Ein Echo aus einer anderen Welt?
Verfasst: 29 Jun 2025, 14:41
Sziedeyna wachte schweißgebadet auf. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, dass sie nur geträumt hatte. Aber dieser Traum beschäftigte sie, weil er sich so real angefühlt hatte. Es kam ihr fast vor, als hätte sie bis vor kurzem ein anderes Leben gelebt und wäre dann durch ihr plötzliches Erwachen wieder in ihr gewohntes zurückgeholt worden. Aber es fühlte sich eher an, als hätte man sie unter Wasser gehalten und erst kurz vor dem Ersticken wieder herausgezogen. Ein Druck lastete auf ihr. Ihr Herz pochte. Es ließ sie nicht los. Das kannte sie so nicht. Sie kannte es durchaus, von einem Albtraum aufzuwachen und eine Weile zu brauchen, um die initiale Verwirrung und Aufregung abzuschütteln. Aber irgendetwas war diesmal anders.
Sie setzte sich aufrecht auf die Bettkante, atmete tief durch und rieb sich die Wangen. Danach schaute sie, noch immer in Gedanken versunken, in ihrem Zimmer umher – als suchte sie etwas, das aber gar nicht physisch in diesem Raum präsent war.
Es war so real!
Jetzt begann sie, in einem etwas wacheren Zustand, angestrengt in ihrer Erinnerung an den Traum zu kramen. Etwas fiel ihr auf, und sie fixierte für einen Moment mit den Augen einen imaginären Punkt im Raum. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und stand dann auf.
Der Traum würde sie noch den restlichen Tag beschäftigen. Es vergingen ein paar Tage, bis es wieder passierte. Sie wachte erneut schweißgebadet auf und merkte sofort, was passiert war. Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie das letzte Mal ebenfalls ein seltsames Gefühl im Magen verspürt hatte – so wie diesmal auch. Damals verspürte sie seltsamen Appetit auf Fleisch, briet sich eine besonders große Portion Speck mit Eiern. Aber erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bereits vor dem Braten große Lust verspürt hatte, das Fleisch zu verzehren – ja, regelrecht zu verschlingen.
Oder war es das Fleisch?
War es nicht vielmehr der Saft darin?
Sie hatte das ignoriert, weil es ihr absurd vorkam – und sicherlich auch nicht gesund gewesen wäre. Aber jetzt war es wieder da, dieses Gefühl, diese Lust auf...
Sie hatte jedoch kein Fleisch mehr im Haus und musste zuerst den Markt besuchen. Da sie ansonsten eh nur noch etwas vertrocknetes Brot dahatte, beschloss sie, den Markt kurz darauf aufzusuchen.
Auf dem Marktplatz angekommen, schaute sie sich um. Da war ein Stand mit Fleisch- und Wurstwaren. Sie ging eiligen Schritts zum Stand und begutachtete das Warenangebot. Dort fiel ihr eine Wurst ins Auge, die sie früher immer ignoriert hatte, da sie sie nicht als besonders appetitlich empfunden hatte. Aber diesmal erschien es ihr, als würde diese rötlich-schwarze Wurst sie förmlich dazu aufrufen, sie zu essen.
Sie wies den Händler an, ihr drei dieser Würste einzupacken, die sie mit ein paar Münzen quittierte. Mit den Würsten in der Tasche machte sie sich direkt wieder auf den Weg nach Hause. Dort knallte sie die Würste auf den Tisch, schnitt die erste gierig an und biss direkt ab – fast wie ein Tier.
Sie hatte die halbe Wurst im Eiltempo heruntergeschlungen, da fiel ihr erst auf, was sie da eigentlich tat. Das ließ sie etwas über sich erschrecken.
Was mache ich hier eigentlich? dachte sie irritiert. Dieser seltsame Traum wieder...
