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Loup Garou

Verfasst: 04 Jul 2025, 21:12
von Rianon
Diese Geschichte knüpft an die Ereignisse aus Ein Geschenk der anderen Art an, bildet jedoch einen eigenen Storystrang. Die Vorhergehenden Ereignisse können hier gelesen werden: viewtopic.php?t=418
Der Regen war vor Stunden abgeklungen, doch der Himmel blieb wolkenverhangen, als Rianon die schwere Tür der alten Gildenfestung hinter sich schloss. Der steinerne Bau lag still da, verlassen von den anderen Mitgliedern des Bundes der Wachenden, die in den umliegenden Reichen auf Missionen unterwegs waren. Nur Rianon war zurückgekehrt – suchend nach Antworten, nach Klarheit. Die Begegnung mit der Drow ließ ihn nicht los. Ihre wilden Augen. Die plötzliche Wut. Das schleudernde Cape, das noch immer durchnässt über einem Haken hing. Er saß im oberen Stockwerk der Halle, die Stirn gegen das kalte Holz eines Pfeilers gelehnt. Stunden waren vergangen, ohne dass er die Zeit gespürt hatte. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen.
Langsam trat er an eine der schmalen Schießscharten und spähte hinaus in den von Moos durchzogenen Innenhof. Und da – bei dem alten, längst versiegten Brunnen – stand ein Tier. Ein Wolf. Doch nicht irgendein Wolf. Er war riesig. Ein prächtiger Timberwolf mit dichter, silbergrauer Mähne und durchdringenden Augen, aus denen eine seltsame Ruhe sprach. Der Wolf senkte den Kopf und trank aus der Pfütze, die sich in der Brunneneinfassung gesammelt hatte.
Rianon runzelte die Stirn. Der Wolf gehörte nicht hierher. Die Festung war abgeschieden, geschützt. Wenn ein Rekrut oder ein streunender Kämpfer auftauchte, würde er ohne Zögern den Bogen spannen – aber das Tier schien friedlich. Irritierend friedlich.
Er griff nach seinem Umhang, schnallte leise das Messer an seinen Gürtel – nur zur Sicherheit – und trat hinaus in den Hof. Der Wind rauschte leise durch die Zinnen. Der Wolf hob den Kopf. Rianon blieb stehen, etwa zehn Schritt entfernt. „Du bist weit weg von deinem Revier, Freund Wolf“, sagte er ruhig, mehr ein Gedanke als eine Mahnung. Der Timberwolf musterte ihn. Und in jenem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, durchzuckte Rianon etwas wie ein Stromstoß. Diese Augen… unheimlich Vertraut. Fast schmerzhaft vertraut. Die Drow? Der Gedanke war so schnell da, dass er ihn kaum greifen konnte. Aber das war unmöglich. Oder? Er machte einen vorsichtigen Schritt auf das Tier zu – zu hastig. Sein Stiefel rutschte leicht auf dem moosigen Stein aus, sein Gleichgewicht geriet ins Wanken. Ein Knurren grollte durch die Luft. Der Wolf spannte sich – und im Bruchteil eines Moments schoss das Tier auf ihn zu, lautlos, wie ein Schatten aus Fell und Kraft.
Rianon riss die Augen auf – dann kam der Wolf an…

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Re: Loup Garou

Verfasst: 05 Jul 2025, 16:38
von gelöschter Charakter_546
Für Alniira, gefangen in der wilden, ungezähmten Form des Wolfes, war die Welt eine Flut von Gerüchen, Geräuschen und Instinkten. Sie wusste nicht, wo sie war, nicht einmal, wer sie war, im tiefsten Sinne. Doch als ihre Augen auf den Waldelfen fielen, der da vor ihr stand, durchzuckte sie ein seltsames, fast schmerzhaftes Gefühl der Erkenntnis. Sein Gesicht, die Art, wie er sich bewegte, der schwache Geruch von Schafgarbe und Kiefernharz, der an ihm haftete und sich mit dem Geruch von feuchtem Moos und alter Rinde vermischte – all das riss einen Schleier in ihrem verwirrten Geist beiseite.
Er war es.
Der Waldelf. Der, der sie gefunden hatte, als sie am Boden lag, gebrochen und blutend. Der, der ihre Wunden versorgt hatte, auch wenn sie ihn in ihrer panischen Wut weggestoßen hatte. Eine flüchtige Erinnerung schoss durch ihren Geist: die sanften Finger, die ihren Puls prüften; die leise, beruhigende Stimme, die ihr zusprach, auch wenn sie die Worte nicht verstand; das Gefühl seines Umhangs, der sie vor der Kälte schützte. Er hatte sich um sie gesorgt. Er hatte ihr geholfen.

Doch diese Erkenntnis war kein Anker, sondern ein weiterer Sturm in ihrem Inneren.

„Hilfe… war das wirklich Hilfe? Oder war es Mitleid? Schwäche?“

Ihr wilder, neuer Instinkt schrie nach Vorsicht, nach Flucht, nach Schutz. Die Welt war ein gefährlicher Ort, und sie war die Beute, die sich verteidigen musste. Die Erinnerung an den Biss des Wolfes, an die Ohnmacht, an die schreckliche Verwandlung, die sie durchgemacht hatte, nagte an ihr.

„Ich bin anders. Ich bin… das hier. Was bin ich?“

Sie hatte Angst. Eine tiefe, archaische Furcht, die sich in ihrer Wolfsgestalt noch verstärkte.

„Er hat mich gesehen, als ich schwach war. Er weiß es. Er ist eine Bedrohung.“
Und dann sah sie das Messer an seinem Gürtel. Ein winziges Detail, das in ihrer überreizten Wahrnehmung zu einer riesigen Bedrohung anschwoll.
„Eine Waffe. Er ist bewaffnet. Er könnte mich verletzen.“
Und als Rianon stolperte, ein Zeichen von Schwäche, das ihr Instinkt sofort als Gelegenheit interpretierte, wurde Alniira von ihren Ur-Trieben übermannt. Es war keine bewusste Entscheidung, kein Plan, keine Bosheit. Es war wie eine Explosion in ihr, ein reiner, unkontrollierbarer Überlebenstrieb.
„Weg! Ich muss weg! Er darf mich nicht fangen!“
Sie sprang den Waldelfen an, eine verschwommene Masse aus Fell und Kraft. Es war ein verzweifelter, panischer Sprung, um die vermeintliche Bedrohung abzuwehren, ehe sie angreifen konnte. Rianon war schnell, er konnte seine Arme schützend vor sich heben, doch Alniiras Kiefer schlossen sich instinktiv um das, was am nächsten war: seinen Arm. Sie biss zu, nicht mit der Absicht zu töten, sondern um zu warnen, um sich aus der Situation zu befreien. Sie zerrte für einige Sekunden an ihm, das Gefühl von Stoff und Fleisch zwischen ihren Zähnen war fremd und doch befriedigend in ihrer Panik, bis er zu Boden ging.

Doch in dem Moment, als Rianon fiel, brach der wilde Impuls ab.

„Nein! Was habe ich getan?!“
Die Bilder der helfenden Hände, der besorgten Augen, drängten sich wieder in den Vordergrund.

„Er hat mir geholfen! Ich habe ihn verletzt! Er ist nicht mein Feind!“

Sie hatte ihn verletzt. Den, der ihr geholfen hatte. Eine Welle der Verwirrung und des Entsetzens durchfuhr sie. Statt weiter anzugreifen, wich sie zurück. Ihr Körper zuckte, ihre Pfoten scharrten auf dem Stein. Sie wollte ihn nicht verletzen oder gar töten, sie wollte nur weg. Weg von ihm, weg von diesem Ort, weg von der schrecklichen Erkenntnis, was sie geworden war und was sie gerade getan hatte.

