Der Baum
Verfasst: 29 Jun 2025, 21:28
Loretta war noch immer in Yew.
Ihr Aufenthalt dort hatte sich anders entwickelt, als sie es erwartet hatte. Sie war gekommen, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – nicht um Antworten zu finden, sondern um den Fragen überhaupt erst ins Gesicht zu blicken. Dabei war sie Sa’shiya begegnet. Eine seltsam animalische Waldelfe, vor der sie gleichermaßen Angst hatte wie Faszination empfand. In Sa’shiya erkannte sie etwas Ursprüngliches, Wildes – eine Verbindung zur Natur, die über das hinausging, was sie von Waldelfen kannte. Und zugleich war da etwas Chaotisches, Unberechenbares. Immer wirkte es, als sei Sa’shiya nur einen Atemzug vom nächsten Ausbruch entfernt.
Vielleicht war es genau das, was Loretta so in den Bann zog. Diese Wildheit, die ihr selbst fremd war. Loretta, mit ihrem waldelfischen Blut, aber ohne klare Erinnerung an Herkunft oder Wurzeln. Sie war in Britain aufgewachsen, unter Menschen. Sechzig Jahre war das nun her. Ihr Vater – ein Mensch – hatte sie als kleines Kind zu sich geholt. Was davor lag, war verschwommen, überlagert von Schmerz. Erst sein Tod hatte ihr die Freiheit gegeben, die Vergangenheit nicht länger ruhen zu lassen.
Mit gemischten Gefühlen war sie schließlich nach Yew aufgebrochen. Irgendwo da draußen, im grünen Dickicht, glaubte sie einen blinden Fleck in sich selbst zu finden. Und hätte es diese innere Zäsur nicht gegeben – den Bruch mit dem Leben in Britain, mit den Spielen des Adels, der ständigen Bewertung, dem Gefühl ständiger Fremdheit – vielleicht wäre sie nie gegangen. Ihr Vater war der Anker gewesen. Ohne ihn war sie nur noch Treibgut in einer Welt, die nie wirklich die ihre war.
Und dann war da noch Sa’shiya.
Sie hatte ihr La nähergebracht – nicht erklärend, sondern auf eine Art, die Loretta nicht verstand, aber tief berührte. La war ihr immer fremd gewesen. Doch zum ersten Mal glaubte sie zu begreifen: Was sie suchte, war kein Ort auf der Karte. Nicht der Wald selbst, nicht ein bestimmter Platz. Nicht einmal ein Haus. Der Ort, an dem alles zerbrach – die Nacht, in der sie alles verlor – war längst vom Wald verschlungen worden. Sechzig Jahre Zeit hatte die Natur gehabt, zu verbergen, zu verwachsen, zu vergessen.
Sie musste einsehen: Es gab nichts mehr zu finden. Und doch hatte sie etwas gefunden. Nicht das, was sie gesucht hatte, aber vielleicht das, was sie wirklich brauchte. Die Gewissheit, dass sie nie eine „richtige“ Waldelfe sein würde. In Yew fühlte sie sich nicht zugehörig – eher wie eine Besucherin. Aber genau diese Erkenntnis ließ in ihr etwas reifen: den Entschluss, zurückzukehren. Zurück in die Welt, aus der sie kam. Und sich zurückzuholen, was man ihr genommen hatte.
Sie war schon dabei, ihre Rückkehr nach Britain zu planen, als es geschah.
Ein Spaziergang, ziellos. Erst nur ein vages Gefühl. Sie wurde langsamer, blieb stehen. Etwas war da. Sie folgte dem Impuls, tiefer in den Wald hinein, bis sie einen Baum erreichte. Einen Yew-Baum – aber anders als die anderen. Alt, mächtig, fast ehrfurchtgebietend. Etwas in ihr geriet ins Schwingen, ein inneres Erkennen. Vielleicht war das… La? Vielleicht sprach La zum ersten Mal wirklich zu ihr?
Sie betrachtete den Baum genauer. Nie zuvor hatte sie über so etwas nachgedacht, aber es schien, als trüge er Zeichen der Fortpflanzung. Ein Blitzgedanke: Was, wenn so ein Baum auch in Britain wachsen könnte? Ein Stück Heimat, das aus Yew stammte. Eine Versöhnung zweier Welten. Doch sogleich zögerte sie. Konnte man so etwas einfach nehmen? Sie wollte nicht stehlen. Wenn überhaupt, dann sollte es ein Geschenk sein.
Sie schloss die Augen, konzentrierte sich. Lauschte dem Gefühl, das sie hergeführt hatte. Es machte ihr Mut. Und so sprach sie innerlich ein Gebet:
„Lieber Baum, der du so schön und majestätisch stehst.
Lieber Baum, den ich gespürt habe.
Vielleicht gibst du mir ein kleines Stück von dir,
auf dass ich es bewahren und wachsen lassen kann.“
Die Worte kamen ihr im Nachhinein unbeholfen vor. Aber sie waren ihre eigenen. Ehrlich. Vom Herzen gesprochen. Und das allein zählte.