Sie verfiel wieder ins Grübeln und Kramen. Dann schaute sie zu den Würsten. Die angeschnittene Wurst fixierte sie für einen Moment, hielt inne – als würde sie einen inneren Konflikt austragen, der nur für sie existierte. Dann schlang sie den Rest hinunter. Danach war ihr schlecht. Ihr Frühstück war also einfach eine ganze Blutwurst gewesen. Ihr kam das im Nachhinein absurd vor.
Sie war gleichzeitig seltsam erleichtert, dass sie noch zwei dieser Würste hatte. Sie kamen ihr wie kleine Schätze vor, die sie jetzt in den Keller brachte, damit sie nicht so schnell verdarben.
Es vergingen wieder ein paar Tage. Jeden Tag aß sie morgens eine Wurst und ging regelmäßig zu jenem Stand, um sich erneut einzudecken. Und wie es kommen musste, wachte sie wieder von diesem Traum auf, der sie anscheinend nicht loslassen wollte.
Aber sie war inzwischen mental vorbereitet und wollte den Traum – sobald sie wachen Verstands war – quasi wie eine Katze ihrer Beute auflauern und ihn zu packen kriegen. Sie spürte, dass dieser Traum irgendetwas von ihr wollte. Sie hatte früher nie mit wiederkehrenden Albträumen zu kämpfen gehabt. Sie wusste: Wenn man den gleichen Traum immer wieder träumt, dann wollte er einem etwas Wichtiges mitteilen.
Aber was?
Ihr Plan ging auf. Dieses „Packen des Traums“ hatte Erfolg. Sie konnte ihn jetzt besser greifen, und er verflüchtigte sich nicht so rapide wie zuvor.
In dem Traum fühlte sie sich wie sie selbst, nur anders. Im Traum – das fiel ihr jetzt auf – aß sie keine Würste, sondern... hatte ein unbändiges Verlangen nach... Blut. Aber sie trank es nicht. Und das war offenbar Teil der Problematik, die den Traum zu einem Albtraum machte. Sie schlussfolgerte, dass sich dieses Verlangen in ihrem Heißhunger auf Blutwurst äußerte. Zuerst war der Speck das Nächstbeste, was sie unmittelbar greifbar hatte. Der Fleischsaft war es eigentlich, den sie plötzlich so verlockend fand – aber sie entschied sich dann aus Vernunft fürs Braten. Und dann lockte sie dieses Gefühl auf den Markt, wo sie die Blutwürste entdeckte.
Sie merkte auch jetzt, wie ihre Gedanken – neben dem Traum – darum kreisten, in den Keller zu gehen und sich wieder eine Wurst zu holen. Ihre tägliche Dosis. Vorher fand sie keine Ruhe.
Sie bemerkte noch mehr, als sie darüber nachdachte, wie sie im Traum war. Sie war zwar sie, aber auch nicht. Oder eher: anders. Im Traum fühlte sie sich schwach und... ausgehungert. Sie belastete ein Gefühl der Verzweiflung, und sie bemerkte die Zerrissenheit zwischen etwas, das sie wollte – und sich gleichzeitig verbot. Ein inneres Verbot aus Überzeugung. Oder eher: aus einem verzweifelten Festhalten an etwas. Dieses Gefühl wurde irgendwann so unerträglich, dass sie davon aufwachte – und es in ihr nachhallte.
Sziedeyna fragte sich, ob sie vielleicht verrückt wurde. Sie führte sich ihre Besessenheit mit den Würsten vor Augen und wusste, wie absurd das eigentlich war.
Was war da mit mir los?
Was wollte mir dieser Traum sagen, der sich so real anfühlte?
Sie hatte Gerüchte aufgeschnappt über die jüngsten Ereignisse. Leute berichteten unter vorgehaltener Hand, dass mitunter seltsame Dinge passierten. Menschen änderten sich über Nacht. Vergaßen Dinge. Erinnern sich plötzlich an Dinge, die ihrem Umfeld gänzlich unbekannt waren. Einmal sogar hielt ein Mann eine fremde Frau für seine Ehefrau und musste von den Wachen abgeführt werden, weil sie Stein und Bein schwor, dass sie ihn nicht kannte.