Sie wollte wieder laufen, die Verwirrung und die Angst in der Bewegung ertränken, bis die Welt wieder einen Sinn ergab.

„Ich muss das verstehen. Ich muss mich kontrollieren. Ich bin Alniira. Ich bin nicht diese Bestie.“

Re: Loup Garou

Verfasst: 05 Jul 2025, 17:07
von gelöschter Charakter_546
Sie rannte. Ihre Pfoten schlugen rhythmisch auf den feuchten Waldboden, ein dumpfes Echo, das sich mit dem Rauschen des Windes in ihren Ohren vermischte. Jeder Muskel schrie, aber es war ein vertrauter Schmerz, der sie nicht brechen konnte. Der Wald um sie herum war nicht länger ein Labyrinth des Grauens, sondern eine Symphonie der Sinne. Der Geruch von feuchter Erde, von modrigem Laub, von taufrischen Farnen und dem harzigen Duft der Kiefern füllte ihre Nase. Jeder Geruch war neu, intensiver, erzählte eine Geschichte von Leben und Verfall, die sie zuvor nie wahrgenommen hatte. Das Rascheln der Blätter unter ihren Pfoten, das ferne Zirpen der Grillen, das leise Knistern von Ästen – alles war kristallklar, ein Teppich aus Geräuschen, der sie umhüllte.
„Wie kann das sein? Ich sehe, ich rieche, ich höre… anders. Alles ist so lebendig, so real.“
Doch inmitten dieser neuen, überwältigenden Eindrücke drängte sich die Erinnerung an Rianon, an den Waldelfen, wieder in den Vordergrund. Der Biss. Das Gefühl seines Arms zwischen ihren Zähnen. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, nicht körperlich, sondern tief in ihrem Inneren.
„Ich habe ihn verletzt. Den, der mir geholfen hat. Den, der mich nicht getötet hat, als ich hilflos war. Was bin ich nur geworden?“
Schuld und Reue nagten an ihr, ein Gefühl, das sie als Drow kaum kannte. Ihre Erziehung hatte sie gelehrt, Schwäche zu verachten, und Mitleid war eine fremde Emotion. Doch jetzt, in dieser wilden Form, spürte sie eine unerklärliche Last auf ihrem Herzen.
„Er war freundlich. Er war… gut. Und ich… ich habe ihn angegriffen. Wie eine wilde Bestie. Bin ich das jetzt? Nur noch eine Bestie?“
Doch da war noch etwas. Etwas, das sie gespürt hatte, als ihre Zähne seinen Arm umschlossen. Es war mehr als nur Fleisch und Knochen. Eine seltsame Energie, ein Echo, das sie nicht beschreiben konnte. Es war nicht wie die verderbende Macht des Wolfes, der sie gebissen hatte, auch nicht wie die kalte Magie der Drow. Es war… anders. Eine Wärme, eine Stärke, die nicht aggressiv war, aber tief und unerschütterlich.
„Was war das? Was habe ich gespürt? Es war… etwas mit ihm. Etwas, das ich noch nie zuvor wahrgenommen habe.“
Die Verwirrung war immens. Sie war stärker als je zuvor, ihre Sinne geschärft, ihr Körper voller ungezähmter Kraft. Doch gleichzeitig fühlte sie sich verletzlicher, weil sie ihre eigenen Reaktionen nicht mehr kontrollieren konnte. Die Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was sie geworden war, mischte sich mit der Angst vor dem, was sie getan hatte. Sie rannte weiter, getrieben von dem Drang, Antworten zu finden und sich selbst wieder zu beherrschen.

Re: Loup Garou

Verfasst: 05 Jul 2025, 17:52
von Rianon
Der Schmerz war dumpf und pulsierend, als Rianon keuchend auf dem Boden des Innenhofes der Festung liegen blieb. Jeder Atemzug ließ die Wunde an seinem Arm pochen, als würde das Fleisch selbst gegen ihn rebellieren. Er richtete mühsam den Blick auf – gerade noch rechtzeitig, um den Schatten des Wolfs im Dickicht verschwinden zu sehen. Er war fort. Oder besser gesagt...sie war fort; das konnte Rianon noch erkennen. Keine Jagd, kein zweiter Angriff – nur Flucht. So schnell, wie sie gekommen war. Rianon lag da, starrte dem Tier nach, während sein Herz hämmerte. Die Erkenntnis sickerte langsam durch den Nebel der Schmerzen und des Adrenalins: Sie hatte ihn nicht töten wollen.
Langsam, mit zusammengebissenen Zähnen, zwang er sich auf die Knie. Blut sickerte durch den Ärmel seiner Tunika, dunkel und warm. Die Wunde pochte, doch er ignorierte es – soweit das möglich war – und zog sich auf die Füße. Jeder Schritt zurück in die Festung war eine Prüfung. Seine Sinne arbeiteten gegen ihn: das Rauschen des Bluts in seinen Ohren, das Zittern seiner Muskeln, das Brennen der Bisswunde.
Aber irgendetwas in den Augen der Wölfin hatte ihn berührt. Er hatte gesehen, wie etwas in ihr gekämpft hatte – nicht gegen ihn, sondern gegen sich selbst. Sie hatte gezögert. Gezögert, zu töten. Und das bedeutete etwas.

Mit letzter Kraft schloss Rianon die Tür zu seinem Zimmer. Das kleine Quartier roch nach trockenem Holz, altem Leder und getrockneten Kräutern. Es war sein Rückzugsort – sein stiller Hafen. Er ließ sich auf den Hocker neben dem Tisch sinken, den verletzten Arm vorsichtig auf die Holzplatte gelegt. Mit der freien Hand griff er nach der kleinen Tonschale mit Wasser, tränkte ein Tuch und begann, die Wunde zu reinigen.
Der Schmerz war grell, brennend, als das Wasser in den Biss floss. Blut und Speichel vermischt, die Spuren des Angriffs. Er atmete flach, konzentrierte sich auf jeden Handgriff, auf die mechanische Präzision der Heilung. Doch dann hielt er inne. Ein Geruch stieg ihm in die Nase. Nicht der metallische, schwere Duft von Blut allein – sondern etwas anderes, etwas Ungewöhnliches. Etwas Vertrautes. Und doch fremd. Er erinnerte sich an die Wunde der Drow, die er vor Monaten untersucht hatte. An das Raue, das Giftige, das Faule in ihrem Blut, das etwas Dunkles in sich trug. Und jetzt... hier? Dieser Geruch war ähnlich, ja – aber nicht feindlich. Nicht giftig. Fast... organisch. Natürlich. Fast angenehm. Er schloss die Augen. Atmete vorsichtig ein, erneut. Es war wie Kiefernharz, feuchtes Laub, und... Wärme. Lebenskraft. Eine Kraft, die wild war, aber nicht verdorben. Es war, als hätte sich ein Teil des Waldes selbst in ihn gebissen. Was war sie? Was war mit ihm geschehen?

