normal erschienen. Ein Gedanke kam auf: Hatte Yerabeth ähnlich empfunden, damals, bei ihrem eigenen Weg durch die Tiefe? Doch - hatte sie? Auf einmal war sich Ancanagar nicht mehr sicher, ob Yerabeth je von einem Unterwasserspaziergang erzählt hatte. Nur - woher kam dann die Idee?
Jeder Schritt beschwor neue Dunkelheit. Die weichen, kurzen Algen waren von anderen Pflanzen ersetzt worden, die wie einzelne, lange Blätter, die unberührt von den Wellen still auf die Lichtreste der Oberfläche lauerten. Ein Blick nach oben ließ sie die Lichtreflexionen der Wasseroberfläche mehr erahnen als wirklich wahrnehmen. War sie bereits so tief gegangen? Sie blieb stehen. Die Algen strichen mit scharfen Blattkanten weich über ihren Leib. Der Widerstreit von Eisen und Luft störte. Zeit für den Abschied: Sie öffnete den Mund, und begrüßte den Schmerz, der in ihre Lunge stürzte. Wild flohen Luftblasen in die Höhe, dunkelgrau und schwammig, aber ein Leuchtfeuer an Licht und Form im trübsten Zwielicht. Das Salzwasser hatte die Luft vertrieben, und brannte, brannte, brannte, bis es sich ausgebrannt hatte und nur noch Schwere übrigblieb. Ein Impuls ließ sie versuchen Worte zu sprechen, aber ihr befreites „Ich bin ein Vampir!“ kitzelte lediglich stumm ihren Kehlkopf.
Weiter, in die Tiefe hinab. Sie hieß die Dunkelheit willkommen. An der Oberfläche konnte sie selbst bei schwärzester Herbstnacht ausreichend gut sehen, aber das war kein Vergleich zu dem lichtlosen Samt, der sich hier fest an ihre Augen drückte. Sie wandelte durch Algen und Gestein und Stille, ohne Zeitgefühl, ohne konkreten Gedanken. Schritt für Schritt. Auf einmal spürte sie plötzliche Strömung um ihren ganzen Leib, wurde einen Schritt zurückgeworfen, und ein silbern schimmerndes, blendendes Gespensterfeuer floss den Rücken eines barschähnlichen Fisches hinab, der eiligst vor ihr floh. Er war größer als sie selbst gewesen und das Wasser hatte alle Laute des Fischherzens verschluckt. Sie war beinahe über ihn gestolpert. Die Dunkelheit bekam Augen ohne Lider, die gierig auf sie herabblickten. Zähne und Schuppen. Immer wieder blitzten oder glommen nun erratische Lichter durch den Ozean. Und nicht alle waren fern und vage.
Es war Zeit, dieses Reich zu erobern. Hier im Meer gab es keinen Grund, sich zurückzuhalten, also fachte sie den flüsternden Chor ihrer Sterne mit einer brennenden Anrufung an, lauschte den erwachenden Stimmen jener fernen Lichter, erst ihr Murmeln, dann ihr Sprechen, dann ihr lautes Schallen. Aus ihren Fingern tropfte ein voller, strahlender Mond. Fahle Schatten tanzten, karge Felsen schälten sich aus der Finsternis. Ihr Licht aus Magie stieg auf, gewann an Leuchtkraft, und bald war sie von einer silbernen Sphäre umgeben, die sich rasch von lichtscheuem Getier leerte. Flocken und Staub hingen still in den tiefen Wassern. Einige Felsen türmten sich zu fantastischen, schwarzen Türmen auf, fragiler aufstrebend, als sie es je an natürlichem Stein an der Oberfläche gesehen hatte. An der Grenze zur ewigen Dunkelheit sammelten sich noch mehr dieser Pfeiler, noch höher, noch bedrohlicher. Sie fachte ihr Licht noch weiter an - und sah gewaltige Bewegung zwischen den hohen Steinen. Träge und kraftvoll, halb verdeckt von Fels und Schatten schob sich Etwas durch das Wasser. Größer als ein Drache, größer als Wale, voller Narben und Pocken, Flossen und Stacheln. Ein leeres, riesiges Auge reflektierte ihr Silberlicht, und die pure Schwärze in diesem Blick ließ die Vampirin erstarren. Minuten vergingen, bis der Gigant wieder in die Dunkelheit heimgekehrt war. Aus tauber Gewohnheit tastete sie dann nach ihrem Herzen, erwartete auch nach all den Jahren im Tod einen rasenden Takt - und die stille Kühle schreckte sie in die Wirklichkeit zurück.