Könnte so etwas auch mit mir passieren?
Diese Zeiten waren seltsam. Anfangs gab sie nichts auf dieses Gerede alter Waschweiber. Aber jetzt – da war sie sich nicht mehr so sicher. Diese Träume fühlten sich für sie nach mehr an als nur Träumen. Und dann war da ja noch dieser eigenartige Appetit auf Blutwurst.
Oder... war es eigentlich das Blut darin, was sie wirklich reizte?
Jetzt stellte sie sich bewusst diese Frage und dachte an Blut. Frisch, noch warm. Erst von Tieren. Dann von... Menschen.
Und da durchzuckte es sie. Blut... von Menschen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie leckte sich die Lippen. Dabei tastete ihre Zunge auch über ihre Eckzähne, die aber keine Besonderheiten aufwiesen. Sie atmete tief durch. Irgendwas war da mit ihr los.
Und da machte es plötzlich Klick. Sie öffnete den Mund und machte ein total überraschter Gesicht – als hätte sie plötzlich eine Wahnsinnsidee.
Und ja, Wahnsinnsidee im doppelten Sinne. War das die Idee des Wahnsinns?
Ihr fiel nämlich ein, wie sie als Jugendliche einen Plan hatte, den sie in den letzten Jahren eher verdrängt hatte. Ihr Leben hatte sich stark gewandelt, und ihr altes Leben schien überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Aber jetzt war es wieder präsent. Damals hatte sie ihre Eltern ermordet, weil sie besessen davon war, unsterblich zu werden. Und damals träumte sie davon, den Vampirkuss zu empfangen. Aber sie fand keinen Vampir.
Obwohl... das stimmte nicht ganz. Da gab es ein Ereignis, das sie nicht ganz einordnen konnte. Aber danach passierte... nichts. Und dann passierten ganz andere Dinge, die ihr Leben komplett durcheinanderwirbelten. Danach war dieses Gefühl, das sie damals angetrieben hatte, irgendwie verflogen. Heute lebte sie ein eher normales, langweiliges Leben. Eigentlich viel zu langweilig. Sie schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und kam so über die Runden. Ihr Leben fühlte sich leer und sinnlos an. Mit ihrer dunklen Vergangenheit hatte sie abgeschlossen. Dennoch war sie auch desillusioniert – und wusste eigentlich gar nicht, wofür sie lebte.
Und da stellte sie die These auf, dass der Traum vielleicht so etwas wie ein Blick in eine andere Wahrheit war – eine andere Welt, in der es sie auch gab, aber in der sich gewisse Dinge anders entwickelt hatten. So wie es aussah, war darin ihr Wunsch, den Vampirkuss zu empfangen, in Erfüllung gegangen. Aber glücklich hatte es sie offenbar überhaupt nicht gemacht. Wobei dieses Unglück anscheinend davon rührte, dass sie sich verweigerte, Blut zu trinken.
Warum nur? Warum trank ich nicht?
Und woran hielt ich dabei fest?
Jetzt verstand sie: Sie hielt an ihrer Menschlichkeit fest.
Ich war damals so leer und so dumm, dass ich mich dafür hergeben wollte, dachte sie zu sich.
Und jetzt stieg in ihr ein Gefühl von Mitleid hoch, das sie mit ihrem Traum-Ich fühlte.
Irgendwo da draußen... ist sie. Bin ich. Vielleicht. Und muss das durchmachen.
Mit leeren Augen nickte sie ein paar Mal gedankenverloren. Was sie gerade am meisten beschäftigte, war eine Erkenntnis:
Wenn da draußen die Menschen sich tatsächlich verändern, dann könnte das auch mit mir passieren.