Sie würde wiederkommen. Wenn sie fühlte, dass der Baum sie erhört hatte.

Ihr Aufenthalt dort hatte sich anders entwickelt, als sie es erwartet hatte. Sie war gekommen, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – nicht um Antworten zu finden, sondern um den Fragen überhaupt erst ins Gesicht zu blicken. Dabei war sie Sa’shiya begegnet. Eine seltsam animalische Waldelfe, vor der sie gleichermaßen Angst hatte wie Faszination empfand. In Sa’shiya erkannte sie etwas Ursprüngliches, Wildes – eine Verbindung zur Natur, die über das hinausging, was sie von Waldelfen kannte. Und zugleich war da etwas Chaotisches, Unberechenbares. Immer wirkte es, als sei Sa’shiya nur einen Atemzug vom nächsten Ausbruch entfernt.
Vielleicht war es genau das, was Loretta so in den Bann zog. Diese Wildheit, die ihr selbst fremd war. Loretta, mit ihrem waldelfischen Blut, aber ohne klare Erinnerung an Herkunft oder Wurzeln. Sie war in Britain aufgewachsen, unter Menschen. Sechzig Jahre war das nun her. Ihr Vater – ein Mensch – hatte sie als kleines Kind zu sich geholt. Was davor lag, war verschwommen, überlagert von Schmerz. Erst sein Tod hatte ihr die Freiheit gegeben, die Vergangenheit nicht länger ruhen zu lassen.
Mit gemischten Gefühlen war sie schließlich nach Yew aufgebrochen. Irgendwo da draußen, im grünen Dickicht, glaubte sie einen blinden Fleck in sich selbst zu finden. Und hätte es diese innere Zäsur nicht gegeben – den Bruch mit dem Leben in Britain, mit den Spielen des Adels, der ständigen Bewertung, dem Gefühl ständiger Fremdheit – vielleicht wäre sie nie gegangen. Ihr Vater war der Anker gewesen. Ohne ihn war sie nur noch Treibgut in einer Welt, die nie wirklich die ihre war.
Und dann war da noch Sa’shiya.
Sie hatte ihr La nähergebracht – nicht erklärend, sondern auf eine Art, die Loretta nicht verstand, aber tief berührte. La war ihr immer fremd gewesen. Doch zum ersten Mal glaubte sie zu begreifen: Was sie suchte, war kein Ort auf der Karte. Nicht der Wald selbst, nicht ein bestimmter Platz. Nicht einmal ein Haus. Der Ort, an dem alles zerbrach – die Nacht, in der sie alles verlor – war längst vom Wald verschlungen worden. Sechzig Jahre Zeit hatte die Natur gehabt, zu verbergen, zu verwachsen, zu vergessen.
Sie musste einsehen: Es gab nichts mehr zu finden. Und doch hatte sie etwas gefunden. Nicht das, was sie gesucht hatte, aber vielleicht das, was sie wirklich brauchte. Die Gewissheit, dass sie nie eine „richtige“ Waldelfe sein würde. In Yew fühlte sie sich nicht zugehörig – eher wie eine Besucherin. Aber genau diese Erkenntnis ließ in ihr etwas reifen: den Entschluss, zurückzukehren. Zurück in die Welt, aus der sie kam. Und sich zurückzuholen, was man ihr genommen hatte.
Sie war schon dabei, ihre Rückkehr nach Britain zu planen, als es geschah.
Ein Spaziergang, ziellos. Erst nur ein vages Gefühl. Sie wurde langsamer, blieb stehen. Etwas war da. Sie folgte dem Impuls, tiefer in den Wald hinein, bis sie einen Baum erreichte. Einen Yew-Baum – aber anders als die anderen. Alt, mächtig, fast ehrfurchtgebietend. Etwas in ihr geriet ins Schwingen, ein inneres Erkennen. Vielleicht war das… La? Vielleicht sprach La zum ersten Mal wirklich zu ihr?
Sie betrachtete den Baum genauer. Nie zuvor hatte sie über so etwas nachgedacht, aber es schien, als trüge er Zeichen der Fortpflanzung. Ein Blitzgedanke: Was, wenn so ein Baum auch in Britain wachsen könnte? Ein Stück Heimat, das aus Yew stammte. Eine Versöhnung zweier Welten. Doch sogleich zögerte sie. Konnte man so etwas einfach nehmen? Sie wollte nicht stehlen. Wenn überhaupt, dann sollte es ein Geschenk sein.
Sie schloss die Augen, konzentrierte sich. Lauschte dem Gefühl, das sie hergeführt hatte. Es machte ihr Mut. Und so sprach sie innerlich ein Gebet:
„Lieber Baum, der du so schön und majestätisch stehst.
Lieber Baum, den ich gespürt habe.
Vielleicht gibst du mir ein kleines Stück von dir,
auf dass ich es bewahren und wachsen lassen kann.“
Die Worte kamen ihr im Nachhinein unbeholfen vor. Aber sie waren ihre eigenen. Ehrlich. Vom Herzen gesprochen. Und das allein zählte.
Sie würde wiederkommen. Wenn sie fühlte, dass der Baum sie erhört hatte.