Er verband die Wunde mit sauberem Stoff und legte sich schließlich auf sein Lager. Der Schmerz vibrierte durch seinen Arm, aber in ihm begann sich etwas zu lösen – nicht Verzweiflung, sondern etwas wie... Akzeptanz. Er legte die Finger auf seine Brust, schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Langsam, gleichmäßig. Er ließ das Blut ruhiger fließen, lenkte den Schmerz in den Boden ab, rief die Kräfte des Waldes zu sich. Nicht laut – nur im Geiste. Der alte Pfad der Heilungsmeditation. Ein grünes Licht flackerte kurz hinter seinen Lidern. Er spürte die Umrisse der Bäume. Den Herzschlag des Waldes. Und irgendwo dort draußen... das Echo von ihr.
Dann wurde alles still. Rianon fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf – gehalten von der Stille des Waldes, der Sorge um das Unbekannte, und dem langsamen, flüsternden Strom der Heilung, der durch seine Adern kroch. Und etwas anderes.

Re: Loup Garou

Verfasst: 06 Jul 2025, 05:42
von gelöschter Charakter_546
Der Schock und der metallische Geschmack von Blut klebten an Alniiras Zunge. Panik trieb ihre neuen, kraftvollen Wolfsbeine vorwärts, riss durch das Unterholz des Waldes nahe dem Yew Wood. Jeder knackende Ast unter ihren Pfoten war eine Anklage, jedes Rascheln im Laub ein drohender Verfolger.
Bei allen Göttern, was habe ich getan? Weglaufen. Einfach nur weglaufen. Er wird bluten, er wird... nein. Nicht daran denken. Ich bin ein Monster. Ein verdammtes Monster.
Das Bild des Waldelfen, seine Augen weit vor Schreck, als ihre Zähne seine Haut rissen, brannte sich hinter ihre Lider. Es war keine Aggression gewesen, kein Jagdtrieb – es war pure, instinktive Angst gewesen, die sie überwältigt hatte. Aber würde er das verstehen? Würde er überleben? Ihr Herz hämmerte einen wilden Rhythmus gegen ihre Rippen, ein Trommeln der Furcht und des Selbsthasses.
Eine Schmiedin... ich sollte erschaffen, nicht zerstören. Diese Klauen... sie sind nicht meine Hände. Sie gehorchen mir nicht. Sie gehorchen nur der Angst.
Als sie auf eine Lichtung preschte, änderte sich etwas. Das Mondlicht, das bisher nur ein kalter, stiller Beobachter gewesen war, schien sich zu verdichten. Es floss nicht mehr nur auf den Waldboden, es schien von ihm aufzusteigen, ein sanfter, leuchtender Nebel, der sich um die Bäume wand. Das Geräusch ihres eigenen, keuchenden Atems verblasste und wurde von einer fernen, unendlich wehmütigen Melodie überlagert – dem Klang einer einzelnen Harfe, deren Töne wie flüssiges Licht durch die Nacht tropften.

Alniira verlangsamte ihren Lauf und kam stolpernd zum Stehen. Ihre Wolfsaugen, die eben noch panisch die Schatten durchbohrt hatten, weiteten sich.
Was... was ist das? Diese Musik... sie tut nicht weh. Sie... beruhigt das Biest in mir.
Mitten auf der Lichtung, geformt aus dem tanzenden Licht, erschien eine Gestalt. Eine hochgewachsene Drow-Frau, deren Haut die Farbe von poliertem Obsidian hatte und deren knöchellanges Haar wie ein Wasserfall aus flüssigem Sternenlicht leuchtete. Sie war nackt, doch von einer Aura der Anmut und Stärke umhüllt, die jede Rüstung übertraf. In ihrer Hand hielt sie ein langes, schlankes Schwert, das nicht zu drohen, sondern zu singen schien. Sie tanzte. Es war kein wilder, kriegerischer Tanz, sondern eine fließende Bewegung voller Sehnsucht und stiller Freude.

Die Vision sprach nicht mit Worten, sondern mit Bildern, die sich in Alniiras Geist entfalteten, klarer als jede Erinnerung:

Sie sah ihre eigene Schmiede, doch das Feuer in der Esse brannte nicht mit oranger Hitze, sondern mit einem kühlen, weißen Licht. Auf dem Amboss lag kein grobes Eisen, sondern ein Barren aus einem dunklen Metall, das von innen heraus mit dem Licht gefangener Sterne zu glühen schien. Sie sah ihre eigenen Hände – ihre Drow-Hände, nicht die Klauen eines Wolfes – wie sie mit einem Hammer, der keinen Ton von sich gab, das Sterneneisen formten.
Meine Hände... ich kann immer noch erschaffen. Das Feuer... es verbrennt mich nicht. Es ist rein. Kann ich das sein? Kann ich wieder rein sein?
Es wurde kein Schwert des Krieges, sondern ein filigranes Kunstwerk, die Ranke einer Blume, die sich um eine Klinge wand.

Das Bild wechselte. Sie sah den Waldelfen. Er lag nicht blutend am Boden, sondern saß an der Wurzel einer alten Eiche. Ein einzelner, sanfter Strahl Mondlicht fiel auf seinen Arm, und als das Licht verblasste, war die Bisswunde verschwunden. Die Haut dort war heil und makellos. Sein Gesicht zeigte keine Angst mehr, sondern staunende Ehrfurcht.
Geheilt... sie hat ihn geheilt. Die Wunde, die ich geschlagen habe, ist fort. Es gibt also... Vergebung? Selbst für das, was ich getan habe?
Zuletzt sah sie sich selbst in ihrer Wolfsgestalt, wie sie nun auf der Lichtung stand. Die tanzende Gestalt kam langsam auf sie zu. Sie streckte eine Hand aus, nicht um zu zähmen oder zu befehlen, sondern in einer Geste reiner Akzeptanz. Der Wolf in der Vision legte seinen Kopf an ihre Beine, und ein Gefühl von unermesslichem Frieden, einer Vergebung, die sie sich selbst nicht zugestehen konnte, durchströmte Alniira.

So schnell wie sie begonnen hatte, verblasste die Vision. Die Musik verklang und ließ nur das Zirpen der Grillen zurück. Die leuchtende Gestalt löste sich wieder in das normale, kühle Mondlicht auf.

Alniira stand zitternd auf der Lichtung. Die panische Flucht war aus ihrem Körper gewichen. Zurück blieb ein tiefes, schmerzhaftes und doch wunderschönes Gefühl der Hoffnung.
Ich bin immer noch verflucht. Ich bin immer noch beides – Drow und Wolf. Aber... vielleicht bin ich kein Monster. Vielleicht... vielleicht werde ich beobachtet. Und vielleicht bin ich nicht allein.
Sie blieb noch lange stehen, die kühle Nachtluft füllte ihre Lungen, die sich anfühlten, als hätten sie zum ersten Mal seit Tagen wirklich Sauerstoff bekommen. Der Wolf in ihr war still, nicht unterdrückt, sondern ruhig. Lauschend.
Wer war das? Keine Göttin, die ich kenne. Lolths Berührung ist wie das Gift einer Spinne – brennend, fordernd, voller Schmerz und Verrat. Das hier... das war wie ein kühler Trunk Wasser nach einem Tag in der Esse. Es war Frieden.
Sie hob den Kopf und blickte durch die Blätterkronen zum Mond hinauf. Die Sterne schienen heller als je zuvor, wie Diamantsplitter auf schwarzem Samt, nicht nur kalte, ferne Lichter.
Eine Drow unter dem Mond. Eine Tänzerin, keine Intrigantin. Eine Heilerin, keine Mörderin. Man hat uns im Unterreich nie von so jemandem erzählt. Solche Geschichten wären Ketzerei gewesen, ein Todesurteil.
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Ein neuer Gedanke, so fremd und doch so stark, schlug Wurzeln in ihrem Herzen. Es war nicht mehr nur Flucht, die sie antrieb. Es war eine Frage. Eine Suche.
Sie hat mir gezeigt, was ich sein könnte. Eine Schmiedin. Eine Schöpferin der Schönheit. Sie hat mir gezeigt, dass diese Wolfsgestalt nicht nur ein Fluch sein muss. Was will sie von mir? Oder... was will sie mir anbieten?
Langsam, nicht mehr getrieben von Panik, sondern von einer neuen, unsicheren Entschlossenheit, setzte Alniira eine Pfote vor die andere und verließ die Lichtung. Sie wusste nicht, wohin sie ging, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte es sich nicht mehr wie eine Flucht an, sondern wie der Beginn einer Reise.

