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Alniiras Abendlied

Verfasst: 17 Jul 2025, 08:10
von gelöschter Charakter_546

Der Geruch von kaltem Stahl, dem scharfen Biss von Schleifstaub und dem allgegenwärtigen, süßlich-fauligen Spinnweihrauch hing schwer in den Korridoren des Quellar Ky'Alur. Es war eine olfaktorische Signatur der Unterdrückung, eine ständige, erstickende Erinnerung an die Herrschaft der Spinnengöttin. In Alniiras kleiner, fensterloser Kammer, die mehr einer Zelle als einem Raum glich, mischte sich dieser Gestank mit dem metallischen Beigeschmack von Angst und dem Ruß ihrer persönlichen Schmiede. Ein langer Tag unter den wachsamen, wertenden Augen der Priesterinnen Lolths lag hinter ihr. Ihre Hände, deren Schwielen von unzähligen Stunden am Amboss zeugten, zitterten nun unmerklich – eine Schwäche, die sie tagsüber mit eiserner Disziplin unterdrückt hatte. Unter der steinernen Fassade der gehorsamen Schmiedin brodelte ein Sturm aus aufgestauter Wut und Verzweiflung. Ein vertrautes Kribbeln unter der Haut, beginnend im Nacken und sich wie kaltes Feuer ausbreitend, kündigte das Erwachen einer anderen Natur an. Es war der Wolf, der an seinen inneren Ketten zerrte, hungrig nach dem fernen, unsichtbaren Mond.

Alniira hat geschrieben:Nur noch ein paar Stunden durchhalten. Atmen. Den Hammer spüren, nicht den Zorn. Nur nicht die Kontrolle verlieren. Nicht hier. Nicht jetzt.


Es war Zeit.

Sie zog den dunklen, schweren Umhang enger um sich, dessen Falten den Griff ihres Schwertes verbargen. Es war ihre eigene Schöpfung, geschmiedet in gestohlenen Nachtstunden, ein Langschwert aus massivem Blackrock. In die dunkle, matte Klinge, die das Licht zu schlucken schien, hatte sie heimlich die feinen, geschwungenen Runen Elistraees eingraviert – ein Akt des Glaubens, der in dieser Stadt einem Todesurteil gleichkam. Es war ihr Meisterstück und ihr größtes Geheimnis. Lautlos wie ein Geist glitt sie aus ihrer Kammer. Jeder Schatten in den verwinkelten Gängen von Elashinn war ein potenzielles Versteck, aber auch ein potenzieller Verräter. Ihr Weg führte sie nicht zu den belebten Plätzen, sondern zu einem geheimen, kaum genutzten Ausgang. Das Risiko, erwischt zu werden, war enorm, aber in der erstickenden Heiligkeit Lolths zu bleiben, war eine langsamere, aber ebenso sichere Art zu sterben. Lautlos schlüpfte sie hinaus in die wahre, kalte Dunkelheit der Nacht und ließ die Stadt hinter sich. Ihr Ziel war der Yew Wald, ein Ort, der von den meisten Drow als unheilvoll gemieden wurde.

Für sie war er eine Zuflucht.

Sie bewegte sich schnell und instinktiv durch das dichte Unterholz, bis sie die kleine, versteckte Lichtung erreichte. Hier, umgeben von den knorrigen, alten Yew Bäumen, deren Blätterdach das Mondlicht schluckten, war sie allein. Das Licht des Mondes fiel hier an der Lichtung, die sie erreichte, klar und unverfälscht durch die Äste und malte zitternde, geisterhafte Muster auf den feuchten, moosbewachsenen Boden. Dies war ihr Heiligtum. Ihr Kampfplatz.

Sie trat in die Mitte der Lichtung, zog das Blackrock-Schwert mit einem leisen Zischen aus der Scheide und atmete tief die kühle, saubere Waldluft ein, die ihre Lungen von dem Gestank der Stadt reinigte. Als die ersten silbernen Strahlen die Klinge berührten, erwachten die eingravierten Runen zum Leben und begannen mit einem sanften, silbernen Licht zu glühen, das sich auf ihrem ernsten Gesicht spiegelte.

Ihr Abendlied begann ohne ein Wort.

Zuerst waren ihre Bewegungen steif und kontrolliert. Sie führte das schwere Schwert in langsamen, präzisen Bögen durch die Luft, die einstudierten Formen einer Tänzerin, die ihre Kunst übt. Die glühenden Runen zogen leuchtende, elegante Bänder durch die Dunkelheit, eine visuelle Manifestation ihrer Disziplin, ein verzweifelter Versuch, die Ordnung zu wahren. Doch schnell brach die Fassade. Die Anmut wurde brüchig. Ihre Bewegungen wurden zu einem zornigen Stampfen auf dem weichen Waldboden, das Laub unter ihren Stiefeln aufwirbelnd. Die Melodie auf ihren Lippen war kein Summen, sondern ein gepresstes, zischendes Flehen, das sich durch ihre zusammengebissenen Zähne zwängte.

Alniira hat geschrieben:Dunkle Maid, sieh mich an. Gib mir die Kraft, dies zu ertragen, ohne zu zerbrechen.


Das wilde Blut des Wolfes explodierte in ihr. Der Tanz wurde zu einem gewalttätigen, verzweifelten Kampf. Die kontrollierten Formen zerfielen in einen chaotischen, brutalen Wirbel. Das Schwert war nicht länger ein Werkzeug der Disziplin, sondern eine Verlängerung ihrer unbändigen Wut. Sie hieb auf unsichtbare Feinde ein, die sie in den tanzenden Schatten der Bäume sah – die verächtlichen Gesichter der Priesterinnen, die grausamen Wachen, die sie selbst war. Die Klinge pfiff durch die Luft und die leuchtenden Runen malten aggressive, zackige Blitze in die Nacht. Sie drehte sich in rasenden Pirouetten, so schnell, dass das silberne Licht der Runen und ihr dunkler Umhang zu einem einzigen, verschwommenen Schatten verschmolzen. Es war kein Tanz mehr, sondern ein Anfall. In einem Moment der Selbstverachtung schlug sie mit der flachen Seite der Klinge gegen ihre eigenen gepanzerten Schienbeine, ein Akt der Selbstbestrafung, der einen lauten, metallischen Klirren und einen stechenden Schmerz verursachte, um den inneren Schmerz mit einem äußeren zu übertönen.

Alniira hat geschrieben:Nein! Ich lasse dich nicht gewinnen! Herrin, hilf mir!


Ihr Tanz war ein Krieg. Die disziplinierte Drow kämpfte mit einstudierten Paraden, die Klinge ein silberner Schutzschild, gegen die blinde Wut des Wolfes, die sich in unkontrollierten, brutalen Hieben äußerte, die ganze Büsche zerteilten. Ihre Sprünge waren unberechenbar, ihre Landungen hart und stolpernd, nur das schwere Gegengewicht des Schwertes bewahrte sie vor dem Fall. In diesem Moment war sie nicht Alniira, die Schmiedin. Sie war eine zerrissene Seele, die darum bettelte, nicht unterzugehen. Mit einem letzten, markerschütternden Schrei, der eher von einem Wolf als von einer Drow zu stammen schien, stieß sie das Langschwert mit der ganzen Kraft ihres Körpers bis zum Griff in die feuchte Erde der Lichtung. Das Glühen der Runen erlosch schlagartig, als wären sie von der Erde selbst erstickt worden.

Völlig erschöpft brach sie daneben zusammen, ihre Hände zitterten unkontrolliert von der Anstrengung, den Griff zu halten. Sie lag keuchend auf dem feuchten Moos, Schweiß und Tränen mischten sich auf ihrem Gesicht, den Blick auf die schmale Mondsichel gerichtet, während die Klinge neben ihr wie ein dunkler, stiller Grabstein aus der Erde ragte. Die Wut war nicht verschwunden, nur für den Moment gebannt, gefangen im kalten Stahl und der geduldigen Erde. An ihre Stelle trat keine Ruhe, sondern eine brüchige, angespannte Stille, in der jeder knackende Ast wie ein herannahender Feind klang. Ein Waffenstillstand, kein Frieden.