Zögerlich weiter. Sie war sich sicher, noch auf dem richtigen Weg zu sein, doch nach und nach verlor der Rest der Situation seine Sicherheit. Sie hatte keine Vorstellung davon, was hinter ihrem gleißenden Refugium in der Finsternis lauerte. Der Druck von Gebirgen lastete auf ihr. Wie lange würde sie hier tatsächlich überdauern können? Noch schien alles in Ordnung zu sein, sie empfand keinerlei Hunger. Der Gedanke an Blut beschwor die Erinnerung an ihr letztes, missglücktes Mahl herauf, und wieder wollte sie es fortschieben, verbannen, nicht mehr daran denken, doch gerade hier, im Meer, unter den kalten Wassern, konnte sie nicht umhin, die brechenden Augen des Seemanns zu sehen, der vor ihr von der Brücke hinabfiel. Sie hörte erneut den Aufschlag des Körpers auf dem Kanalwasser, spürte den lauen Sommerwind auf ihrem blutüberströmten Gesicht und schmeckte das bittere, bittere Salz seiner Adern, noch viel bitterer als es tatsächliches Salzwasser tat. Ob sie wohl seinem Leichnam hier begegnen würde? Sie glaubte nicht, dass ein Leib aus dem fernen Düsterhafen in so kurzer Zeit bis hierher treiben konnte, aber die Erwartung, den anklagenden Leichnam auf einmal direkt hinter sich zu finden, blieb wie Teer an ihren Gedanken haften.
Weiter, weiter, weiter. Fort von den Erinnerungen, hinein in die unbekannten Wasser. Es gab schon lange keine Algen mehr, Sandfelder wechselten sich mit Schuttsenken und felsigen Erhöhungen ab, gelegentlich durchbrochen von einem der schlanken Steintürme. Sie glaubte, dass sich der endlose Fall beschleunigte, der Abhang steiler wurde. Unterwassertiere waren selten geworden, ab und an sah sie noch vereinzelte, blinde Wesen - bis auf eine zerfasernde Wolke rasender Fische, die einen herabgesunkenen Kadaver zerfetzten.
Weiter, weiter, weiter. Es war keine Langeweile, die sie nach einer Weile dazu brachte, ein zweites Licht zu beschwören, dann ein drittes, dann ein fünftes. Es war sicherlich nicht langweilig, zahllose Schritte über eine ewig gleiche Ebene zu gehen. Außerdem - ihr Auftraggeber hatte ihr nahegelegt, sich mehr mit Magie zu beschäftigen. Eigenartig, wie diese Worte sie aufwühlten. Im Laufe ihrer Einsamkeit war das Wirken ihres Sternenchors zur Selbstverständlichkeit geworden, nur eine weitere Bewegung und Tätigkeit im Lauf der Nächte. Wann wurde das Staunen zum Alltäglichen? Und das Alltägliche zu Rost? War sie etwas anderes als eine stumpfe Klinge?
Weiter, weiter, weiter. Fünf Lichter gleichzeitig zum Leuchten zu bringen, aktiv Form, Position, und den Flux der astralen Energie aufrechtzuerhalten - schwierig. Alle paar Schritte flackerte eines der Leuchtfeuer, aber im Großen und Ganzen fühlte es sich machbar an. Wachsende Sicherheit. Weiter, Weiter, Weiter. Sand, Felsen, Kälte, Dunkelheit. Bald begann sie, die kleinen Sterne zum Tanzen zu bringen. Ein synchroner Orbit - nach einigen Minuten keine zusätzliche Erschwernis mehr. Jedem Stern eine eigene Richtung zu geben? Praktisch unmöglich. Vier im Orbit, einer in sich ausdehnender Spirale? Kopfschmerz, aber Spuren von Erfolg. Mehr Übung also. Ihr Sperber hatte sie nach ihren Erfahrungen mit Ritualen gefragt, und sie hatte es gehasst, ihre Unerfahrenheit zu offenbaren. Also mehr Übung! Was der Magier wohl plante? Würde sie, das untote, verlorene Mädchen, an so einem arkanen Ritus teilhaben können? Wie gerne wollte sie so etwas erfahren, und wie sehr bereitete ihr dies Unbehagen.
Tiefer, hin dem Herzen der Dunkelheit entgegen. Die Felsen wurden seltener, verloren sich im ewigen, kalten Sand. Sie schritt durch eine Wüste unter einer sternenlosen Nacht, und ihr Alptraum, den der erste Meteor ausgelöst hatte, war beinahe exakt zur Realität geworden. Sie war unfassbar allein. Ihre Lichter umkreisten sie, fahle, winzige Sterne in unfassbarer Finsternis, ihr zarter Tanz erzwungen, gefesselt und gebunden an totes, nacktes Fleisch. Sie ging und ging, weiter und weiter und weiter, Sand zwischen den Zehen, Wasser auf der Zunge, das Gewicht des Ozeans auf ihrem Haupt.
Herzschlag.