Ihre Wolfsnase zuckte, nahm Witterung auf. Nicht nach Beute, nicht nach Feinden. Sie suchte nach einer Spur, die sie zurückführte. Zurück zu ihrer Schande.
War es echt? Oder war es nur der Wahnsinn, der mit diesem Fluch einhergeht? Eine Einbildung meines fiebrigen Verstandes, geboren aus Schuld und Verzweiflung? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.
Die Entscheidung war ein schwerer Stein, der ihr in den Magen sank, und doch gab er ihr Halt. Sie musste zurück zu dem Ort, an dem sie den Waldelfen angegriffen hatte. Sie musste sehen, ob die Vision der Wahrheit entsprach. Die in ihr verwurzelte Drow-Vorsicht schrie, es sei eine Falle. Eine subtilere Manipulation, als Lolth sie je anwenden würde. Ein Köder aus Hoffnung, der sie ins Verderben locken sollte.
Lolth schenkt Macht für Gehorsam und Schmerz. Diese... Tänzerin... hat nichts gefordert. Sie hat nur gegeben. Heilung. Vergebung. Das ist kein Geschäft, das ich kenne. Und was ich nicht kenne, dem misstraue ich zutiefst.
Trotz des Misstrauens war die Sehnsucht stärker. Die Sehnsucht danach, dass es wahr sein möge. Dass der Elf lebte und heil war. Dass sie nicht unwiderruflich eine Mörderin war. Pfote für Pfote folgte sie der schwachen, verblassenden Spur seines und ihres eigenen Geruchs. Der Wald atmete nun mit ihr. Wo vorher nur bedrohliche Dunkelheit war, sah sie jetzt die filigranen Silhouetten der Farne, die sich wie schwarze Spitze vom moosigen Boden abhoben. Silberne Fäden des Mondlichts woben Muster auf die Stämme uralter Eichen und Kiefern, und der Duft von feuchter Erde, Harz und den nächtlichen Blüten des Waldes war nicht mehr der Gestank von Verfall, sondern das Parfüm des Lebens.

Schließlich erreichte sie die Stelle. Ein dichter Busch, dessen Blätter im Mondlicht fast schwarz wirkten, bot ihr Deckung. Ihr Herz hämmerte nun nicht mehr aus panischer Angst, sondern aus einer nervösen, schmerzhaften Erwartung. Jeder Muskel ihres Wolfskörpers war angespannt. Sie konnte das Blut riechen, das hier vergossen worden war. Es war ein schwacher, rostiger Geruch, fast vom Tau der Nacht weggewaschen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, schob sie ihren Kopf durch das feuchte Laub und spähte.

Re: Loup Garou

Verfasst: 06 Jul 2025, 12:50
von Rianon
Rianon lag auf seinem Lager, das fahle Licht des Mondes schien durch eine Schießscharte über die schlichten, aber sauberen Holzmöbel seines Quartiers. Der Schmerz in seinem Arm war zu einem dumpfen Pochen verblasst, überlagert vom gleichmäßigen Fluss seiner Atmung. Die Meditation senkte sich wie Nebel über seinen Geist – beruhigend, hüllend, erdend. Doch in dieser Trance öffnete sich etwas. Etwas Tieferes.
Er fand sich inmitten eines smaragdgrünen Hains wieder, wo das Licht in unnatürlich lebendigen Farben zwischen den Ästen tanzte. Das Moos unter seinen nackten Füßen war weich wie Samt, und die Luft schmeckte nach Regen und Frühling. Ein Zetern durchbrach die Idylle. Ein schrilles, aufgeregtes Pfeifen – gefolgt vom knurrenden, kehligem Bellen eines kleinen Raubtiers. Rianon trat vorsichtig durch das Dickicht, bis er auf eine kleine Lichtung trat. In einem übergroßen Nest – ein Geflecht aus goldenen Zweigen und silbrigen Blättern – saßen zwei Gestalten: ein Adlerküken mit scharfem Schnabel, der vor Empörung bebte, und ein kleiner Wolfswelpe mit buschigem Schweif, der mit jedem Schnaufer den Boden mit den Pfoten scharrte. Sie stritten. Laut. Wild. Aber nicht mit Klauen oder Zähnen – sondern mit Worten. „Du verstehst die Lüfte nicht!“ rief das Küken entrüstet. „Du bist immer so... bodenständig!“ „Und du verstehst die Erde nicht!“ fauchte der Welpe. „Deine Ideen fliegen zu hoch! Wer soll denen folgen?“
Rianon blinzelte irritiert. Noch bevor er einen Schritt näher treten konnte, regte sich neben ihm ein vertrauter Flügelschlag. Der Ahnengeist des Adlers erschien mit ausgebreiteten Schwingen, sein Licht golden, seine Stimme wie das Wispern des Windes durch hohe Gipfel. „Dies...“ sagte der Adler und nickte leicht in Richtung des zankenden Duos, „ist ein Problem.“ Rianon warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was soll ich tun? Wie löst man das?“ Der Adler sah ihn an, die leuchtenden Augen ein Mysterium aus uraltem Wissen – und augenscheinlich einem Mangel an praktischer Lösung. „Du wirst es herausfinden müssen, Küken.“ „Danke für nichts“, murmelte Rianon trocken. Der Adler schien kurz zu lächeln. Dann breitete er majestätisch die Flügel aus und hob sich in den Himmel, hinterließ nur einen Regen aus Lichtfunken, der langsam verglomm.
Rianon stand alleine vor dem Nest. Die beiden Jungtiere hatten aufgehört zu streiten und sahen ihn an. Erwartungsvoll. Herausfordernd. Unversöhnt. Doch was Rianon nicht bemerkte war, dass in der Realität nicht die Kräuter seine Wunde heilten, sondern ein Mondstrahl, der durch eine der Schießscharten nun auf seinen Arm fiel.

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Re: Loup Garou

Verfasst: 06 Jul 2025, 23:47
von Rianon
„Bei den Ahnen... Ich werde niemals Vater werden“, murmelte Rianon und rieb sich mit zwei Fingern die Schläfe. „Ein solches Chaos kann man doch niemandem zumuten.“ Das Adlerküken, goldene Daunen wild abstehend, fauchte krächzend: „Er hat MEINEN Ast zerkratzt! Ich hatte ihn zuerst!“ „Weil DU ständig mit deinen spitzen Krallen überall rumstocherst!“, konterte der kleine Wolfswelpe, der mehr Fell als Beine zu sein schien. Seine Stimme klang wie ein gequältes Heulen, „Du hast mein Moos-Nest plattgetreten! Und das war wichtig, das war mein Schlafplatz!“ „Dein Schlafplatz? Das war mein Aussichtsplatz, Haarball!“ „Besser Haarball als Federhirn!“
Beide drehten sich nun gleichzeitig zu Rianon, mit identischen erwartungsvollen Blicken – der eine mit weit aufgerissenen, bernsteinfarbenen Augen, die andere mit glitzernden Raubtieraugen, die jedoch fast hilflos wirkten. „Sag du’s ihm, Rianon!“ „Nein, sag DU ihm, dass er mich endlich in Ruhe lassen soll!“ „Er hat angefangen!“ „Nein, er hat angefangen!“ Rianon starrte die beiden an. Erst auf den einen. Dann auf den anderen. Dann schloss er kurz die Augen, atmete tief durch und setzte ein bemüht pädagogisches Lächeln auf. „Ihr... ähm... ihr seid beide sehr... leidenschaftlich.“ „Was soll das denn heißen?!“, riefen beide gleichzeitig – wieder empört, wieder in völliger Uneinigkeit. Und wieder buhlten sie in einem wilden Durcheinander um seine Aufmerksamkeit. Das Küken flatterte unbeholfen mit den Flügelstummeln, das Fellknäuel sprang auf und versuchte, auf Rianons Stiefel zu klettern. Beide wollten offenbar gehört werden – und beide sprachen in genau demselben Moment und unterbrachen sich ununterbrochen. „Hört auf!“, rief Rianon schließlich und hob beide Hände. Die Tiere hielten inne. Kurz. Für einen Atemzug. Dann zankten sie sich wieder.