Sie hatte ihr Abendlied gekämpft. Sie hatte ihren Schmerz und ihren Zorn vor ihre Göttin geworfen und um Kraft gebettelt. Ob sie angenommen wurde, wusste sie nicht. Sie spürte nur die kühle Nachtluft auf ihrer erhitzten Haut und das schmerzhafte Pochen ihres eigenen Herzens. Mit letzter Kraft zog sie ihr Schwert aus dem Boden, reinigte die anhaftende Erde sorgfältig von der Klinge und begann den gefährlichen, langen Rückweg in die Finsternis von Elashinn, betend, dass sie ungesehen zurückkehren und die Kraft für den nächsten Tag haben würde.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 17 Jul 2025, 13:18
von gelöschter Charakter_546

Tag 2

Der Tag war eine Symphonie aus kaltem Wind, scharfkantigem Fels und nagender Furcht. Stundenlang hatte sie an der Oberwelt geschuftet, nahe des windgepeitschten Bergkamms östlich der Taverne. Ihre Muskeln brannten von der Arbeit mit der Spitzhacke, mit der sie seltene Adamant-Erze aus dem Fels brach. Später, als sie die Erze draußen einschmolz, brannte die fremde Sonne auf ihre dunkle Haut, eine unnatürliche Hitze, die nichts mit dem vertrauten Glühen einer Schmiede zu tun hatte. Der Wolf in ihr war eine gefolterte Bestie gewesen, gefesselt an die monotone, schwere Arbeit, während jeder Duft des nahen Waldes, jeder Ruf eines Vogels eine unerträgliche Verheißung von Freiheit war, die ihm verwehrt blieb.

Ihre Flucht in den Yew Wald war heute Abend fieberhafter, getrieben von neuen, quälenden Bildern, die sich in ihre Seele gebrannt hatten. Doch diese nächtlichen Ausflüge waren weit mehr als eine bloße Flucht vor den erstickenden Mauern Elashinns und den wachsamen Augen der Spinnenpriesterinnen. Sie waren eine Notwendigkeit. Sie waren ihr heiligstes Ritual, eine Form des Gebets, die so wild und ungezähmt war wie die Göttin, der sie diente.

Elistraee verlangte keine knienden, demütigen Beter in stillen Tempeln. Ihr Glaube wurde durch Leben ausgedrückt – durch die Schönheit einer Melodie, die Anmut einer Bewegung, die Harmonie eines geschaffenen Kunstwerks. Für Alniira, die in einer Welt aus Hass und Unterdrückung gefangen war, war ihr Tanz die einzige Sprache, in der sie ehrlich zu ihrer Göttin sprechen konnte. Jede Nacht war ihr Tanz ein neues Kapitel in ihrem getanzten Tagebuch, ein wortloses Geständnis der Ereignisse und Gefühle des Tages.

Aber der Tanz hatte noch einen zweiten, verzweifelten Zweck. Er war ein Dialog mit der Bestie, die in ihrem Blut lauerte.

In den stillen Stunden auf der Lichtung versuchte sie, mit dem Wolf in ihr zu kommunizieren. Anfangs war es ein reiner Kampf, ein Versuch, die blinde Wut und den unbändigen Hass, der mit der Verwandlung einherging, niederzuringen. Sie hatte versucht, ihn mit der eisernen Disziplin einer Drow zu unterdrücken, ihn zu ignorieren, ihn auszusperren. Doch sie hatte gelernt, dass dies nur dazu führte, dass er stärker und unkontrollierbarer zurückschlug.

Also veränderte sie ihr Gebet. Der Tanz wurde zu einem Versuch, den Wolf nicht nur zu bändigen, sondern ihn zu verstehen. Wenn die Wut in ihr aufstieg, ließ sie sie in ihre Bewegungen fließen, gab ihr eine Form, eine Struktur. Sie nutzte die Lehren Elistraees – die Suche nach Anmut in der Bewegung, nach Harmonie im Chaos – um die rohe, zerstörerische Energie des Wolfes zu kanalisieren. Sie versuchte, den Hass nicht zu ersticken, sondern ihn in beschützende Stärke zu verwandeln, die Wut in fokussierte Leidenschaft.

Jeder Tanz war ein fragiles Gleichgewicht. Ein Teil von ihr, die Drow-Schmiedin, tanzte für die Schönheit und die Kontrolle, ihre Bewegungen präzise und voller Anmut. Der andere Teil, der Wolf, brachte die rohe Emotion, den Schmerz und den Zorn. Auf der Lichtung, im Schein des Mondes, versuchte Alniira, diese beiden Hälften zu einer Einheit zu schmieden – so wie sie es mit dem Stahl am Amboss tat. Sie hoffte, dass der Einfluss ihrer Göttin, die Liebe zur Schönheit und zum Leben, langsam in die wilde Seele des Wolfes sickern und seinen Hass besänftigen könnte, bis er eines Tages nicht mehr ihr Feind, sondern ein Teil von ihr sein würde.

Auf der Lichtung begann ihr Tanz anders als am Vortag. Er begann schwer, erdig und voller Gram. Sie hielt das Schwert tief, die Spitze kratzte fast den Boden. Ihre Schritte waren keine Tanzschritte, sondern das mühsame, schleppende Vorwärtskommen eines Minenarbeiters, der seine Ketten durch den Staub zieht. Jeder Schwung der Klinge war langsam, kraftvoll und voller Anstrengung, eine exakte, schmerzhafte Nachbildung der Bewegung mit der Spitzhacke. Die leuchtenden Runen auf der Blackrock-Klinge malten träge, fallende Bögen in die Luft, wie müde Sternschnuppen, die auf die Erde stürzen.

Alniira hat geschrieben:Ich grabe an der Oberfläche nach Metall, um Waffen für die Finsternis zu schmieden. Ich atme die Luft der Freiheit, um meine Ketten zu stärken.


Plötzlich erstarrte sie, die Klinge zitterte in ihrer Hand. Die Erinnerung an den Mittag durchfuhr sie wie ein Eissplitter. Er hatte sie gefunden. Ein großer, grünlich schimmernder Wolf war am Rande des Minengeländes aufgetaucht, seine Bewegungen zu geschmeidig, zu intelligent für ein gewöhnliches Tier. Er hatte sie aus der Ferne beobachtet. Es war Rianon. Sie hätte ihn immer erkannt, an der Art, wie er den Kopf neigte, an dem tiefen Blick seiner Augen, selbst in seiner Wolfsgestalt. Er hatte sie gesucht, der Waldelf, dessen Leben sie zerstört hatte. Die Schuld brannte in ihr, heißer als jede Esse.

Der Tanz veränderte sich schlagartig. Die schweren, kraftvollen Hiebe wichen einem panischen, flatternden Chaos. Sie rammte die Schwertspitze in den Boden und tanzte um die Klinge herum, als wäre sie ein eiserner Käfig, den sie selbst errichtet hatte. Ihre Hände zitterten, als sie nach dem Schwertgriff griffen und ihn wieder losließen, unfähig, die Waffe richtig zu halten, als würde sie sich an ihrer eigenen Tat verbrennen. Es war der Tanz einer Person, die vor ihrem eigenen Spiegelbild flieht. Der Wolf in ihr heulte auf – ein leiser, innerer Klagelaut, nicht aus Zorn, sondern aus einem seltsamen, verdrehten Gefühl von Anerkennung und tiefem Bedauern. Der Wolf in ihr erkannte den anderen Wolf, sein eigenes, unglückliches Kind.

Alniira hat geschrieben:Er sucht nach mir, und ich kann ihm nur Schmerz zeigen. Herrin, wie kann ich diese Schuld je abtragen?


Die Gerüchte über den bevorstehenden Kampf des Hauses Ky'Alur drängten die nagende Schuld beiseite und ersetzten sie durch eine Welle kalter, scharfer Anspannung. Es war ein vertrautes Gefühl, die Vorahnung von Gewalt, die den Zorn nicht auslöschte, sondern ihm eine Richtung gab. Mit einem tiefen, zittrigen Atemzug, der die kühle Waldluft in ihre brennenden Lungen zog, zwang sie sich zur Ruhe. Die Erinnerung an die Disziplin der Schmiede, an die unzähligen Stunden, in denen sie ihre Emotionen unterdrücken musste, um den Stahl mit perfekter Präzision zu formen, kämpfte sich an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

Alniira hat geschrieben:Wut ist auch nur ein Feuer. Und Feuer kann man lenken. Forme es. Nutze es.


Der Tanz wurde wieder martialisch, aber diesmal fundamental anders. Es war kein unkontrollierter Zorn mehr, der aus ihr herausbrach. Es war eine bewusste Entscheidung. Sie zwang den Wolf, seinen Zorn zu fokussieren, ihn nicht als Gift, sondern als Treibstoff zu sehen.

Ihre ersten Bewegungen waren langsam, fast bedächtig. Ein tiefer Ausfallschritt, bei dem die flache Seite der leuchtenden Klinge parallel über dem trockenen Laub am Boden schwebte. Ein sanfter Sog entstand. Dann, mit einer plötzlichen, aufwärts gerichteten Bewegung, riss sie das Schwert nach oben und ein Dutzend Blätter wurde in die Luft gewirbelt.

Anstatt sie fallen zu lassen, schloss sie die Augen. Sie überließ sich dem Rhythmus, der in ihrem Blut pulsierte, und begann den wahren Tanz.