Wahres Licht, blendend, karminrot, feurig, explodierte hundert Schritte neben ihr und verschlang ihre kläglichen Lampen. Augenblicke später folgte eine Druckwelle, die hinter sich den Sand aufriss, Ancanagar umwarf und den Todeslaut eines berstenden Berges in ihre Ohren stampfte. Das Loderlicht erschuf einen fantastischen, roten Himmel; gewaltige Fische, Kraken und unnennbare Wesen warfen erstarrte Schattenlanzen von der Quelle des Lichtes fort.
Und dann erlosch das Gleißen, und Dunkelheit stürzte sich von den Himmeln. Die untote Magierin lag auf ihrem Rücken und starrte in die Finsternis. Sand hatte sie teilweise bedeckt, und als sie sich aufrichtete, rieselte er träge und kalt über ihren Leib herab. Nun hatte sie ihr Alptraum völlig eingeholt. Ancanagar tastete nach ihrem Herzen. Still. Sie versuchte, dem Druck der Angst standzuhalten, aber das Wissen um die riesigen Ungeheuer ließ sie rasch wieder nach ihren astralen Monden rufen.
Erstarrte Welt. Sie konnte keine Veränderung feststellen. Der meiste Sand hatte sich bereits wieder gesetzt und nur noch einige Staubfahnen hingen knapp über dem Meeresgrund. Keiner der Giganten schien sie bemerkt zu haben. Oder vielleicht hatten sie einfach kein Interesse an ihr. Aus der Richtung der Lichteruption trieb nur Stille heran. Was konnte das gewesen sein? Kein Vulkanfeuer. Magie? Keine, die sie entdecken konnte. Ein Wesen der tiefsten Abgründe? Sie hoffte nicht. Zögerlich entsandte sie eines ihrer Lichter. Eine tiefsitzende Beklemmung folgte den wandernden Schatten, die immer mehr an Schärfe gewannen. Unregelmäßige Sandhügel, gelegentliche Steine, karges Land, tote Ebene. Und da, aus dem Sand stechend, ein einzelner Pfeiler, ein gerader Schaft, aus hellerem Stein, als sie ihn hier unten bisher gesehen hatte. Es konnte eigentlich nicht sein, aber sie konnte nicht umhin, eine einsame Säule darin zu sehen. Zu ihrer Beklemmung gesellte sich eine unheilvolle Neugierde.
Sie sah wieder voran, den kontinententiefen Abhang hinab, hin zu ihrem gefallenen Stern, den sie hoffentlich bald erreichen würde. Aber dort konnte sie nichts Besonderes erkennen, also entsandte sie, mehr aus schlechtem Gewissen ihrem Auftraggeber gegenüber, ein anderes Licht in diese Richtung. Nur Sand und Leere. Ein Blick zur Seite. Es war nur ein kleiner Umweg. Oh, wem gegenüber rechtfertigte sie sich überhaupt - sie hatte sich ohnehin bereits entschieden eine Dummheit zu begehen. Der Vorsicht halber prägte sie sich die Position einiger Felsformationen ein, dann ab von ihrem Weg, hin zur Säule.
Es war eine schlechte Idee, nur wie schlecht? Die Kraft hinter dem Licht war enorm gewesen, sei es nun magischer oder natürlicher Herkunft. Sie stahl sich durch das tiefste, dunkelste, fremdeste Land und jede Hilfe war völlig ausgeschlossen. Sollte sie nicht eigentlich vor Angst erstarren? Nahm sie ihren unsterblichen Körper bereits als so gegeben hin, dass sie es verlernt hatte, richtige Angst überhaupt zu empfinden? Vielleicht, denn sie schritt wie von alleine voran. Im Licht ihrer magischen Laternen erschien bald eine zweite Säule, eine Dritte. Noch näher. Eine vierte Säule. Vier Säulen waren im Quadrat angeordnet, vierzig, fünfzig Schritt Abstand zueinander. Etwas stand im Zentrum der Säulen, deutlich kleiner, aber sie konnte nicht erkennen, um was es sich handelte.
Weiter, weiter. Dann war sie angekommen, und ja, die Säule war tatsächlich eine Säule, alt, alt, pockennarbig und geschliffen, aber die Kannelierungen waren noch sichtbar, die einfache Basis und das komplizierte Kapitell waren erhaben und abweisend. Die vier Säulen thronten auf den Ecken eines sandigen, flachen Platzes, in dessen Zentrum sich eine Statue erhob, völlig allein, eine Hand zum Gruß erhoben. Sie war sich nicht sicher, ob ein Mann oder eine Frau dargestellt war. Der Anblick war auf eigenartige Weise unscharf. Sie trat unwillkürlich näher und überquerte die unsichtbare Grenze, die zwischen den Säulen verlief. Kalter Sand unter einem Firmament ohne Sterne, und eine sanfte Strömung begann ihren Rücken zu umstreicheln.