Rianon stand lange reglos neben dem Nest, während vor ihm das tiergewordene Desaster seinen Lauf nahm. Das Adlerküken und der Wolfswelpe lagen sich mittlerweile nicht nur in den Haaren – beziehungsweise im Gefieder – sondern auch mitten in einer lautstarken Diskussion über so essenzielle Themen wie wer beim letzten Mal zuerst aufgewacht sei, wer den besseren Ausblick ausgesucht hätte und wessen Geräusch beim Schlafen nerviger war. Rianon starrte die beiden an, seine Geduld hing an einem seidenen Faden. „Genug!“, sagte er schließlich, mit einer Stimme, die nicht laut war, aber eine Art stiller Autorität trug. Er ließ sich im Schneidersitz vor dem Nest nieder, sodass er auf Augenhöhe mit den beiden war. Beide verstummten – irritiert, dass ihre Tiraden unterbrochen wurden. „Ihr wollt beide gehört werden. Und keiner hört dem anderen zu.“ Das Küken sträubte die Daunen. Der Welpe legte die Ohren an. „Ich verstehe, dass ihr euch ärgert“, sagte Rianon weiter und hielt ihre Blicke ruhig. „Aber es gibt einen Grund, warum ihr beide hier seid. Und ich auch. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist.“ Der Welpe schnaubte. „Ich habe zuerst gerochen, dass du kommst.“ „Ich habe ihn zuerst gesehen“, konterte das Küken prompt. „Und ich...“, sagte Rianon, „... habe euch beide zuerst gehört. Weil ihr streitet, statt zu verstehen.“ Er beugte sich näher zum Nest. „Seht euch an. Ihr seid verschieden. Krallen und Zähne. Flügel und Pfoten. Luft und Erde. Und trotzdem – seid ihr im selben Nest.“ Beide Tiere sahen sich an, dann wieder zu ihm. Der Welpe senkte leicht den Blick. Das Küken ließ den Schnabel einen Spalt weit geöffnet – sprach aber nicht. „Vielleicht...“, sagte Rianon und sprach nun leiser, fast mehr zu sich selbst, „... geht es nicht darum, wer Recht hat. Vielleicht geht es darum, herauszufinden, wie ihr miteinander leben könnt. Ohne euch ständig zu zerfleischen.“ Der Welpe seufzte. Das Küken plusterte sich noch einmal auf, ließ dann aber die Federn wieder sinken. „Ich will trotzdem nicht neben ihm schlafen“, murmelte es. „Ich schnarche nicht, du bildest dir das ein!“, knurrte der Welpe – aber die Schärfe war raus. Rianon musste lächeln. Nur kurz. „Vielleicht beginnt alles mit einem einfachen Kompromiss“, sagte er ruhig. Dann stand er auf, strich sich das Moos von den Knien und sah zum Himmel, der sich über dem Hain wölbte wie ein grüner Dom.
Die beiden Tiere starrten ihm nach – etwas ruhiger, aber noch nicht friedlich. „Ich komme wieder“, sagte Rianon. „Aber wenn ihr bis dahin nicht wenigstens versucht, euch zuzuhören... dann bringe ich beim nächsten Mal noch ein Tier mit.“ Das Küken kicherte. Der Welpe wedelte leicht mit dem Schweif. Und Rianon wachte langsam aus seiner Trance auf – mit dem Gefühl, dass der Weg zur Antwort keine Frage der Stärke war, sondern eine der Geduld.