In der Dunkelheit hinter ihren Lidern war sie nicht mehr allein. Eine zweite Gestalt war bei ihr, schemenhaft zuerst, dann klarer werdend. Das Idealbild ihrer Göttin, eine silberhaarige Tänzerin, deren Bewegungen eine perfekte, göttliche Spiegelung ihrer eigenen waren. Elistraee. Vor ihrem geistigen Auge tanzten sie zusammen, ein stilles Duett aus Stahl und Geist.

Ihre Füße bewegten sich in einem schnellen, komplexen Muster über den Boden, doch sie stolperte nicht. In ihrer Vorstellung wurde sie geführt. Sie begann sich zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller. Ihr Schwert wurde zu einem Instrument, doch sie fühlte, dass sie nicht die einzige war, die es führte. Mit der flachen Seite der Klinge schlug sie nicht, sondern schob die Luft, erzeugte Strömungen und Wirbel, die die Blätter erfassten. Ein tiefer, horizontaler Hieb ließ weitere Blätter vom Boden aufsteigen. Eine schnelle Aufwärtsbewegung hielt sie in der Luft. Die leuchtenden Runen schnitten saubere, tödliche Linien durch die Dunkelheit ihrer geschlossenen Lider.

Der einzelne Kranz aus Blättern wurde in ihrer Vorstellung zu einem Sturm. Es war keine fremde Magie, die von außen wirkte, sondern die Kraft ihres Glaubens und ihrer Konzentration. In ihrem Geist zog jede Drehung, jeder präzise Schlag ihres Schwertes gegen die Luft, mehr und mehr Laub in einen schützenden Bann. Bald war sie das Auge eines rasenden Wirbelsturms aus Blättern. Rote, braune und goldene Blätter tanzten um sie herum in einer wilden, aber kontrollierten Raserei. Sie war eine dunkle Silhouette im Zentrum eines Sturms aus Herbstfarben, nur durchbrochen von den silbernen Lichtblitzen der Runen auf ihrer Klinge.

Sie fühlte sich nicht länger nur als Tänzerin; sie war Teil eines göttlichen Gebets. Mit einer leichten Neigung der Klinge, einer Bewegung, die ihr die Vision ihrer silbernen Partnerin einflüsterte, konnte sie den Wirbel enger ziehen, sodass die Blätter in ihrer Vorstellung zu einem undurchdringlichen, raschelnden Schild wurden. Mit einem weiten, ausholenden Schwung konnte sie ihn ausdehnen, eine wirbelnde Barriere, die jeden Angreifer auf Abstand halten würde. Es war ein Kampf, ja, aber einer mit vollendeter Form und absoluter Absicht.

Für einen langen, flüchtigen Moment spürte sie es: wahre Kontrolle. Eine Harmonie. Sie nutzte die animalische Wut des Wolfes als reinen Treibstoff für die perfekte, disziplinierte Technik der Tänzerin, und das Bild Elistraees in in ihrem Kopf lenkte diese Kraft in eine Form von atemberaubender, tödlicher Schönheit. Die Bestie heulte nicht mehr in ihrem Kopf, sie atmete im Rhythmus ihrer Bewegungen, ihre Kraft floss durch Alniiras Adern direkt in die Klinge. Sie war eins mit sich und ihrer Herrin.

Als sie ihren Tanz verlangsamte, verlor der imaginäre Sturm an Kraft. Die einzelnen Blätter in ihrer Vision begannen, sanft wie Schnee zu Boden zu segeln. Als sie die Augen öffnete, war die silberne Tänzerin verschwunden. Sie stand allein auf der Lichtung, die Blätter lagen wirr um sie herum auf dem Boden, grob in einem Kreis verteilt durch die Wucht ihrer Bewegungen. Doch das Gefühl der Präsenz, die Erinnerung an die Harmonie, blieb. Sie hatte den Sturm nicht nur überlebt, sie hatte ihn befehligt – nicht allein, sondern gemeinsam mit dem Glauben in ihrem Herzen.


Doch dann kam das letzte Bild des Tages zurück. Arencia. Das untote Skelett. Das Gerücht besagte, sie sei eine Wanre gewesen, eine Magierin, die den Tod als Erlösung gesucht hatte. Doch etwas hielt sie in den Hallen gefangen, verweigerte ihr den Frieden.

Der Tanz gefror. Die aggressive Energie wich einer tiefen, unnatürlichen Kälte. Alniira senkte das Schwert, die leuchtenden Runen pulsierten nur noch schwach und unregelmäßig, wie ein sterbendes Herz. Ihre Bewegungen wurden langsam, mechanisch, ruckartig – eine Nachahmung der knöchernen Gänge der Untoten, gefangen in einer endlosen Patrouille. Der Wolf in ihr winselte, zog sich zurück. Dies war kein Feind, den er mit Zähnen und Klauen bekämpfen konnte. Dies war die Abwesenheit von Leben, eine gefangene Seele, ein Grauen, das selbst seine wilde Natur abstieß.

Mit einem letzten, bewussten Akt der Willenskraft hob sie das Schwert hoch über ihren Kopf, die Runen leuchteten ein letztes Mal hell auf, als sie das Bild der gefangenen Magierin aus ihrem Geist verbannte. Sie stieß die Klinge nicht in einem Anfall von Wut in die Erde, sondern führte sie mit einer festen, kontrollierten Bewegung hinab, bis sie mit einem leisen, fast andächtigen Geräusch im Moos steckte.

Sie blieb stehen, keuchend, aber aufrecht. Der Kampf war heute komplexer, vielschichtiger gewesen. Sie hatte neue Abgründe in sich entdeckt – Schuld, Empathie für eine Untote –, aber sie hatte auch einen winzigen Sieg errungen. Sie hatte den Zorn für einen Moment gelenkt. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang. Der Rückweg war nicht leichter, aber in ihrer Brust trug sie anstelle der reinen Verzweiflung von gestern einen winzigen, zerbrechlichen Funken Hoffnung.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 18 Jul 2025, 20:45
von gelöschter Charakter_546
Tag 3
Der Tag war eine leise, erstickende Lektion in Verachtung. Es gab keinen Kampf, keine offene Bedrohung. Es gab nur die allgegenwärtige Hässlichkeit des Alltags in Elashinn.

Sie hatte die grausamen, leeren Augen eines Sargtlin gesehen, der einen Diener zum Spaß schikanierte. Sie hatte das falsche, zuckersüße Lächeln zweier Priesterinnen beobachtet, die Gift über einen abwesenden Freund flüsterten.

Es war die alltägliche, banale Bosheit, die sich wie ein Geschwür durch die Seele ihres Volkes fraß.

Die Enttäuschung war ein bitterer, galliger Geschmack in Alniiras Mund, schlimmer als jeder Spinnweihrauch.

Ihre Flucht in den Yew Wald war heute kein fieberhafter Lauf, sondern ein schwerer, schleppender Gang. Jeder Schritt fühlte sich bleiern an, als würde der Schlamm der Ernüchterung an ihren Stiefeln kleben.
Auf der Lichtung fühlte sich die Luft kalt und leer an. Sie zog das Schwert, doch es fühlte sich fremd in ihrer Hand an, eine unhandliche, schwere Last. Die Runen auf der Klinge glühten nur schwach, ein unsicheres, zitterndes Licht, das die Dunkelheit kaum zu durchdringen vermochte.

Ihr Tanz begann nicht mit ihren eigenen Schritten, sondern mit denen derer, die sie verachtete.
Ihre Bewegungen waren eine spöttische, bittere Parodie. Sie ahmte den aufgeblasenen, arroganten Gang eines Kriegers nach, dessen Tapferkeit nur eine Fassade für seine Feigheit war. Sie führte das Schwert in übertrieben eleganten, aber kraftlosen Gesten durch die Luft, eine Nachahmung der höfischen Intrigen. Ein Hieb, der im letzten Moment zögerte. Eine Parade, die zu spät kam. Es war der Tanz einer zerbrochenen, verlogenen Gesellschaft. Der Wolf in ihr war still. Er tobte nicht, er heulte nicht. Er beobachtete nur mit einer kalten, verächtlichen Ruhe.
Alniira hat geschrieben:Das ist es also. Das ist die Stärke meines Volkes. Eine Lüge, gehüllt in Seide und Grausamkeit.
Die spöttische Wut wich einer tiefen, umfassenden Trauer. Nicht für einzelne Personen, sondern für alle. Für die geopferten Diener. Für die Krieger, die für falsche Ehre sterben würden. Für sich selbst. Der Tanz wurde langsam, fließend, unendlich traurig. Sie ließ die Schwertspitze über den Boden gleiten und malte damit lange, geschwungene Linien ins Laub, wie die Spuren von Tränen. Die leuchtenden Runen folgten der Bewegung, ein schwacher, silberner Fluss des Kummers. Der Tanz sprach von verschwendetem Potenzial, von einem Volk, das sich in endlosen, sinnlosen Machtspielen selbst zerfleischt.
Alniira hat geschrieben:Herrin, ich habe gegen den Wolf in mir gekämpft, um in dieser Welt zu überleben. Aber wenn das die Welt ist... wofür kämpfe ich dann?
Ihre Bewegungen stockten. Der Tanz gefror mitten in einer fließenden Bewegung.
Sie stand da, das Schwert halb erhoben, den Blick verloren im Dunkel des Waldes. Die Frage hing schwer und unbeantwortet in der Luft.
Was nun? Weiterhin eine Rolle spielen in diesem verachtenswerten Theater? Fliehen und Rianon und ihre Schuld mit sich schleppen? Den Wolf entfesseln und alles in einem letzten, sinnlosen Akt der Zerstörung niederbrennen?