Weiter, weiter. Sie kam näher, und die Konturen der Figur wurden klar, der Körper feminin. Die Statue war nackt, realistisch und lebensnah und schien einer lange vergangenen Epoche entrissen. Ein idealer, schöner Körperbau. Weiter heran. Elfenohren. Die Farbe und Textur der Statue hatte durch die lange Zeit im Salzwasser gelitten, ein grau-brauner Überzug und unzählige kleine Pockennarben machten das Material stumpf und unansehnlich. Sie stand nun direkt vor dem überlebensgroßen Bildnis.
Sie blickte hinauf in die Züge einer Unmöglichkeit. Hier, ungezählte Meilen unter der Meeresoberfläche, in eine Statue gegossen, die eintausend Jahre alt sein musste, sah sie in die Züge einer geliebten Feindin, ihr verwehrt und schmählich entrissen, die keinerlei Anrecht darauf hatte, an diesem Ort einen würdevollen Gruß der ewigen Dunkelheit zu errichten.
Wie kannst du hier sein, Kyrii‘linth?
Die sanfte Strömung in Ancanagars Rücken wurde stärker.
* * * * *
Als sie zuvor am Ufer ankam, war die Sonne noch nicht lange untergegangen. Die Reste des Abendrotes bluteten noch über den Horizont, die Zwielichtvögel zwitscherten ihre Klagelieder, und an der Küste Moonglows entkleidete sich hinter einem wassernahen, dichten Strauch eine braunhaarige Vampirin. Sie empfand Unbehagen ob ihrer Nacktheit, auch wenn sie sicher war, dass kein bewusster Blick sie treffen konnte. Sie legte sich einen kruden Harnisch um die Schultern, kaum mehr als Lederriemen, die drei schwere Schmiedehämmer und eine Eisenstange zusammenhielten, und verknotete gewissenhaft die Enden. Dann noch ein Stoffband um die Stirn, für den Fall, dass einigen Haaren die Flucht aus ihrem Zopf gelingen sollte. Und zuletzt ein Tuch, hinter dem sie ihren Leib vor ungesehenen Blicken schützen konnte. Dummheit. Mit Überwindung ließ sie das Trockentuch wieder auf ihren Stapel Kleidung fallen, platzierte einen flachen Stein darauf, und starrte ins ruhige Meer, das romantisch und freundlich den Mond in langer Spur spiegelte. Dummheit.Die spärlichen Büsche der grünen Küste ragten beinahe bis zum Strand, der sich hell wie das Sternenlicht eng an das Ende der Insel schmiegte. Einzelne, dunkle Felsformationen stachen ab und an durch das leuchtende Band. Ein Fuß auf den kühlen Sand - mühsam vertrieb sie die Erinnerung an einen nahen und schrecklichen Traum - und der schmale Strand war bereits erobert. Ein Atemzug der Nachtseeluft, ein erneutes Umarmen des eigenen, schmächtigen Körpers, der wie ein Kreidestrich in der Nacht leuchtete. Eine leise Welle griff voller Vorfreude nach ihren Zehen, ihrem Fuß, ihren Knöcheln. Dummheit. Das Wasser war kalt. Sie spürte die Kälte, aber es war eine ursprüngliche Furcht, die sie sich selbst eng umarmen ließ. Dunkles, kaltes, unbekanntes Wasser umspülte ihren nächsten Schritt voran, und der Sand verlor sogleich die Festigkeit. Das Wasser erreichte ihre Oberschenkel. Dummheit, Dummheit, Dummheit.
Sie hielt inne. War sie vorbereitet? Die Sonne: Ihr Aufgehen war so weit entfernt, wie es irgendwie möglich in dieser Jahreszeit war. Ihre Kleidung: Abgelegt und vor Wind geschützt. Nahrung: Sie hatte erneut gemordet, vor kurzer Zeit, und das Blut war derart bitter gewesen, dass sie nie wieder trinken... Nein, nein, nein, bei der Sache bleiben. Sie war gesättigt. Ihr zusätzliches Gewicht: Mehr als ein paar Hämmer und eine Stange Eisen wiegen sollten. Die Motivation: Ihre Eigene blieb mittelgroß, aber ihr weißhaariger Sperber vor seinem verwunschenen Turm hatte ihr diese Aufgabe gestellt, und es verzehrte sie zu wissen, was sie über diesen arroganten, völlig freien Magier noch erfahren könnte. Und natürlich ihr Ziel: Den Leichnam von einem ihrer Sterne zu bergen, den Kometen, verschlungen von den ewigen Wassern des Ozeans. Irrsinn. Immerhin konnte sie die Flugrichtung des Meteors gut nachvollziehen, die Spur der Verwüstung seiner verlorenen Fragmente zeichnete eine gerade Linie über die Insel. Bis an diese Grenze, an der das Land endete und ein unbekanntes, finsteres Reich begann. Sie würde nur geradewegs in die Dunkelheit gehen müssen.