Sie erinnerte sich an eine Erzählung, die sie vor einer Weile ein paar Gassen weiter aufgeschnappt hatte. Da war bei einem Mann plötzlich eine Narbe verschwunden, die er vor Jahren bekommen hatte.
Was also, wenn... ich vielleicht auch mehr zu dieser anderen Sziedeyna werde?
Und das vielleicht der wahre Grund für meinen seltsamen neuen Appetit ist?
Sie atmete erneut tief durch. Das machte ihr alles Unbehagen.
Und dann stattete sie dem Keller wieder einen Besuch ab...

Sie setzte sich aufrecht auf die Bettkante, atmete tief durch und rieb sich die Wangen. Danach schaute sie, noch immer in Gedanken versunken, in ihrem Zimmer umher – als suchte sie etwas, das aber gar nicht physisch in diesem Raum präsent war.
Es war so real!
Jetzt begann sie, in einem etwas wacheren Zustand, angestrengt in ihrer Erinnerung an den Traum zu kramen. Etwas fiel ihr auf, und sie fixierte für einen Moment mit den Augen einen imaginären Punkt im Raum. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und stand dann auf.
Der Traum würde sie noch den restlichen Tag beschäftigen. Es vergingen ein paar Tage, bis es wieder passierte. Sie wachte erneut schweißgebadet auf und merkte sofort, was passiert war. Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie das letzte Mal ebenfalls ein seltsames Gefühl im Magen verspürt hatte – so wie diesmal auch. Damals verspürte sie seltsamen Appetit auf Fleisch, briet sich eine besonders große Portion Speck mit Eiern. Aber erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bereits vor dem Braten große Lust verspürt hatte, das Fleisch zu verzehren – ja, regelrecht zu verschlingen.
Oder war es das Fleisch?
War es nicht vielmehr der Saft darin?
Sie hatte das ignoriert, weil es ihr absurd vorkam – und sicherlich auch nicht gesund gewesen wäre. Aber jetzt war es wieder da, dieses Gefühl, diese Lust auf...
Sie hatte jedoch kein Fleisch mehr im Haus und musste zuerst den Markt besuchen. Da sie ansonsten eh nur noch etwas vertrocknetes Brot dahatte, beschloss sie, den Markt kurz darauf aufzusuchen.
Auf dem Marktplatz angekommen, schaute sie sich um. Da war ein Stand mit Fleisch- und Wurstwaren. Sie ging eiligen Schritts zum Stand und begutachtete das Warenangebot. Dort fiel ihr eine Wurst ins Auge, die sie früher immer ignoriert hatte, da sie sie nicht als besonders appetitlich empfunden hatte. Aber diesmal erschien es ihr, als würde diese rötlich-schwarze Wurst sie förmlich dazu aufrufen, sie zu essen.
Sie wies den Händler an, ihr drei dieser Würste einzupacken, die sie mit ein paar Münzen quittierte. Mit den Würsten in der Tasche machte sie sich direkt wieder auf den Weg nach Hause. Dort knallte sie die Würste auf den Tisch, schnitt die erste gierig an und biss direkt ab – fast wie ein Tier.
Sie hatte die halbe Wurst im Eiltempo heruntergeschlungen, da fiel ihr erst auf, was sie da eigentlich tat. Das ließ sie etwas über sich erschrecken.
Was mache ich hier eigentlich? dachte sie irritiert. Dieser seltsame Traum wieder...
Sie verfiel wieder ins Grübeln und Kramen. Dann schaute sie zu den Würsten. Die angeschnittene Wurst fixierte sie für einen Moment, hielt inne – als würde sie einen inneren Konflikt austragen, der nur für sie existierte. Dann schlang sie den Rest hinunter. Danach war ihr schlecht. Ihr Frühstück war also einfach eine ganze Blutwurst gewesen. Ihr kam das im Nachhinein absurd vor.
Sie war gleichzeitig seltsam erleichtert, dass sie noch zwei dieser Würste hatte. Sie kamen ihr wie kleine Schätze vor, die sie jetzt in den Keller brachte, damit sie nicht so schnell verdarben.