Re: Loup Garou

Verfasst: 08 Jul 2025, 00:02
von Rianon
Rianon zuckte aus der Trance, als wäre er aus einem tiefen, warmen Wasser an die kalte Oberfläche getrieben worden. Die Welt war dumpf, seine Glieder schwer. Der Duft nach brennendem Salbei und Fichtenharz hing noch in der Luft, vermischt mit dem metallischen Beigeschmack von Blut, der immer noch aus seinem verbundenen Arm aufstieg. Er blinzelte. Wie lange war er fort gewesen? Dann – ein Geräusch. Ein leises Schlabbern. Wasser, das von einer rauen Zunge geschlürft wurde. Sofort waren seine Sinne geschärft. Er taumelte zum Fenster, zog sich hoch an der kalten Steinmauer und blickte durch die schmale Schießscharte nach draußen. Dort, im bleichen Licht der frühen Nacht, stand er wieder. Der große Wolf. Das raue Fell glänzte feucht vom Brunnenwasser, das in Tropfen von seiner Schnauze tropfte. Rianon spürte einen Knoten in seinem Magen. Doch dieses Mal war etwas anders. Kein panischer Herzschlag, kein Fluchtreflex. Nur ein leiser Gedanke: „Dieses Mal mache ich es besser.“
Er schnappte sich seinen Mantel, taumelte kurz – ein Stechen in seiner Seite erinnerte ihn an die Wunde – und verließ eilig das Zimmer. In der Küche griff er instinktiv nach einem gerupften Huhn, das jemand für die Abendmahlzeit vorbereitet hatte. Ohne zu zögern, riss er es an sich und lief hinaus in den Hof. Der Wolf stand noch dort. Als Rianon sich näherte, hob er den Kopf – ein tiefes Grollen vibrierte aus seiner Brust. Doch Rianon hob beschwichtigend die Hände und ließ das Huhn langsam zu Boden gleiten, ein paar Schritte vor dem Tier. „Ich weiß, du willst mir nichts tun“, murmelte er. Der Wolf schnupperte. Ein leiser Laut, fast wie ein resigniertes Seufzen, ging durch sein Fell. Dann trat er vor, nahm das Huhn zwischen die Zähne und verschlang es in wenigen, gierigen Bissen.
Dann passierte etwas Seltsames. Der Wolf blickte ihn an. Nicht aggressiv. Nicht ängstlich. Sondern... mit Mitleid. Tiefer, aufrichtiger Traurigkeit. Bevor Rianon etwas sagen konnte, wandte sich das Tier ab und trottete hinter einen Baum. Dann: Knacken. Reißen. Ein ekelerregendes Geräusch von sich drehenden Gelenken und reißender Haut. Rianon wich unwillkürlich zurück, sein Herz raste – aber er zwang sich, stehen zu bleiben. Und dann trat sie hervor.
Die Drow. Blass, vom Mondlicht umspielt. Nackt bis auf einen grob zusammengezogenen Mantel. Ihre Augen trafen seine. „Du hast mich nicht angegriffen“, sagte sie leise. „Nicht geschrien. Bist nicht fortgelaufen.“ „Ich... Es tut mir leid“, sagte sie schließlich. „Für den Biss. Für die Nacht. Für alles. Ich war nicht mehr ich.“ Rianon zeigte auf die Bank neben dem Brunnen. Sie nickte, langsam, und beide setzten sich schweigend. Der Brunnen plätscherte, ein Käuzchen rief in der Ferne. Die beiden saßen eine Zeit still nebeneinander. Zwischen ihnen lag die Stille von zwei Wesen, die zu viel erlebt hatten, um Worte leichtfertig zu verschwenden.
Rianon brach schließlich das Schweigen: „Also... war das dein Plan?“ fragte er mit einem schmalen Lächeln. „Mich anzuspringen, mir beinahe den Arm zu zerreißen und dann einfach wieder herzukommen, als wäre nichts gewesen?“ Ein angespannter Atemzug entwich ihr. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Das war... nicht ich. Oder zumindest nicht der Teil von mir, den ich im Griff habe.“ „Ich weiß“, sagte er ruhig. „Deshalb bin ich nicht geflohen.“ Sie drehte leicht den Kopf zu ihm, betrachtete sein Profil. „Du hättest es tun sollen. Andere hätten es getan.“ Rianon zuckte mit den Schultern. „Andere sehen nicht, was ich sehe.“ Alniiras Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Und was siehst du?“ Er drehte sich langsam zu ihr. „Jemanden, der kämpfen will. Gegen das, was in ihr tobt. Gegen das, was ihr angetan wurde.“ Sie sah für einen Moment verletzt aus. Nicht wegen seiner Worte, sondern weil sie wahr waren. „Ich war allein“, murmelte sie. „Nach dem Biss. Niemand hat mir gesagt, was passiert. Was ich werde. Nur Schmerz. Und Angst.“ Rianon sah zu ihr hinüber. Ihre Finger spielten nervös mit dem Saum des Umhangs um ihre Schultern. „Du warst nicht allein, als ich dich gefunden habe.“ Ein schwaches Lächeln zuckte über ihre Lippen. „Du und dein Kräutersud.“ „Hey, der war wirksam.“ „Er hat geschmeckt wie Baumrinde.“ „Das war Baumrinde.“ Ein kurzes, überraschtes Lachen entwich ihr. Zum ersten Mal wich das Misstrauen aus ihren Augen, und etwas anderes trat hervor – Erleichterung. Vielleicht sogar Dankbarkeit.
„Warum hast du mich nicht einfach dort gelassen?“ fragte sie nach einer Weile leise. „Weil ich es nicht konnte“, antwortete Rianon schlicht. „Und... weil du mir bekannt vorkamst. Nicht dein Gesicht – das kam später. Aber da war etwas. In deinen Augen.“ Sie sah ihn lange an. Dann senkte sie den Blick. „Ich habe dich gebissen“, sagte sie schließlich. Stille. „Ja“, sagte Rianon, ruhig. „Es tut mir leid. Ich... ich hatte keine Kontrolle mehr. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich wusste nicht, dass du es warst. Ich habe nur Angst gehabt. Ich habe...“ „Hey.“ Seine Stimme war weich. „Ich lebe. Und ich weiß, dass es nicht deine Schuld war. Schau, mein Arm ist schon wieder wie Neu!“ Sie schluckte. Ihre Stimme zitterte. „Aber du bist vielleicht... infiziert. Ist das das richtige Wort? Ich weiß nicht, wie man es nennt.“ Er sah sie an. „Was meinst du?“ Langsam hob sie den Blick. Kein Zurück mehr. „Ich bin ein Werwolf. Und mein Biss überträgt das, was ich bin.“ Ein eisiger Windhauch fuhr ihm über den Rücken. Die Worte sackten langsam in ihn ein, wie schwere Steine in klares Wasser. Er sah sie an. „Und... was heißt das?“ „Wenn du es hast, wird es sich beim nächsten Vollmond zeigen. Du wirst es spüren. Dein Körper... dein Geist... alles wird sich verändern. Und du wirst kämpfen müssen, wie ich.“ Rianon schluckte schwer. Ein langer Moment des Schweigens.
Dann fragte er nur: „Tut es weh?“ Sie zögerte. Dann nickte sie. „Ja. Vor allem beim ersten Mal. Aber auch danach... manchmal...“ Er atmete tief durch. Dann sagte er, leise aber fest: „Kannst du dabei sein...wenn es so weit ist.“ Sie blickte ihn überrascht an. „Du willst, dass ich dir helfe?“ „Ja...bittte...ja“, erwiderte er. „Du weißt, wie es ist. Du hast es überlebt. Und du bist hier. Das reicht.“ Ihre Augen glänzten im Mondlicht. Und dann, leise: „Danke.“ Er reichte ihr die Hand. „Rianon.“ Zögernd legte sie ihre in seine. „Alniira.“ Ein letzter Blick – dann trat sie auf, zog das Fell fester um sich, trat hinter den Baum. Wieder dieses Knacken, das Fleischverziehen, der Wechsel von Gestalt. Der Wolf sah ihn ein letztes Mal an – sanft diesmal – und verschwand zwischen den Bäumen.
Rianon blieb zurück. Mit einem Namen. Mit einer Wahrheit. Und mit einem kommenden Wandel, der sein Leben für immer verändern würde. Ein Frösteln lief ihm über den Rücken, und er ging langsam, nachdenklich zurück in die Festung.

Der Vollmond kam näher.