Zwei weitere Schritte, und das Wasser reichte bis zu ihrem Kinn. Die Reflexe einer lebendigen Frau, eine plötzliche Umarmung des Wassers mit einem ächzenden, scharfen Einatmen zu begrüßen, waren noch vorhanden. Ancanagar rang mit vergessenen Ängsten. Der nächste Schritt würde sicherlich weitere Reflexe aus der Vergangenheit beschwören, denn auch wenn ihr das Wissen um ihre Unsterblichkeit Halt gab - die Vorahnung des Schmerzes einer sich mit Salzwasser füllenden Lunge schmeckte nach Panik und Ertrinken. Gleichzeitig hatte ihr eisenbewehrter Harnisch bereits seine Schwere zum Teil ans Wasser verloren und sie befürchtete, dass das Gewicht nicht genug gewesen wäre. Sie war zudem nicht glücklich, wie sie zu dieser Beschwerung gekommen war - in der Eile ihrer Vorbereitungen hatte sie niemanden gefunden, der ihr einige Hufeisen oder ähnliches verkaufen konnte, daher sah sie sich gezwungen, sich vom Schmied Mephrit, den sie im Grunde nicht einmal kannte, etwas Gewicht zu borgen. Natürlich würde sie die Hämmer und die Stange so bald wie möglich zurückbringen, aber der Bluträuberin und Mörderin lastete es schwer auf dem Gemüt, sich ohne Nachfrage Dinge ausgeborgt zu haben. Sie hoffte, ihre Nachricht würde gefunden und nicht falsch verstanden werden. Und sie hoffte, dass sie die Dinge bald wieder zurückgeben konnte. Nur dazu musste sie unbekannte Wasser betreten. Doch ganz in den Worten des weißhaarigen Magiers, ihres Sperbers: Unbekannte Wasser seien das tägliche Brot für einen Magier.
Also voran. Wasser über Lippen, Nase, Ohren, Augen - die Welt tauchte unter, wurde taub. Das nasse Grab schloss sich über ihren Haaren. Eine bewegte, fahle Landschaft offenbarte sich, ihr Empfinden für Entfernungen verlor an Glaubwürdigkeit. Der Sand ging bereits nach einigen Metern in einen wogenden Algenteppich über. Mehr und mehr der schroffen Felsen. Der Fall in die Tiefe war langsam und sanft und unaufhaltsam, und die Dunkelheit lockte. Fischschwärme glitzerten nahe der Oberfläche in ihren eiligen, synchronen Bewegungen und sie erblickte eine Art Aal, länger als ein Mann, dicker als ein Oberschenkel, der gelassen zwischen einigen Felsen trieb. Er schien sich nicht an der Besucherin zu stören. In dessen Maul, das sich langsam schloss und wieder öffnete, sah sie scharfe, eckige Zähne.
Voran, voran. Zögerliche Schritte, gegen das schwere Wasser, mehr und mehr Druck auf ihren Ohren, dann ein Knacken der Trommelfelle, nur um bald neuen Druck zu spüren. Das Eisen zog sie herab, ihre verbleibende Luft strebte hinauf. Sie wollte nicht ausatmen. Eigenartig, wie sie sich an dieses Zeichen des Lebens klammerte, während ihr schweigendes Herz und ihre kalte Brust völlig normal erschienen. Ein Gedanke kam auf: Hatte Yerabeth ähnlich empfunden, damals, bei ihrem eigenen Weg durch die Tiefe? Doch - hatte sie? Auf einmal war sich Ancanagar nicht mehr sicher, ob Yerabeth je von einem Unterwasserspaziergang erzählt hatte. Nur - woher kam dann die Idee?
Jeder Schritt beschwor neue Dunkelheit. Die weichen, kurzen Algen waren von anderen Pflanzen ersetzt worden, die wie einzelne, lange Blätter, die unberührt von den Wellen still auf die Lichtreste der Oberfläche lauerten. Ein Blick nach oben ließ sie die Lichtreflexionen der Wasseroberfläche mehr erahnen als wirklich wahrnehmen. War sie bereits so tief gegangen? Sie blieb stehen. Die Algen strichen mit scharfen Blattkanten weich über ihren Leib. Der Widerstreit von Eisen und Luft störte. Zeit für den Abschied: Sie öffnete den Mund, und begrüßte den Schmerz, der in ihre Lunge stürzte. Wild flohen Luftblasen in die Höhe, dunkelgrau und schwammig, aber ein Leuchtfeuer an Licht und Form im trübsten Zwielicht. Das Salzwasser hatte die Luft vertrieben, und brannte, brannte, brannte, bis es sich ausgebrannt hatte und nur noch Schwere übrigblieb. Ein Impuls ließ sie versuchen Worte zu sprechen, aber ihr befreites „Ich bin ein Vampir!“ kitzelte lediglich stumm ihren Kehlkopf.