Jeder Weg schien in eine andere Art von Leere zu führen.
Der Tanz endete nicht mit einem Höhepunkt. Er verlosch einfach. Mit einem leisen Seufzer der Resignation ließ sie den Schwertgriff los. Die Klinge fiel mit einem dumpfen, unbefriedigenden Geräusch ins Moos, das schwache Leuchten der Runen erstarb vollständig. Sie sank auf die Knie, die Schultern gebeugt, eine Gestalt der reinen, unverfälschten Ernüchterung.
Sie weinte nicht. Die Enttäuschung saß zu tief für Tränen. Es war eine Leere, eine kalte, schwere Decke, die sich über ihre Seele gelegt hatte.

Nach einer Zeit, die eine Ewigkeit hätte sein können, stand sie mechanisch auf. Sie hob ihr Schwert, ohne es anzusehen, und begann den Rückweg. Jeder Schritt war eine Frage ohne Antwort, jeder Atemzug ein Echo ihrer Enttäuschung. Sie kehrte nicht mit einem Funken Hoffnung zurück, sondern nur mit dem schweren Gewicht der Ungewissheit in ihrem Herzen.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 19 Jul 2025, 19:17
von gelöschter Charakter_546
Tag 4

Der Tag war ein Exil, das sie sich selbst auferlegt hatte. Alniira hatte das Quellar Ky'Alur nicht betreten, hatte die giftige Atmosphäre der Intrigen und der Verachtung gemieden. Stattdessen hatte sie sich in ihre kleine, versteckte Werkstatt zurückgezogen, ein Ort, der nur nach ehrlichem Rauch, Schweiß und heißem Metall roch. Den ganzen Tag hatte sie gearbeitet, nicht um Waffen für das Haus zu schmieden, sondern für sich selbst. Sie faltete Stahl, immer und immer wieder, hämmerte ihn in endlose, komplexe Muster, nur um ihn dann wieder zu erhitzen und von vorne zu beginnen. Es war eine obsessive, fieberhafte Suche nach Perfektion in ihrem Handwerk, eine verzweifelte Flucht vor der Unvollkommenheit ihrer Gedanken.

Mit jeder Falte im Stahl hatte sie über die Drow nachgedacht. Ein Volk, gefaltet in Schichten aus Verrat, gehärtet in einem Feuer aus Hass, abgeschreckt in der kalten Dunkelheit der Gleichgültigkeit. Doch so sehr sie auch hämmerte und nachdachte, sie kam zu keinem Entschluss. Die Hilflosigkeit war ein kalter Kern in der Hitze ihrer Esse.

Ihre Flucht in den Yew Wald war heute Abend keine Flucht vor anderen, sondern vor dem lauten Schweigen ihrer eigenen Gedanken.

Auf der Lichtung fühlte sich die Luft still und erwartungsvoll an. Sie zog das Schwert, und es fühlte sich wie eine natürliche Verlängerung ihres Arms an, ein vertrautes Werkzeug. Die Runen leuchteten mit einem klaren, stetigen Licht auf, das ihre Konzentration widerspiegelte.

Ihr Tanz begann ohne Zögern, aber auch ohne Gefühl.

Es war der Tanz der Schmiedin. Jede Bewegung war eine exakte, technische Nachbildung ihrer Arbeit. Ein kraftvoller, vertikaler Hieb, der in der Luft stoppte – der Schlag des Hammers. Eine schnelle Drehung des Handgelenks, die die Klinge rotieren ließ – das Wenden des Stahls in der Zange. Eine Serie von kurzen, präzisen Stößen – das Formen der Schneide. Die leuchtenden Runen malten technische Diagramme in die Dunkelheit, Muster von Effizienz und Kontrolle. Der Wolf in ihr war still, gefangen in der hypnotischen Wiederholung, seine wilde Natur gebändigt durch die Monotonie der Perfektion.
Alniira hat geschrieben:Hämmern. Falten. Härten. Immer die gleichen Schritte. Ist das alles, was wir sind? Ein Volk, das sich selbst immer wieder in die gleiche, harte, brüchige Form schmiedet?
Die Perfektion ihrer Bewegungen brachte keinen Trost, nur eine wachsende Frustration. Der Tanz wurde schneller, die Bewegungen schärfer, aber sie blieben mechanisch. Sie wiederholte die Sequenz, immer und immer wieder, in der verzweifelten Hoffnung, dass in der Wiederholung eine Antwort verborgen lag, eine Offenbarung, die sich ihr durch pure Willenskraft erschließen würde. Doch es kam nichts. Nur die Leere zwischen den perfekten Schlägen.
Alniira hat geschrieben:Ich kann Stahl formen, aber nicht mein eigenes Schicksal. Ich kann eine Klinge schärfen, aber meine Gedanken bleiben stumpf. Herrin, ich wiederhole die Bewegungen, ich folge dem Pfad... aber er führt nirgendwo hin.
Der Tanz endete nicht in einem Zusammenbruch. Er stoppte einfach. Mitten in einer perfekten, kraftvollen Bewegung hielt sie inne, das Schwert erstarrt in der Luft. Sie stand da, keuchend, der Schweiß lief ihr über die Schläfen. Die Runen glühten noch immer hell, doch das Schwert fühlte sich plötzlich unendlich schwer an. Die Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines Hammers: Selbst die vollkommenste Technik war bedeutungslos ohne einen Zweck.

Langsam senkte sie das Schwert. Sie stieß es nicht in die Erde. Sie lehnte es sanft an einen der alten Yew-Bäume, als würde sie ein Werkzeug nach getaner Arbeit ablegen. Sie sank nicht auf die Knie. Sie blieb stehen, aufrecht, aber vollkommen leer.

Die Hilflosigkeit war nicht verschwunden. Sie hatte sich nur verändert. Sie war nicht mehr emotional und überwältigend, sondern eine kalte, rationale Tatsache. Sie hatte an diesem Tag alles getan, was sie tun konnte – sie hatte sich auf ihr Können, ihre Disziplin und ihren Glauben verlassen. Und es hatte nichts geändert.

Der Rückweg war still. Sie trug ihr Schwert, und das Gewicht war weder eine Last noch ein Trost. Es war einfach nur da. Sie kehrte zurück, nicht mit Trauer oder Hoffnung, sondern nur mit der leisen, unerschütterlichen Gewissheit, dass sie morgen wieder hier sein würde, um die gleichen sinnlosen, perfekten Bewegungen zu wiederholen.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 20 Jul 2025, 16:42
von gelöschter Charakter_546
Tag 5 - Teil 1: Die Entscheidung

Der Tag war kein Kampf und keine Flucht. Er war eine Geburt. Die quälende Unentschlossenheit der letzten Tage war in der kalten, stillen Dunkelheit vor der Dämmerung einer unerschütterlichen Klarheit gewichen. Es war keine Entscheidung, die sie mit dem Kopf getroffen hatte; es war eine Wahrheit, die aus der tiefsten Faser ihrer Seele emporgestiegen war. Sie konnte nicht länger Teil einer Kultur sein, die sich an Hass und Verrat nährte. Sie konnte nicht länger eine Klinge für eine Hand schmieden, die sie verachtete.

Noch vor Sonnenaufgang verließ sie Elashinn ein letztes Mal. Diesmal war es kein heimliches Herausschleichen für ein nächtliches Ritual. Es war ein endgültiger, stiller Abschied. Sie trug nur ihr Schwert, ihre Werkzeuge und das, was sie am Leibe hatte. Sie blickte nicht zurück.

Sie schlug ihr Lager nicht einfach irgendwo im Yew Wald auf, sondern fand einen Ort, der zu ihr sprach: eine kleine, geschützte Lichtung, die an die zerfallenen Mauern einer uralten, vergessenen Ruine grenzte. Die Steine waren von Moos überwachsen, und die Natur hatte begonnen, sich das zurückzuerobern, was einst Zivilisation gewesen war. Hier, zwischen dem ungezähmten Wald und den Überresten einer vergangenen Zeit, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit am richtigen Ort.