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Re: Loup Garou

Verfasst: 09 Jul 2025, 00:01
von Rianon
Die Nacht hatte sich still über die Festung gelegt, doch Rianon fand keinen Schlaf. Etwas stimmte nicht. Er erwachte schlagartig – seine Kleidung klebte schweißnass an seiner Haut, seine Glieder zitterten, und seine Stirn glühte wie Feuer. Ein scharfer Schmerz bohrte sich durch seinen Rücken bis in die Fingerspitzen. Der Raum um ihn schien sich zu wölben, zu verschieben. Das Atmen fiel ihm schwer, als würde die Luft dicker werden, schwer wie Sirup. „Nicht gut…“ murmelte er heiser. Seine Hand tastete sich zum Krug Wasser auf dem Nachttisch, doch selbst das Zittern seiner Finger fühlte sich fremd an – zu kräftig. Zu ruckartig. Ein Gefühl, als wären seine Sehnen zu straff gespannt. Ein kehliges Grollen vibrierte in seiner Brust, ohne dass er es bewusst ausgelöst hätte. Panik packte ihn. „Alniira… sie weiß, was das ist… sie weiß, was jetzt passiert…“
Rianon schleppte sich auf wackligen Beinen durch die Festung. Niemand war zu sehen. Nur das dumpfe Rauschen des Bluts in seinen Ohren und das Echo seiner taumelnden Schritte in den Gängen. Der Wind draußen schlug gegen die Fensterläden, als würde er ihn rufen. Oder warnen. Er riss die Tür zur Festung auf und stürmte hinaus in die kalte Nacht. Der Himmel war wolkenverhangen, der Mond nur eine matte Scheibe hinter dünnem Dunst. Jeder Atemzug brannte in seiner Kehle. Doch er rannte. In den Wald. Weg von den Mauern, weg von der Zivilisation. Rein in das Wilde.
Der Wald nahm ihn auf wie einen verlorenen Sohn. Doch bald wurde der vertraute Wald fremd. Die Dunkelheit schloss sich um ihn wie ein Maul. Rianon rannte, obwohl seine Beine längst zu Gummi geworden waren. Der Wald, sein einstiger Zufluchtsort, verwandelte sich um ihn herum in eine Landschaft aus Schatten, Grollen und geiferndem Wahnsinn. Bäume krümmten sich wie Glieder, ihre Äste reckten sich ihm entgegen wie Finger. Der Boden pulsierte unter seinen Füßen – zu weich, zu nass.
Dann: ein schmatzendes, reißendes Geräusch. Er blieb stehen, keuchend, und wagte einen Blick durch das Unterholz. Dort… ein Rudel Wölfe. Oder das, was davon übrig war. Ihre Leiber waren grotesk verdreht – viel zu lang, mit zerfetzten Flanken und aufgerissenen Mäulern, in denen Zähne wie Klingen steckten. Sie hockten um einen leblosen Elfenkörper, blutverschmiert. Ein Gesicht, das seinem glich. „Nein…“ Einer der Wölfe hob den Kopf. Blut tropfte von seiner Schnauze, während er Rianon direkt in die Augen sah. „Du bist wir“, zischte es durch geborstene Kehlen, „komm zu uns.“ Rianon taumelte rückwärts. Ein Ast knickte unter seinem Fuß. Die Bestien verschwanden nicht – sie verpufften zu Rauch, zu schwarzem Nebel, der sich windend auf ihn zuschlängelte, in seine Nase, in seinen Mund. Er würgte. Spürte etwas in sich wachsen. Krallen, die seine Rippen von innen entlangschabten. Dann: Kinderlachen. Er blickte auf und sah drei Elfenkinder zwischen den Bäumen. Sie spielten Fang. Doch ihr Spielpartner war kein Kind – es war ein Wolf. Oder etwas, das so tat als wäre es einer. Mit einer Haut, die ihm nicht gehörte, zu groß, zu blutig, als wäre sie ihm frisch übergezogen worden. Ein Kind stolperte. Der Wolf sprang. Rianon schrie, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Nur ein Knurren. Er hob die Hände, wollte wehren – doch statt Fingern wuchsen Klauen aus seinen Handflächen. „Nicht ich… bitte, nicht ich…“ Die Welt drehte sich. Um ihn, in ihm. Die Klauen verpufften. Überall im Wald knisterte es nun. Wie Feuer, aber ohne Flammen. Er sah Licht zwischen den Bäumen – es war ein Leuchten, wie glühende Augen, Tausende davon. Und aus jeder Richtung kam das Geräusch von Fleisch, das zerrissen wurde, von Knochen, die brachen, von Stimmen, die stöhnten, kreischten, beteten. Dann sah er sich selbst. Nicht wie zuvor – nicht verzerrt. Sondern ganz. Nackt. Blutverschmiert. Im Maul ein Arm. „Du kannst es nicht aufhalten.“
Rianon stürzte vorwärts, fiel durch eine Baumwurzel, rollte den Hang hinab, schlug hart auf. Und da war wieder das Gesicht. Die Drow...Alniira? Ihre Augen leuchteten wie zwei silberne Monde. Ihre Hand berührte seine Stirn, während um sie herum die Schatten zu wispern begannen. Er zitterte, röchelte. „Hilf mir…“ Ihre Stimme war fern, fast schon ein Lied. „Du bist nicht allein.“ Dann verlor er endgültig das Bewusstsein.

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Re: Loup Garou

Verfasst: 09 Jul 2025, 08:11
von gelöschter Charakter_546
Die Festung lag wie ein schlafender, steinerner Riese in der Dunkelheit.
Von einem Hügel aus, verborgen im Schatten einer alten Kiefer, beobachtete Alniira das einzige Fenster, aus dem ein schwacher Lichtschein drang.
In ihrer Wolfsgestalt war sie eins mit der Nacht, ihre Sinne gespannt, jeder Nerv auf die ferne Präsenz des Waldelfen in den Mauern unter ihr ausgerichtet.

Er ist dort drin. Allein. Verletzt. Wegen mir. Ein Rudel lässt die Seinen nicht zurück. Aber... sind wir ein Rudel? Oder bin ich nur eine Wölfin, die ihre Schuld bewacht?
Sie verstand dieses Gefühl nicht.

Es war ein ziehender, schützender Instinkt, der nichts mit der kalten Logik oder den eigennützigen Bündnissen zu tun hatte, die sie aus dem Unterreich kannte.
Es war einfach da. Eine unumstößliche Tatsache in ihrem neuen, zerrissenen Leben.

Plötzlich wurde die Tür der Festung aufgerissen und eine Gestalt stolperte hinaus. Rianon.
Selbst aus der Ferne konnte sie das Fieber sehen, das ihn schüttelte, die unkoordinierten Bewegungen eines Geistes, der von seinem eigenen Körper gefangen gehalten wurde.
Er rannte. Nicht weg von ihr, sondern blindlings, getrieben von seinen Dämonen, direkt in die Dunkelheit des Waldes.
Sie folgte ihm mühelos. Sein Geruch – eine Mischung aus Schweiß, Angst und dieser seltsamen, erdigen Magie, die ihm anhaftete – war eine leuchtende Fährte in der Nacht.
Sie hielt Abstand, eine graue Jägerin, die ihre verletzte, verwirrte Beute nicht aus den Augen ließ.
Er stolperte durchs Unterholz, sprach mit Phantomen, wehrte unsichtbare Angriffe ab.
Schließlich, an einem kleinen Hang, versagten seine Beine endgültig.
Er stürzte, rollte ein kurzes Stück und blieb reglos liegen.

Alniira war sofort bei ihm. Sie stieß ihn sanft mit der Nase an.
Er reagierte nicht, sein Atem ging flach und rasselnd. Panik stieg in ihr auf, kalt und scharf.

Was jetzt? Ich kann nicht schmieden, um ihn zu heilen. Ich kenne keine Kräuter, keine Salben. Ich kann nur jagen und kämpfen.

Sie winselte leise, eine Mischung aus Frustration und Verzweiflung. Sie lief im Kreis um ihn herum, ihre Pfoten scharrten auf dem Waldboden.
Und in diesem Moment der absoluten Hilflosigkeit tauchte die Erinnerung wieder auf. Die Lichtung. Das Mondlicht. Die tanzende Gestalt. Die Musik.

Die Melodie... sie hat den Wolf in mir beruhigt. Vielleicht... vielleicht kann sie auch das Fieber in ihm besänftigen.

Es war ein Strohhalm, aber es war der einzige, den sie hatte. Sie legte sich neben Rianon, schloss die Augen und konzentrierte sich.
Aus ihrer Kehle kam zuerst nur ein leises, unsicheres Brummen, dann formte es sich zu dem wehmütigen, hoffnungsvollen Lied, das sie in ihrer Vision gehört hatte.
Sie heulte es in die stille Nacht, eine einsame Wolfsmelodie für einen sterbenden Elfen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Doch dann, kaum wahrnehmbar, mischte sich ein anderer Ton in ihre Melodie. Ein hoher, klarer Klang. Eine Flöte. Alniira riss die Augen auf.
Die Welt um sie herum hatte sich verändert. Sie befanden sich auf einer Lichtung, die in das intensivste, silbrigste Mondlicht getaucht war, das sie je gesehen hatte.
Und vor ihnen stand sie. Die namenlose Dunkelelfe.

Sie begann zu tanzen. Es war ein Tanz, der Worte überflüssig machte.
Ihre Füße berührten kaum den Boden, wirbelten in Schritten, die mal die Anmut einer fallenden Blüte, mal die explosive Kraft eines zuckenden Blitzes hatten.
Ihr langes, silbernes Haar zog Schleier durch die Luft. In ihrer Hand sang das Bastardschwert.