Weiter, in die Tiefe hinab. Sie hieß die Dunkelheit willkommen. An der Oberfläche konnte sie selbst bei schwärzester Herbstnacht ausreichend gut sehen, aber das war kein Vergleich zu dem lichtlosen Samt, der sich hier fest an ihre Augen drückte. Sie wandelte durch Algen und Gestein und Stille, ohne Zeitgefühl, ohne konkreten Gedanken. Schritt für Schritt. Auf einmal spürte sie plötzliche Strömung um ihren ganzen Leib, wurde einen Schritt zurückgeworfen, und ein silbern schimmerndes, blendendes Gespensterfeuer floss den Rücken eines barschähnlichen Fisches hinab, der eiligst vor ihr floh. Er war größer als sie selbst gewesen und das Wasser hatte alle Laute des Fischherzens verschluckt. Sie war beinahe über ihn gestolpert. Die Dunkelheit bekam Augen ohne Lider, die gierig auf sie herabblickten. Zähne und Schuppen. Immer wieder blitzten oder glommen nun erratische Lichter durch den Ozean. Und nicht alle waren fern und vage.
Es war Zeit, dieses Reich zu erobern. Hier im Meer gab es keinen Grund, sich zurückzuhalten, also fachte sie den flüsternden Chor ihrer Sterne mit einer brennenden Anrufung an, lauschte den erwachenden Stimmen jener fernen Lichter, erst ihr Murmeln, dann ihr Sprechen, dann ihr lautes Schallen. Aus ihren Fingern tropfte ein voller, strahlender Mond. Fahle Schatten tanzten, karge Felsen schälten sich aus der Finsternis. Ihr Licht aus Magie stieg auf, gewann an Leuchtkraft, und bald war sie von einer silbernen Sphäre umgeben, die sich rasch von lichtscheuem Getier leerte. Flocken und Staub hingen still in den tiefen Wassern. Einige Felsen türmten sich zu fantastischen, schwarzen Türmen auf, fragiler aufstrebend, als sie es je an natürlichem Stein an der Oberfläche gesehen hatte. An der Grenze zur ewigen Dunkelheit sammelten sich noch mehr dieser Pfeiler, noch höher, noch bedrohlicher. Sie fachte ihr Licht noch weiter an - und sah gewaltige Bewegung zwischen den hohen Steinen. Träge und kraftvoll, halb verdeckt von Fels und Schatten schob sich Etwas durch das Wasser. Größer als ein Drache, größer als Wale, voller Narben und Pocken, Flossen und Stacheln. Ein leeres, riesiges Auge reflektierte ihr Silberlicht, und die pure Schwärze in diesem Blick ließ die Vampirin erstarren. Minuten vergingen, bis der Gigant wieder in die Dunkelheit heimgekehrt war. Aus tauber Gewohnheit tastete sie dann nach ihrem Herzen, erwartete auch nach all den Jahren im Tod einen rasenden Takt - und die stille Kühle schreckte sie in die Wirklichkeit zurück.
Zögerlich weiter. Sie war sich sicher, noch auf dem richtigen Weg zu sein, doch nach und nach verlor der Rest der Situation seine Sicherheit. Sie hatte keine Vorstellung davon, was hinter ihrem gleißenden Refugium in der Finsternis lauerte. Der Druck von Gebirgen lastete auf ihr. Wie lange würde sie hier tatsächlich überdauern können? Noch schien alles in Ordnung zu sein, sie empfand keinerlei Hunger. Der Gedanke an Blut beschwor die Erinnerung an ihr letztes, missglücktes Mahl herauf, und wieder wollte sie es fortschieben, verbannen, nicht mehr daran denken, doch gerade hier, im Meer, unter den kalten Wassern, konnte sie nicht umhin, die brechenden Augen des Seemanns zu sehen, der vor ihr von der Brücke hinabfiel. Sie hörte erneut den Aufschlag des Körpers auf dem Kanalwasser, spürte den lauen Sommerwind auf ihrem blutüberströmten Gesicht und schmeckte das bittere, bittere Salz seiner Adern, noch viel bitterer als es tatsächliches Salzwasser tat. Ob sie wohl seinem Leichnam hier begegnen würde? Sie glaubte nicht, dass ein Leib aus dem fernen Düsterhafen in so kurzer Zeit bis hierher treiben konnte, aber die Erwartung, den anklagenden Leichnam auf einmal direkt hinter sich zu finden, blieb wie Teer an ihren Gedanken haften.