Den ganzen Tag über arbeitete sie, aber es war eine andere Arbeit. Sie fällte keine Bäume und jagte keine Tiere. Sie baute auf. Eine einfache Feuerstelle. Einen trockenen Unterstand aus Ästen und Laub. Sie reinigte ihre Werkzeuge und legte sie sorgfältig auf einen flachen Stein, der ihr als neue Werkbank dienen würde. Jeder Handgriff war erfüllt von einer tiefen, ruhigen Freude. Die Luft war sauber, erfüllt vom Duft feuchter Erde und dem Versprechen von Regen. Der Wolf in ihr war ruhig, nicht unterdrückt, sondern zufrieden. Er lag in der Sonne, die durch das Blätterdach fiel, und beobachtete die Welt mit einer wachen, aber friedlichen Neugier.

Als die Dämmerung hereinbrach, saß sie am Feuer und blickte in die Flammen. Ein Gefühl der Wehmut überkam sie, ein tiefes Mitleid für die Drow, die sie zurückgelassen hatte. Sie dachte an ihre Gesichter, gefangen in Masken aus Arroganz und Angst, gefangen in einem endlosen Kreislauf der Selbstzerstörung, den sie für Stärke hielten. Sie waren Gefangene, die ihre eigenen Gitterstäbe schmiedeten und sie für die Säulen ihrer Welt hielten.

Doch diese Trauer war nur ein Schatten am Rande eines hellen, überwältigenden Gefühls: Freiheit. Die Last, eine Rolle spielen zu müssen, war von ihren Schultern gefallen. Die ständige Angst vor Entdeckung war einem Gefühl der unendlichen Möglichkeit gewichen. Sie war allein, ja, aber sie war nicht mehr einsam.
Alniira hat geschrieben:Ich bin frei. Herrin, ich bin endlich frei. Mögen jene, die in der Dunkelheit bleiben, eines Tages das Licht finden, das ich heute sehe.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 20 Jul 2025, 16:58
von gelöschter Charakter_546
Tag 5 Teil 2 - Der Tanz der Klinge und des Geistes

Als der Mond aufging und sein sanftes Licht die Ruinen in Silber tauchte, zog es Alniira tiefer in das zerfallene Gemäuer. Im Herzen der Anlage, geschützt von einem halb eingestürzten Gewölbe, fand sie es: eine alte, steinerne Esse, kalt und vergessen, aber von einer stillen Würde erfüllt. Daneben ein massiver, flacher Fels, dessen Oberfläche von unzähligen, längst vergangenen Schlägen geglättet war. Es war kein Zufall. Es war ein Altar, der auf sie gewartet hatte.

Sie begann mit der Vorbereitung, doch es war keine Arbeit, es war ein Ritual. Mit bloßen Händen reinigte sie den alten Stein von Moos und Ranken, ihre Berührungen sanft und ehrfürchtig. Sie legte das Holz nicht einfach hinein, sondern schichtete es in einem konzentrischen Muster auf, das Herz des Feuers in der Mitte. Das Entzünden war kein mechanischer Akt, sondern ein Gebet. Mit einem leisen, gesungenen Vers auf den Lippen, einer Melodie der Schöpfung, erweckte sie die Flammen zum Leben.

Ihr altes Blackrock-Schwert, Zeuge ihres Schmerzes und ihrer Wut, legte sie ehrfürchtig beiseite. Es hatte seine Pflicht getan. Nun war es an der Zeit, eine neue Klinge zu erschaffen. Sie schloss die Augen, atmete den reinen Duft von Rauch und feuchter Erde ein und ließ die Welt um sich herum verschwimmen.

Vor ihrem geistigen Auge, in der Stille ihres Herzens, begann eine Vision zu tanzen. Es war keine Gestalt, die vor ihr stand, sondern ein Gefühl, das Form annahm. Eine silberne Silhouette, die sich mit dem Mondlicht bewegte, deren Anmut die Essenz von Eilistraee war. Die Göttin war nicht hier, um zu schmieden. Sie war hier, um zu tanzen, und ihr Tanz war die einzige Anleitung, die Alniira benötigte.

Der Schmiedetanz begann.

Die Vision der Göttin wirbelte, ihre Arme malten die Formen wachsender Flammen in die Luft. Alniira folgte, ihre eigenen Bewegungen eine irdische Antwort auf das göttliche Vorbild. Sie tanzte um das Feuer, ihr Atem tief und rhythmisch, und die Flammen schienen auf ihre Konzentration zu reagieren, loderten höher. In ihrem Kopf formte sich ein alter, dunkler Reim, ein Echo der Magie und des Schicksals.
Alniira hat geschrieben:Mühe und Plage ohne Ruh, Feuer, brenne und Kessel, tuh'!


Als der Stahl glühte, begann der Tanz des Hammers. Die Vision der Göttin vollführte nun kraftvolle, stampfende Schritte, ein klarer, unerbittlicher Rhythmus. Alniiras Körper folgte, ihr Hammer traf den Stahl auf dem steinernen Amboss im exakten Takt der göttlichen Schritte. Jeder Schlag war eine klare, klingende Note in der Symphonie der Nacht, ein Echo des Tanzes in ihrer Seele. Es war die Zeit der Mühe, der Plage, der Transformation.
Alniira hat geschrieben:Doppelt, doppelt, Müh' und Plag'!


Mit jedem Schlag, im Rhythmus dieses inneren Gesangs, formte sie nicht nur den Stahl, sondern auch ihre eigene Seele. Sie faltete das Metall, immer und immer wieder. Mit jeder Faltung verbannte sie eine Last. Die Lügen von Elashinn, die Ketten der Schuld, die Angst vor dem Wolf – sie alle wurden in das glühende Herz des Stahls geschmiedet, um dort gereinigt zu werden. Der Wolf in ihr tanzte mit, seine Kraft floss nicht als Wut, sondern als kontrollierte Energie in ihre Arme, gelenkt von der ruhigen Stärke des Tanzes.

Dann kam der Tanz der Runen. In der Vision verlangsamte Elistraee ihre Bewegungen, ihre Finger malten sanfte, leuchtende Symbole in die Luft. Alniira, die Augen noch immer geschlossen, griff in der realen Welt zu ihren feinsten Werkzeugen. Sie spürte die Führung der Göttin in der ruhigen Sicherheit ihrer Hände. Sie hämmerte keine Runen in das Metall; sie tanzte sie hinein, ihre Werkzeuge folgten den leuchtenden Spuren, die der göttliche Tanz in ihrer Vorstellung hinterließ. Geschwungene Linien für den Fluss des Lebens. Kreise für die ewige Wiederkehr des Mondes. Spiralen für den Weg nach innen.

Der Höhepunkt war der Tanz des Abschreckens. In der Vision vollführte die Göttin eine letzte, schnelle Pirouette, die in einer Geste des Eintauchens endete. Alniira tat es ihr gleich. In einer einzigen, fließenden, ununterbrochenen Bewegung wirbelte sie und stieß die leuchtende Klinge in das bereitgestellte Wasserbecken. Ein lautes, singendes Zischen erfüllte die Nacht, eine Wolke aus Dampf stieg auf und hüllte sie für einen Moment ein. Der Kessel hatte getan, was er tun sollte.

Als der Dampf sich lichtete und Alniira die Augen öffnete, war sie wieder allein. Doch als sie in das Wasserbecken griff und das neue Schwert heraushob, spürte sie die Essenz des Tanzes noch immer im Stahl. Es war leichter als das alte, perfekt ausbalanciert. Die Mondrunen auf der Klinge schimmerten mit einem sanften, inneren Licht. Dies war keine Waffe, um Leben zu nehmen. Es war ein Fokus. Ein Werkzeug zur Meditation. Ein Partner für ihren Tanz, geschmiedet, um ihre Gedanken zu bekämpfen, den Wolf zu verstehen und mit der Hilfe ihrer Göttin endlich Frieden zu finden.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 21 Jul 2025, 16:49
von gelöschter Charakter_546
Tag 6 - Der Tanz der Geometrie

Der Tag war ein leises Gespräch mit der Zeit. Alniira verbrachte ihn damit, die Ruinen zu erkunden, die nun ihr Zuhause waren. Sie las die Geschichten, die in den verwitterten Steinen geschrieben standen, folgte den Spuren vergessener Pfade und spürte die Echos der Leben, die hier einst geblüht hatten. Es war ein Tag der stillen Entdeckungen, nicht nur in der Welt um sie herum, sondern auch in sich selbst. Die ständige, nagende Anspannung von Elashinn war einer tiefen, wachen Ruhe gewichen. Der Wolf in ihr war nicht länger ein gefangenes Tier, sondern ein stiller Begleiter, dessen Sinne die ihren schärften.