Es vergingen wieder ein paar Tage. Jeden Tag aß sie morgens eine Wurst und ging regelmäßig zu jenem Stand, um sich erneut einzudecken. Und wie es kommen musste, wachte sie wieder von diesem Traum auf, der sie anscheinend nicht loslassen wollte.
Aber sie war inzwischen mental vorbereitet und wollte den Traum – sobald sie wachen Verstands war – quasi wie eine Katze ihrer Beute auflauern und ihn zu packen kriegen. Sie spürte, dass dieser Traum irgendetwas von ihr wollte. Sie hatte früher nie mit wiederkehrenden Albträumen zu kämpfen gehabt. Sie wusste: Wenn man den gleichen Traum immer wieder träumt, dann wollte er einem etwas Wichtiges mitteilen.
Aber was?
Ihr Plan ging auf. Dieses „Packen des Traums“ hatte Erfolg. Sie konnte ihn jetzt besser greifen, und er verflüchtigte sich nicht so rapide wie zuvor.
In dem Traum fühlte sie sich wie sie selbst, nur anders. Im Traum – das fiel ihr jetzt auf – aß sie keine Würste, sondern... hatte ein unbändiges Verlangen nach... Blut. Aber sie trank es nicht. Und das war offenbar Teil der Problematik, die den Traum zu einem Albtraum machte. Sie schlussfolgerte, dass sich dieses Verlangen in ihrem Heißhunger auf Blutwurst äußerte. Zuerst war der Speck das Nächstbeste, was sie unmittelbar greifbar hatte. Der Fleischsaft war es eigentlich, den sie plötzlich so verlockend fand – aber sie entschied sich dann aus Vernunft fürs Braten. Und dann lockte sie dieses Gefühl auf den Markt, wo sie die Blutwürste entdeckte.
Sie merkte auch jetzt, wie ihre Gedanken – neben dem Traum – darum kreisten, in den Keller zu gehen und sich wieder eine Wurst zu holen. Ihre tägliche Dosis. Vorher fand sie keine Ruhe.
Sie bemerkte noch mehr, als sie darüber nachdachte, wie sie im Traum war. Sie war zwar sie, aber auch nicht. Oder eher: anders. Im Traum fühlte sie sich schwach und... ausgehungert. Sie belastete ein Gefühl der Verzweiflung, und sie bemerkte die Zerrissenheit zwischen etwas, das sie wollte – und sich gleichzeitig verbot. Ein inneres Verbot aus Überzeugung. Oder eher: aus einem verzweifelten Festhalten an etwas. Dieses Gefühl wurde irgendwann so unerträglich, dass sie davon aufwachte – und es in ihr nachhallte.
Sziedeyna fragte sich, ob sie vielleicht verrückt wurde. Sie führte sich ihre Besessenheit mit den Würsten vor Augen und wusste, wie absurd das eigentlich war.
Was war da mit mir los?
Was wollte mir dieser Traum sagen, der sich so real anfühlte?
Sie hatte Gerüchte aufgeschnappt über die jüngsten Ereignisse. Leute berichteten unter vorgehaltener Hand, dass mitunter seltsame Dinge passierten. Menschen änderten sich über Nacht. Vergaßen Dinge. Erinnern sich plötzlich an Dinge, die ihrem Umfeld gänzlich unbekannt waren. Einmal sogar hielt ein Mann eine fremde Frau für seine Ehefrau und musste von den Wachen abgeführt werden, weil sie Stein und Bein schwor, dass sie ihn nicht kannte.
Könnte so etwas auch mit mir passieren?
Diese Zeiten waren seltsam. Anfangs gab sie nichts auf dieses Gerede alter Waschweiber. Aber jetzt – da war sie sich nicht mehr so sicher. Diese Träume fühlten sich für sie nach mehr an als nur Träumen. Und dann war da ja noch dieser eigenartige Appetit auf Blutwurst.