Weiter, weiter, weiter. Fort von den Erinnerungen, hinein in die unbekannten Wasser. Es gab schon lange keine Algen mehr, Sandfelder wechselten sich mit Schuttsenken und felsigen Erhöhungen ab, gelegentlich durchbrochen von einem der schlanken Steintürme. Sie glaubte, dass sich der endlose Fall beschleunigte, der Abhang steiler wurde. Unterwassertiere waren selten geworden, ab und an sah sie noch vereinzelte, blinde Wesen - bis auf eine zerfasernde Wolke rasender Fische, die einen herabgesunkenen Kadaver zerfetzten.
Weiter, weiter, weiter. Es war keine Langeweile, die sie nach einer Weile dazu brachte, ein zweites Licht zu beschwören, dann ein drittes, dann ein fünftes. Es war sicherlich nicht langweilig, zahllose Schritte über eine ewig gleiche Ebene zu gehen. Außerdem - ihr Auftraggeber hatte ihr nahegelegt, sich mehr mit Magie zu beschäftigen. Eigenartig, wie diese Worte sie aufwühlten. Im Laufe ihrer Einsamkeit war das Wirken ihres Sternenchors zur Selbstverständlichkeit geworden, nur eine weitere Bewegung und Tätigkeit im Lauf der Nächte. Wann wurde das Staunen zum Alltäglichen? Und das Alltägliche zu Rost? War sie etwas anderes als eine stumpfe Klinge?
Weiter, weiter, weiter. Fünf Lichter gleichzeitig zum Leuchten zu bringen, aktiv Form, Position, und den Flux der astralen Energie aufrechtzuerhalten - schwierig. Alle paar Schritte flackerte eines der Leuchtfeuer, aber im Großen und Ganzen fühlte es sich machbar an. Wachsende Sicherheit. Weiter, Weiter, Weiter. Sand, Felsen, Kälte, Dunkelheit. Bald begann sie, die kleinen Sterne zum Tanzen zu bringen. Ein synchroner Orbit - nach einigen Minuten keine zusätzliche Erschwernis mehr. Jedem Stern eine eigene Richtung zu geben? Praktisch unmöglich. Vier im Orbit, einer in sich ausdehnender Spirale? Kopfschmerz, aber Spuren von Erfolg. Mehr Übung also. Ihr Sperber hatte sie nach ihren Erfahrungen mit Ritualen gefragt, und sie hatte es gehasst, ihre Unerfahrenheit zu offenbaren. Also mehr Übung! Was der Magier wohl plante? Würde sie, das untote, verlorene Mädchen, an so einem arkanen Ritus teilhaben können? Wie gerne wollte sie so etwas erfahren, und wie sehr bereitete ihr dies Unbehagen.
Tiefer, hin dem Herzen der Dunkelheit entgegen. Die Felsen wurden seltener, verloren sich im ewigen, kalten Sand. Sie schritt durch eine Wüste unter einer sternenlosen Nacht, und ihr Alptraum, den der erste Meteor ausgelöst hatte, war beinahe exakt zur Realität geworden. Sie war unfassbar allein. Ihre Lichter umkreisten sie, fahle, winzige Sterne in unfassbarer Finsternis, ihr zarter Tanz erzwungen, gefesselt und gebunden an totes, nacktes Fleisch. Sie ging und ging, weiter und weiter und weiter, Sand zwischen den Zehen, Wasser auf der Zunge, das Gewicht des Ozeans auf ihrem Haupt.
Herzschlag.
Wahres Licht, blendend, karminrot, feurig, explodierte hundert Schritte neben ihr und verschlang ihre kläglichen Lampen. Augenblicke später folgte eine Druckwelle, die hinter sich den Sand aufriss, Ancanagar umwarf und den Todeslaut eines berstenden Berges in ihre Ohren stampfte. Das Loderlicht erschuf einen fantastischen, roten Himmel; gewaltige Fische, Kraken und unnennbare Wesen warfen erstarrte Schattenlanzen von der Quelle des Lichtes fort.
Und dann erlosch das Gleißen, und Dunkelheit stürzte sich von den Himmeln. Die untote Magierin lag auf ihrem Rücken und starrte in die Finsternis. Sand hatte sie teilweise bedeckt, und als sie sich aufrichtete, rieselte er träge und kalt über ihren Leib herab. Nun hatte sie ihr Alptraum völlig eingeholt. Ancanagar tastete nach ihrem Herzen. Still. Sie versuchte, dem Druck der Angst standzuhalten, aber das Wissen um die riesigen Ungeheuer ließ sie rasch wieder nach ihren astralen Monden rufen.