Als die Nacht hereinbrach und der Mond die alten Steine in ein weiches, geisterhaftes Licht tauchte, trat sie auf ihre Lichtung. Sie zog ihr neues Schwert, und die Mondrunen auf der Klinge erwachten mit einem sanften, pulsierenden Glühen zum Leben. Der heutige Tanz sollte kein Kampf sein, keine Flucht und keine Bitte. Er sollte eine Meditation sein, ein Akt reiner Anbetung, ausgedrückt in der Sprache der heiligen Geometrie.
Alniira hat geschrieben:Heute kämpfe ich nicht. Heute ehre ich die Perfektion, die ich in der Wildnis finde. Die Perfektion des Kreises.
Der Mondkreis

Sie nahm eine feste, zentrierte Haltung ein, ihre Füße schulterbreit auseinander, die Knie leicht gebeugt. Langsam, fast unmerklich, begann sie sich auf der Stelle zu drehen. Ihr Arm, der das Schwert hielt, war vollständig ausgestreckt, eine gerade, unnachgiebige Linie von ihrer Schulter bis zur Spitze der Klinge.

Die Drehung war eine ununterbrochene, fließende Bewegung. Es gab keinen Anfang und kein Ende, nur einen ewigen, meditativen Fluss. Ihr Atem war tief und gleichmäßig, im Einklang mit der langsamen, stetigen Rotation ihres Körpers. Die Spitze ihres Schwertes, angeführt von den leuchtenden Runen, begann, einen perfekten Kreis in die Dunkelheit zu zeichnen. Zuerst war es nur eine schwache, silberne Linie, doch mit jeder vollendeten Drehung wurde sie heller, kräftiger, als würde sie die Essenz des Mondlichts selbst einfangen und in einer einzigen, makellosen Form binden.

Der Wolf in ihr, der sonst auf jede Form der Kontrolle mit unruhigem Zorn reagierte, war still. Er war fasziniert. Die endlose, vorhersehbare Bewegung des Kreises schien seine wilde Natur zu beruhigen. Es war die visuelle Darstellung einer Grenze, eines sicheren Raumes, den Alniira um sich selbst erschuf – ein Schutzwall aus reinem Licht und konzentriertem Willen.

Mit geschlossenen Augen sah sie nicht die Bäume oder die Ruinen. Sie sah den Mond in all seinen Phasen, den ewigen Zyklus von Werden und Vergehen, von Licht und Schatten. Ihr Tanz war eine Nachahmung dieser kosmischen Ordnung. Der Kreis, den sie zeichnete, war nicht nur eine Form; er war ein Symbol für die Vollkommenheit, die sie suchte, für die Ganzheit, nach der sich ihre zerrissene Seele sehnte. Sie war der Mittelpunkt des Universums, und um sie herum tanzte der Mond, gelenkt von ihrer eigenen Klinge.

Der perfekte, leuchtende Kreis hing noch für einen Moment in der Luft, ein Nachbild der Ruhe in Alniiras Geist. Doch die Meditation war vorüber. Die Stille wich einer neuen, schärferen Energie. Der Kreis zerbrach, als sie ihre Drehung abrupt stoppte und die Klinge in einer schnellen Bewegung zurück an ihren Körper zog. Der Wolf, der in der Monotonie des Kreises geschlummert hatte, riss die Augen auf. Die plötzliche Veränderung des Rhythmus war wie ein Jagdruf in seiner Seele.

Die Sternensplitter.

Der Tanz explodierte aus der Stille heraus. Es war eine Abfolge von schnellen, präzisen und kurzen Stößen in verschiedene Richtungen. Nach vorne, zur Seite, nach hinten, nach oben. Jeder Stoß war ein Atemzug, ein Gedanke, ein Herzschlag. Die Bewegung war so schnell, dass das Schwert kaum mehr als ein silberner Blitz war. Jeder Vorstoß endete in einem abrupten, zitternden Halt, bei dem die Klinge das Mondlicht für den Bruchteil einer Sekunde einfing und es wie einen aufblitzenden, kalten Stern zurückwarf, bevor sie zur nächsten Bewegung überging.

Diese aggressiven, raubtierhaften Bewegungen weckten die Bestie. Ein tiefes, vibrierendes Knurren entwich Alniiras Kehle, ein Laut, der nicht mehr ganz ihr eigener war. Sie spürte, wie sich ihre Fingernägel verlängerten, sich krümmten und zu kurzen, harten Krallen wurden, die sich schmerzhaft in den Griff ihres Schwertes bohrten. Ein stechender Schmerz durchzog ihren Kiefer, als ihre Eckzähne wuchsen und gegen ihre Lippen drückten. Der Wolf drängte an die Oberfläche.
Alniira hat geschrieben:Nein... nicht jetzt. Bleib ruhig. Konzentration.
Doch der Wolf wollte nicht ruhig bleiben. Er wollte jagen. Der Tanz wurde wilder, die Stöße verloren ihre reine, technische Präzision und gewannen an brutaler, animalischer Kraft. Die aufblitzenden Sterne waren nun nicht mehr nur das Licht auf ihrer Klinge, sondern auch das Leuchten ihrer Augen, die im Dunkeln eine katzenhafte, gefährliche Intensität annahmen.

Der Tanz wurde zu einem Kampf. Sie stieß nicht mehr nur in die Leere, sondern auf die Schatten zwischen den Bäumen, auf die Phantome ihrer Vergangenheit. Jeder Stoß war ein Akt der Verteidigung, ein Versuch, die Kontrolle zu behalten. Sie nutzte die geschärften Sinne des Wolfes, seine unglaubliche Geschwindigkeit, aber sie kämpfte gegen seinen blinden Zorn. Ihre Füße tanzten nicht mehr, sie sprangen und wichen aus, ihr Körper duckte sich tief, als würde sie einem unsichtbaren Gegner entgehen.

Die Phase endete in einem angespannten, vibrierenden Stillstand. Sie stand da, das Schwert fest auf einen Punkt in der Dunkelheit gerichtet, ihr ganzer Körper zitterte von der Anstrengung, die Verwandlung zurückzudrängen. Ihr Atem kam in kurzen, stoßweisen Wolken, und das leise Klicken ihrer Krallen, die sich wieder zurückzogen, war das einzige Geräusch auf der Lichtung. Sie hatte den Wolf zurück in seinen Käfig gezwungen, aber sie spürte seine Kraft noch immer wie ein heißes, pochendes Echo in ihren Adern.

Sie stand da, zitternd, das Echo des Wolfes noch immer ein heißes Pochen in ihren Adern. Doch anstatt der Anspannung nachzugeben, atmete sie langsam und tief aus, eine weiße Wolke in der kalten Nachtluft. Sie senkte die Spitze ihres Schwertes, bis sie fast den Boden berührte, und schloss erneut die Augen. Es war Zeit, die aufgewühlte See zur Ruhe zu bringen. Es war Zeit, die verbliebene, wilde Energie nicht zu unterdrücken, sondern sie zu formen und zu verstehen.

Ihre Bewegungen waren nun von einer fast übernatürlichen Langsamkeit, ein stiller, fließender Dialog zwischen Körper und Klinge. Sie verlagerte ihr Gewicht sanft von einem Fuß auf den anderen, ihr Körper wiegte sich in einem kaum wahrnehmbaren Rhythmus. Langsam, unendlich langsam, hob sie das Schwert. Es war kein aggressiver Stoß mehr, sondern eine sanfte, aufsteigende Spirale, als würde sie einen Faden Mondlicht aus der Erde ziehen.

Ihr Körper sank tief in die Knie, ihr Rücken blieb vollkommen gerade. Das Schwert, geführt von einer ruhigen Hand, senkte sich mit ihr, bis die Spitze der Klinge mit den leuchtenden Runen nur einen Hauch über dem feuchten Moos schwebte. Sie hielt diese Position, jeder Muskel in ihrem Körper schrie unter der Anspannung, diese perfekte Balance zu halten. Der Wolf in ihr, dessen Instinkt es war, nach vorne zu schnellen, wurde in diese stille, lauernde Haltung gezwungen. Er lernte Geduld.

Von dort aus floss sie in die nächste Form. Langsam erhob sie sich wieder, ihre Arme und das Schwert breiteten sich in einer weiten, majestätischen Geste aus, als würde ein Phönix seine Flügel zum Flug öffnen. Die Klinge zog einen weiten, silbernen Bogen durch die Luft, ein Versprechen von Freiheit, das aber in der absoluten Kontrolle der Bewegung gehalten wurde. Es war ein Moment des Sammelns, in dem sie die Energie des Waldes, des Mondes und der Bestie in sich aufnahm und in ihrem Zentrum bündelte.