Es war kein wildes Gemetzel. Jeder Hieb, jeder Stoß war von vollendeter Präzision, aber er diente nicht dem Töten.
Wenn die Klinge durch die Luft schnitt, hinterließ sie eine leuchtende Spur. Unzählige winzige Splitter aus reinem Mondlicht lösten sich von dem Stahl.
Sie blieben in der Luft hängen, nicht wie Funken, die verglühen, sondern wie lebendige Wesen. Sie tanzten.

Die Tänzerin wirbelte, und das Schwert zog einen Bogen über ihren Kopf.
Die Mondsplitter folgten ihm und bildeten für einen Moment ein leuchtendes Diadem, bevor sie sich auflösten.
Sie stieß vor, und die Splitter schossen wie ein Schweif von der Klingenspitze.
Sie parierte einen unsichtbaren Feind, und die Lichtpartikel explodierten in einer schimmernden Nova, die sanft zu Boden regnete.

Der Tanz wurde schneller. Er erzählte eine Geschichte von Trauer und Verlust, von Wut und Kampf, aber vor allem von unbändiger Lebensfreude und einer tiefen, heilenden Hoffnung.
Mit einer letzten, fließenden Bewegung führte die Tänzerin ihr Schwert in einem perfekten Kreis um sich herum.
Der Wirbel aus Mondsplittern, den sie erschaffen hatte, löste sich nicht auf. Stattdessen schwebte er langsam, wie ein sanfter, glitzernder Regen, auf den bewusstlosen Körper von Rianon herab.

Wo die Lichtpartikel seine Haut berührten, schien das Fieber zu weichen. Sein Körper entspannte sich, der gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht wurde friedlicher.

Alniira beobachtete das Schauspiel, ihr Wolfsherz schlug ruhig und voller Ehrfurcht.
Sie verstand nicht, was sie sah. Aber sie verstand, dass dies eine Macht war, die weit über das hinausging, was sie kannte.
Es war keine dunkle Magie, keine göttliche Wut. Es war Schöpfung. Es war Heilung. Es war ein Tanz am Rande der Nacht.

Der sanfte Regen aus Mondsplittern versickerte in Rianons reglosem Körper, und das Fieber schien mit ihm zu weichen, einer tiefen, ruhigen Bewusstlosigkeit Platz zu machen.
Alniira, immer noch in ihrer Wolfsgestalt, starrte auf das Wunder, das sich vor ihr vollzogen hatte. Die tanzende Drow stand nun still, ihr Schwert gesenkt, und blickte Alniira mit Augen an, die eine unendliche, sanfte Weisheit ausstrahlten.

Worte schienen in dieser surrealen Lichtung fehl am Platz.

Alniira versuchte es anders. Sie schloss die Augen und sandte ein Bild aus, eine rohe, emotionale Frage, direkt von ihrem Geist zu dem der Tänzerin.
Ein Bild blitzte auf: Ein riesiger, kranker Wolf, der seine Zähne in ihre Schulter schlägt.
Der brennende Schmerz, gefolgt von der Verwandlung – Knochen, die sich neu formen, das erste heulende Erwachen als Bestie.

Ein zweites Bild folgte:
Sie selbst, als Wolf, wie sie zum ersten Mal den vollen Mond über den Bäumen sah.
Ein Gefühl von unbändiger, wilder Kraft, das sie gleichzeitig erschreckte und mit einer seltsamen Lebendigkeit erfüllte.
Ihr Blick in der Vision wanderte vom Mond zur Tänzerin, eine stumme, verwirrte Frage formend.
Was ist das? Diese Verwandlung? Du... dein Tanz... dein Licht... es fühlt sich genauso an wie der Ruf des Mondes in meinen Adern. Bist du ein Teil davon?
Die Tänzerin lächelte nur, ein kaum wahrnehmbares Heben ihrer Mundwinkel.
Ihre Antwort war keine Erklärung, sondern eine Einladung, die Welt anders zu sehen.
Sie malte ihre Antwort in Alniiras Geist, eine Serie von Bildern, so schön wie ein Gedicht.

Das erste Bild ihrer Antwort:
Ein einzelner, majestätischer Wolf auf einem Felsvorsprung. Er ist nicht monströs, sondern eine Verkörperung von Wildheit und Freiheit.
Er wirft den Kopf zurück und sein Heulen ist kein Schrei des Schmerzes, sondern ein reines, klares Lied, das sich mit dem silbernen Licht des vollen Mondes über ihm zu vereinen scheint.

Das zweite Bild: Das Licht des Mondes teilt sich. Ein Strahl fällt auf den Wolf und lässt sein Fell wie frisch gefallenen Schnee leuchten.
Ein zweiter Strahl berührt einen kahlen, toten Baum neben ihm.
Augenblicklich sprießen Knospen aus dem toten Holz und erblühen zu silbernen, leuchtenden Blumen.

Das letzte Bild:
Die Tänzerin selbst. Sie tanzt unter demselben Mond, ihr silbernes Haar glüht im Einklang mit ihm.
Sie scheint das Licht nicht zu befehlen, sondern es in sich aufzunehmen, mit ihm zu atmen. Eine Symbiose, kein Akt der Herrschaft.

Alniira sah die Bilder, und obwohl sie keine klare Antwort gaben, füllten sie sie nicht mit Misstrauen, sondern mit einer tiefen, verwirrten Ehrfurcht.
Sie sagt nicht ja oder nein. Sie zeigt mir nur... Schönheit. Verbindung. Der Wolf, der Mond, das Leben... alles ist eins. Sie ist ein Teil davon. Und wenn sie ein Teil davon ist... bin ich es dann durch diesen Fluch jetzt auch? Ist das der Grund?
In ihren Augen war die Tänzerin keine Anklägerin und keine Richterin. Sie war ein Mysterium. Eine Verkörperung dieser neuen, wilden und wunderschönen Welt, in die sie geworfen worden war.

Die namenlose Drow ließ ihr Schwert mit einem leisen Zischen im moosigen Boden versinken und streckte eine offene Hand aus.
Eine Einladung, getragen von der sanften Melodie, die immer noch in der Luft lag.

Ein Wirbel aus Gefühlen tobte in Alniira. Die Angst vor dem Unbekannten, aber auch eine unbändige Neugier.
Die Sehnsucht, zu verstehen. Sie spürte, wie der Ruf des Tanzes, der Ruf dieser Geste, stärker war als ihre Furcht.

Sie erhob sich, und ihr Wolfskörper floss in einer Welle aus Schatten und Licht zurück in ihre Drow-Gestalt.
Die Verwandlung war nicht schmerzhaft wie sonst, sondern weich, fast mühelos, als würde die Melodie ihre Knochen an den richtigen Platz singen.
Nackt und von Mondlicht übergossen, trat sie vor und legte ihre Hand in die der Tänzerin.

Die Berührung war wie ein Stromschlag aus kühlem, lebendigem Licht.

Sie begannen zu tanzen. Zuerst waren Alniiras Schritte zögerlich, eine unsichere Nachahmung.
Doch bald wurde ihr Tanz zu ihrem eigenen. Es war kein Tanz des Kampfes, sondern ein Tanz der Fragen.
Jeder Schritt ein Ausdruck ihrer Verwirrung, jede Drehung eine Geste der Suche, jede ausgestreckte Hand eine Bitte um Verständnis.
Sie wirbelten über die Lichtung, zwei dunkle Gestalten, die eine aus reinem Licht gewoben, die andere aus Schatten und aufkeimender Hoffnung, vereint in einem stillen, harmonischen Dialog unter dem wachsamen Auge des Mondes.