Erstarrte Welt. Sie konnte keine Veränderung feststellen. Der meiste Sand hatte sich bereits wieder gesetzt und nur noch einige Staubfahnen hingen knapp über dem Meeresgrund. Keiner der Giganten schien sie bemerkt zu haben. Oder vielleicht hatten sie einfach kein Interesse an ihr. Aus der Richtung der Lichteruption trieb nur Stille heran. Was konnte das gewesen sein? Kein Vulkanfeuer. Magie? Keine, die sie entdecken konnte. Ein Wesen der tiefsten Abgründe? Sie hoffte nicht. Zögerlich entsandte sie eines ihrer Lichter. Eine tiefsitzende Beklemmung folgte den wandernden Schatten, die immer mehr an Schärfe gewannen. Unregelmäßige Sandhügel, gelegentliche Steine, karges Land, tote Ebene. Und da, aus dem Sand stechend, ein einzelner Pfeiler, ein gerader Schaft, aus hellerem Stein, als sie ihn hier unten bisher gesehen hatte. Es konnte eigentlich nicht sein, aber sie konnte nicht umhin, eine einsame Säule darin zu sehen. Zu ihrer Beklemmung gesellte sich eine unheilvolle Neugierde.
Sie sah wieder voran, den kontinententiefen Abhang hinab, hin zu ihrem gefallenen Stern, den sie hoffentlich bald erreichen würde. Aber dort konnte sie nichts Besonderes erkennen, also entsandte sie, mehr aus schlechtem Gewissen ihrem Auftraggeber gegenüber, ein anderes Licht in diese Richtung. Nur Sand und Leere. Ein Blick zur Seite. Es war nur ein kleiner Umweg. Oh, wem gegenüber rechtfertigte sie sich überhaupt - sie hatte sich ohnehin bereits entschieden eine Dummheit zu begehen. Der Vorsicht halber prägte sie sich die Position einiger Felsformationen ein, dann ab von ihrem Weg, hin zur Säule.
Es war eine schlechte Idee, nur wie schlecht? Die Kraft hinter dem Licht war enorm gewesen, sei es nun magischer oder natürlicher Herkunft. Sie stahl sich durch das tiefste, dunkelste, fremdeste Land und jede Hilfe war völlig ausgeschlossen. Sollte sie nicht eigentlich vor Angst erstarren? Nahm sie ihren unsterblichen Körper bereits als so gegeben hin, dass sie es verlernt hatte, richtige Angst überhaupt zu empfinden? Vielleicht, denn sie schritt wie von alleine voran. Im Licht ihrer magischen Laternen erschien bald eine zweite Säule, eine Dritte. Noch näher. Eine vierte Säule. Vier Säulen waren im Quadrat angeordnet, vierzig, fünfzig Schritt Abstand zueinander. Etwas stand im Zentrum der Säulen, deutlich kleiner, aber sie konnte nicht erkennen, um was es sich handelte.
Weiter, weiter. Dann war sie angekommen, und ja, die Säule war tatsächlich eine Säule, alt, alt, pockennarbig und geschliffen, aber die Kannelierungen waren noch sichtbar, die einfache Basis und das komplizierte Kapitell waren erhaben und abweisend. Die vier Säulen thronten auf den Ecken eines sandigen, flachen Platzes, in dessen Zentrum sich eine Statue erhob, völlig allein, eine Hand zum Gruß erhoben. Sie war sich nicht sicher, ob ein Mann oder eine Frau dargestellt war. Der Anblick war auf eigenartige Weise unscharf. Sie trat unwillkürlich näher und überquerte die unsichtbare Grenze, die zwischen den Säulen verlief. Kalter Sand unter einem Firmament ohne Sterne, und eine sanfte Strömung begann ihren Rücken zu umstreicheln.
Weiter, weiter. Sie kam näher, und die Konturen der Figur wurden klar, der Körper feminin. Die Statue war nackt, realistisch und lebensnah und schien einer lange vergangenen Epoche entrissen. Ein idealer, schöner Körperbau. Weiter heran. Elfenohren. Die Farbe und Textur der Statue hatte durch die lange Zeit im Salzwasser gelitten, ein grau-brauner Überzug und unzählige kleine Pockennarben machten das Material stumpf und unansehnlich. Sie stand nun direkt vor dem überlebensgroßen Bildnis.
Sie blickte hinauf in die Züge einer Unmöglichkeit. Hier, ungezählte Meilen unter der Meeresoberfläche, in eine Statue gegossen, die eintausend Jahre alt sein musste, sah sie in die Züge einer geliebten Feindin, ihr verwehrt und schmählich entrissen, die keinerlei Anrecht darauf hatte, an diesem Ort einen würdevollen Gruß der ewigen Dunkelheit zu errichten.
Wie kannst du hier sein, Kyrii‘linth?
Die sanfte Strömung in Ancanagars Rücken wurde stärker.