Dann begann sie, die Klinge vor ihrem Körper zu "weben". Komplexe Achter-Figuren, die horizontal, vertikal und diagonal durch die Luft glitten. Die Bewegung war so flüssig, so ununterbrochen, dass die Klinge ihre Form zu verlieren schien. Das Mondlicht, eingefangen von den leuchtenden Runen, verwandelte den Stahl in ein schimmerndes Band aus reinem, flüssigem Silber. Es war kein Tanz des Kampfes mehr, sondern einer der Harmonie. Jede Bewegung floss nahtlos in die nächste, ein endloses Muster, das die verbliebene Wut des Wolfes einfing und sie in die sanfte, meditative Bewegung zwang. Der Wolf kämpfte nicht mehr dagegen an. Er wurde Teil des Flusses, seine Kraft die Energie, die die unendliche Acht am Leben hielt.

Der Tanz wurde langsamer. Noch langsamer. Bis jede Bewegung eine Ewigkeit zu dauern schien. Es war keine Entspannung, sondern die höchste Form der Anspannung. Jeder Muskel ihres Körpers war bis zum Äußersten gespannt, um diese unglaubliche Langsamkeit und Präzision aufrechtzuerhalten. Das Band des Schwertes bewegte sich nun wie durch zähen Honig, jeder Zentimeter ein Triumph des Willens über den Instinkt. Die Luft um sie herum knisterte förmlich von der aufgestauten, komprimierten Energie.

Und dann kam das Ende.

Mit einem einzigen, scharfen Atemzug zerbrach die Stille.

Die langsame, fließende Bewegung explodierte in einer unaussprechlichen Geschwindigkeit. In einem einzigen Augenblick war sie ein Wirbelwind aus Stahl und Schatten. Die meditativen Formen waren verschwunden, ersetzt durch eine rasende Folge von Hieben, Stößen und Pirouetten, die so schnell waren, dass das Auge ihnen kaum folgen konnte. Die Klinge schnitt mit einem lauten Zischen durch die Luft, die leuchtenden Runen waren keine sanften Bänder mehr, sondern aggressive, zuckende Blitze, die die Nacht zerrissen. Der aufgestaute Zorn des Wolfes, die Frustration der Schmiedin, die Trauer der Verbannten – alles entlud sich in diesem einen, kathartischen Moment.

Auf dem Höhepunkt dieser Raserei, als sie sich in einer letzten, atemberaubenden Drehung befand, warf sie den Kopf zurück. Ihre Lippen öffneten sich, und ein Schrei brach aus ihr hervor. Er begann als der klare, scharfe Kampfschrei einer Drow, doch auf halbem Weg wurde er von einer tieferen, wilderen Kraft gekapert. Er schwoll an zu dem rohen, ungefilterten Heulen eines Wolfes, ein markerschütternder Laut, der von den alten Bäumen des Yew Waldes widerhallte. Es war der Schrei der Befreiung, der Schrei allen Schmerzes und aller Wut, der sich endlich einen Weg ins Freie bahnte.

So plötzlich wie er begonnen hatte, endete der Sturm.

Der Schrei verhallte. Ihre Bewegung starb. Sie stand da, das Schwert locker in ihrer herabhängenden Hand, die Spitze im Moos ruhend. Ihr ganzer Körper zitterte von der Nachwirkung der Entladung. Doch zum ersten Mal war es kein Zittern der Angst oder der Anspannung. Es war die reine, physische Erschöpfung.

In ihrem Kopf war Stille. Eine absolute, friedliche, wunderschöne Stille. Der Wolf war nicht besiegt, nicht eingesperrt. Er lag ruhig an ihrer Seite in den Tiefen ihrer Seele, sein Atem war ihr Atem. Alle Gedanken an Elashinn, an Schuld, an die Zukunft waren weggewaschen. Übrig blieben nur der sanfte Schein des Mondes, der kühle Duft des Waldes und eine tiefe, unerschütterliche Harmonie.

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 22 Jul 2025, 00:09
von gelöschter Charakter_546
Tag 6 - Das nächtliche Erwachen
Ein Ruck durchfuhr Alniiras Körper und riss sie aus einem traumlosen Schlaf. Oder war sie noch immer gefangen in einem Traum? Die Grenzen waren verschwommen, unscharf wie die Ränder der Ruinen im fahlen Mondlicht.

Sie lag zusammengekauert unter ihrer Decke, die Kälte des Bodens kroch durch den dünnen Stoff, doch es war eine andere Art von Kälte, die sie erstarren ließ. Eine Kälte, die von außen kam.
Sie fühlte sich beobachtet.

Es war kein Geräusch, kein Geruch, den ihre geschärften Sinne aufnahmen. Es war ein reines, instinktives Gefühl, ein Kribbeln im Nacken, das ihr sagte, dass Augen auf ihr ruhten. Sofort war der Wolf in ihr hellwach. Seine Sinne waren bis zum Zerbersten angespannt, jedes Ohr zuckte. Doch da war nichts. Nichts als das leise Rascheln der Blätter im Wind, der ferne Ruf einer Eule und die unendliche, leere Dunkelheit des Yew Waldes.

Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie waren hier. Ein Suchtrupp der Ilharess. Sie hatte ihre Spuren nicht gut genug verwischt. Sie hatten sie gefunden. Die Panik stieg in ihr auf, heiß und erstickend.

Doch unter der Panik regte sich etwas anderes, etwas Unerwartetes und zutiefst Beschämendes. Ein kleiner, verräterischer Teil in ihr hatte gehofft, dass es die Dunkelelfen waren. Eine quälende Sehnsucht nach der vertrauten Dunkelheit, nach der Ordnung, so grausam sie auch war, nach der einzigen Welt, die sie je gekannt hatte. Diese Sehnsucht war ein Gift, das sich mit ihrer neu gewonnenen Freiheit vermischte. Sie hatte ihre Gründe gehabt zu gehen, gute, starke Gründe. Aber die Wurzeln der Heimat reichten tief. Verzweiflung machte sich in ihr breit, eine schwere, kalte Last, die ihr das Herz zusammenpresste.

Zitternd schob sie die Decke beiseite. Ihre Hand fand den Griff ihres neuen Schwertes. Mit einer schnellen, fast krampfhaften Bewegung zog sie es aus der Scheide und rammte es mit einem dumpfen Geräusch in die weiche Erde vor sich. Sofort erwachten die Mondrunen zum Leben und warfen einen kleinen, pulsierenden Kreis aus sanftem, silbernem Licht um sie. Ein winziges Heiligtum in der überwältigenden Dunkelheit.
Sie kniete in diesem Licht, ihre Finger um den kalten Griff gekrallt, und beugte den Kopf. Die Worte kamen als heiseres, gebrochenes Flüstern.
Alniira hat geschrieben:Herrin des Tanzes, Licht in der Finsternis... ich bin so schwach. Ich dachte, die Freiheit würde mich stark machen, aber sie zeigt mir nur, wie tief meine Ketten reichen. Ein Teil von mir sehnt sich zurück in den Käfig, weil er die einzige Heimat ist, die ich kenne. Dieser Schmerz... diese Zerrissenheit... er ist schlimmer als jeder Kampf. Bitte... hilf mir, diesen Schmerz zu ertragen. Gib mir die Kraft, meine eigene Entscheidung nicht zu verraten. Gib mir Frieden, nur für diese Nacht.
Die Wärme des Lichts der Runen schien sich langsam in ihr auszubreiten, eine sanfte Antwort auf ihr Gebet. Sie vertrieb nicht den Schmerz, aber sie linderte seine schärfsten Kanten. Ihre Augenlider wurden schwer, die Anspannung wich einer tiefen, knochenzermürbenden Müdigkeit. Ihr Kopf sank tiefer, bis ihre Stirn den kalten Stahl des Schwertknaufs berührte.

Und so, im schützenden Licht ihrer eigenen Schöpfung, schlief sie wieder ein

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 22 Jul 2025, 21:31
von gelöschter Charakter_546
Tag 7 - Der Tanz des Abschieds

Der Morgen erwachte nicht mit Zweifel, sondern mit einer kalten, unumstößlichen Entschlossenheit. Der unruhige Schlaf, das verzweifelte Gebet in der Nacht, hatte Alniira nicht gebrochen, sondern ihr eine letzte, schmerzhafte Wahrheit offenbart:
Es war nicht nur Elashinn, das sie vergiftete. Es war die Welt selbst. Die Welt der anderen, mit ihren Erwartungen, ihrer Grausamkeit, ihrer flüchtigen Freundlichkeit und ihrer unweigerlichen Enttäuschung. Sie konnte nicht heilen, solange sie am Rande dieser Wunde lebte. Der Yew Wald war nicht nur eine Zuflucht, er musste ihre neue Welt werden. Vollständig. Ohne Rückkehr.