Oder... war es eigentlich das Blut darin, was sie wirklich reizte?
Jetzt stellte sie sich bewusst diese Frage und dachte an Blut. Frisch, noch warm. Erst von Tieren. Dann von... Menschen.
Und da durchzuckte es sie. Blut... von Menschen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie leckte sich die Lippen. Dabei tastete ihre Zunge auch über ihre Eckzähne, die aber keine Besonderheiten aufwiesen. Sie atmete tief durch. Irgendwas war da mit ihr los.
Und da machte es plötzlich Klick. Sie öffnete den Mund und machte ein total überraschter Gesicht – als hätte sie plötzlich eine Wahnsinnsidee.
Und ja, Wahnsinnsidee im doppelten Sinne. War das die Idee des Wahnsinns?
Ihr fiel nämlich ein, wie sie als Jugendliche einen Plan hatte, den sie in den letzten Jahren eher verdrängt hatte. Ihr Leben hatte sich stark gewandelt, und ihr altes Leben schien überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Aber jetzt war es wieder präsent. Damals hatte sie ihre Eltern ermordet, weil sie besessen davon war, unsterblich zu werden. Und damals träumte sie davon, den Vampirkuss zu empfangen. Aber sie fand keinen Vampir.
Obwohl... das stimmte nicht ganz. Da gab es ein Ereignis, das sie nicht ganz einordnen konnte. Aber danach passierte... nichts. Und dann passierten ganz andere Dinge, die ihr Leben komplett durcheinanderwirbelten. Danach war dieses Gefühl, das sie damals angetrieben hatte, irgendwie verflogen. Heute lebte sie ein eher normales, langweiliges Leben. Eigentlich viel zu langweilig. Sie schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und kam so über die Runden. Ihr Leben fühlte sich leer und sinnlos an. Mit ihrer dunklen Vergangenheit hatte sie abgeschlossen. Dennoch war sie auch desillusioniert – und wusste eigentlich gar nicht, wofür sie lebte.
Und da stellte sie die These auf, dass der Traum vielleicht so etwas wie ein Blick in eine andere Wahrheit war – eine andere Welt, in der es sie auch gab, aber in der sich gewisse Dinge anders entwickelt hatten. So wie es aussah, war darin ihr Wunsch, den Vampirkuss zu empfangen, in Erfüllung gegangen. Aber glücklich hatte es sie offenbar überhaupt nicht gemacht. Wobei dieses Unglück anscheinend davon rührte, dass sie sich verweigerte, Blut zu trinken.
Warum nur? Warum trank ich nicht?
Und woran hielt ich dabei fest?
Jetzt verstand sie: Sie hielt an ihrer Menschlichkeit fest.
Ich war damals so leer und so dumm, dass ich mich dafür hergeben wollte, dachte sie zu sich.
Und jetzt stieg in ihr ein Gefühl von Mitleid hoch, das sie mit ihrem Traum-Ich fühlte.
Irgendwo da draußen... ist sie. Bin ich. Vielleicht. Und muss das durchmachen.
Mit leeren Augen nickte sie ein paar Mal gedankenverloren. Was sie gerade am meisten beschäftigte, war eine Erkenntnis:
Wenn da draußen die Menschen sich tatsächlich verändern, dann könnte das auch mit mir passieren.
Sie erinnerte sich an eine Erzählung, die sie vor einer Weile ein paar Gassen weiter aufgeschnappt hatte. Da war bei einem Mann plötzlich eine Narbe verschwunden, die er vor Jahren bekommen hatte.
Was also, wenn... ich vielleicht auch mehr zu dieser anderen Sziedeyna werde?
Und das vielleicht der wahre Grund für meinen seltsamen neuen Appetit ist?
Sie atmete erneut tief durch. Das machte ihr alles Unbehagen.
Und dann stattete sie dem Keller wieder einen Besuch ab...