Sie verbrachte den Tag nicht mit Schmieden oder Jagen. Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen: ihre Werkzeuge, die Decke, die Überreste ihrer Rationen. Es war nicht viel, aber es war alles, was sie von der Welt noch wollte.

Als die Dämmerung die Bäume in lange, wehmütige Schatten tauchte, trat sie ein letztes Mal auf die Lichtung bei den Ruinen. Es war kein Ort des Kampfes mehr, sondern ein Ort des Übergangs. Sie zog ihr neues Schwert, und die Mondrunen leuchteten auf, sanft und verständnisvoll. Der heutige Tanz war kein Gebet um Hilfe und keine Meditation. Es war ein Requiem. Ein Abschied von allem.
Alniira hat geschrieben:Ich kann nicht heilen, was ich nicht loslasse. Heute schneide ich die Fäden durch.
Ihr Tanz begann mit einer letzten, traurigen Verneigung – nicht nur in Richtung des unsichtbaren Elashinn, sondern in alle Himmelsrichtungen. Ihre ersten Bewegungen waren eine leise, melancholische Wiederholung der Welt, die sie verließ. Sie tanzte die starre, stolze Haltung einer Drow, die ihre Angst hinter Arroganz verbirgt. Dann floss die Bewegung in die offene, neugierige Geste eines Oberflächenbewohners, der zum Himmel blickt. Sie tanzte die kontrollierten, kraftvollen Schläge der Schmiedin und die sanfte Berührung einer Heilerin.
Es war kein Spott mehr darin, keine Wut. Nur ein tiefes, unendliches Bedauern für eine Welt, in der sie keinen Platz finden konnte.
Dann veränderte sich der Tanz. Die weichen, erinnernden Bewegungen wurden scharf, präzise und endgültig. Sie stand fest und begann, die unsichtbaren Fesseln zu durchtrennen, die sie an die Welt banden. Ihr Schwert wurde zu einer Schere des Schicksals.
Ein schneller, horizontaler Hieb schnitt die Verbindung zu Elashinn und der Dunkelheit durch. Ein vertikaler Schlag von oben nach unten trennte die Hoffnung auf ein Leben im Sonnenlicht ab. Ein zögernder, aber entschlossener Stoß durchtrennte den schmerzhaften Faden der Schuld, der sie mit Rianon verband. Eine Serie von schnellen, zischenden Stößen zerteilte die Erinnerungen an falsche Freundschaften, an die Geräusche der Taverne, an die Gesichter von Fremden. Die leuchtenden Runen zogen aggressive, aber saubere Linien in die Luft, Narben in der Dämmerung, die heilten, sobald sie gezeichnet waren.
Schließlich wandte sie sich mit einer langsamen, bewussten Drehung von allen Richtungen ab und blickte nur noch zu Boden, auf den kleinen Fleck Erde, auf dem sie stand. Ihr Tanz wurde kleiner, intimer, introspektiver.

Die weiten, aggressiven Bewegungen wichen sanften, nach innen gerichteten Spiralen. Sie tanzte nicht mehr für eine unsichtbare Welt, sondern nur noch für sich selbst. Ihre Füße bewegten sich kaum von der Stelle, während ihr Oberkörper und das Schwert in einer endlosen, fließenden Bewegung um ihr eigenes Zentrum kreisten. Es war der Tanz einer Seele, die aufhört, nach außen zu blicken, und beginnt, den Weg nach innen zu suchen.
Der Wolf in ihr war still. Er verstand. Dies war kein Kampf, sondern eine Migration. Eine Reise zu einem neuen Territorium, das nicht aus Land, sondern aus Geist bestand. Die Einsamkeit war keine Strafe, sondern das einzige sichere Revier.

Der Tanz endete nicht mit einer Explosion oder einem Zusammenbruch. Er verlosch sanft. Sie senkte das Schwert, bis die Spitze das Moos berührte. Sie stand da, aufrecht, und atmete zum ersten Mal die Luft des Waldes nicht als Flüchtling, sondern als Eremitin.

Sie blickte nicht zurück. Sie sammelte ihr kleines Bündel, steckte das Schwert in die Scheide an ihrem Rücken und betrat den Pfad, der tiefer in den Wald führte. Mit jedem Schritt ließ sie ein weiteres Echo der Welt hinter sich, bis nur noch das sanfte Rascheln der Blätter und das Versprechen einer stillen, einsamen Zukunft übrig waren

Re: Alniiras Abendlied

Verfasst: 25 Jul 2025, 18:49
von gelöschter Charakter_893
Ein Bericht aus der Wildnis

Die Tage haben ihre Namen verloren, gezählt nur noch im Wechsel von Mond und Sonne, im Rhythmus von Hunger und Jagd.
Alniira existiert nicht mehr als Schmiedin, nicht als Drow. Sie ist nun Teil des Waldes, eine graue Jägerin unter grauen Jägern.
In ihrer Wolfsgestalt hat sie sich einem Rudel wilder Wölfe angeschlossen, ihre Anwesenheit wurde nach anfänglicher Prüfung mit einer stillen, ehrlichen Akzeptanz aufgenommen.
Hier gibt es keine Lügen, keine Intrigen. Nur den Wind im Fell, die Erde unter den Pfoten und die unkomplizierte Kameradschaft des Rudels.

Als die Nacht hereinbrach und ihre Wolfsbrüder und -schwestern sich zur Ruhe legten, zog sie sich zu ihrer Lichtung zurück. Die Verwandlung zurück in ihre Drow-Gestalt war kein schmerzhafter Kampf mehr, sondern ein sanftes, bewusstes Fließen. Sie streckte ihre Glieder, spürte, wie Knochen und Muskeln sich neu formten, und stand schließlich auf zwei Beinen im Mondlicht.
Sie zog ihr Schwert – nicht als Waffe, sondern als Pinsel für ihre Geschichte.
Der heutige Tanz war keine Bitte und kein Kampf. Es war ein Bericht. Ein Ausdruck reiner, unverfälschter Lebensfreude.
Alniira hat geschrieben:Ich hatte vergessen, wie es sich anfühlt, einfach nur zu sein.
Ihr Tanz begann mit den Bewegungen der Jagd. Sie duckte sich tief, ihre Bewegungen lautlos und geschmeidig, eine perfekte Nachahmung des Anschleichens. Ihr Körper war eine gespannte Feder. Dann explodierte sie nach vorne, das Schwert kein Werkzeug des Todes, sondern ein Blitz aus reiner Geschwindigkeit, der den Moment des Angriffs symbolisierte. Sie sprang, wirbelte, ihre Füße berührten kaum den Boden. Es war der Tanz der Freiheit, der Rausch der Verfolgung, die Freude an der eigenen Kraft, die endlich einen Zweck hatte.

Die Jagd wich dem Spiel. Sie tanzte die ausgelassenen, tollpatschigen Sprünge junger Wölfe, das spielerische Beißen und Jagen im Rudel. Sie lachte, ein klares, helles Geräusch, das in der Stille des Waldes fast fremd klang. Ihr Schwert wirbelte in fröhlichen, unbeschwerten Kreisen um sie herum, die leuchtenden Runen malten Muster purer Freude in die Dunkelheit.
Zum ersten Mal seit einer unendlich langen Zeit war ihr Herz nicht schwer. Es war leicht. Es war wild. Es war frei.
Inmitten dieser Freude hielt sie inne. Sie senkte das Schwert und hob ihr Gesicht zum Mond. Ihre Bewegungen wurden zu einer langsamen, ehrfürchtigen Verneigung. Es war ihr Dank an Elistraee.
Alniira hat geschrieben:Danke, Herrin. Danke, dass du über mich wachst. Danke, dass du mir diesen Frieden gezeigt hast.
Doch mit der Stille kam auch die Erinnerung. Eine leise, melancholische Note schlich sich in ihren Tanz. Die fröhlichen Kreise wichen langen, sehnsüchtigen Linien, die das Schwert in die Leere zog. Sie tanzte die Einsamkeit inmitten des Rudels, das Gefühl, dass ein Teil von ihr noch immer nach jemandem suchte. Rianon. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit sie sich für dieses Exil entschieden hatte. Die Sehnsucht war ein leiser Schmerz, ein Echo einer anderen Welt.

Doch sie ließ sich nicht von ihm überwältigen. Der Tanz endete mit einer letzten, bewussten Bewegung. Sie führte das Schwert langsam zu ihrer eigenen Brust, die Spitze berührte sanft ihr Herz. Es war ein Akt der Selbstakzeptanz. Ein Eingeständnis, dass dieser Schmerz noch da war, aber auch die Erkenntnis, dass sie erst mit sich selbst ins Reine kommen musste, bevor sie sich einer anderen Seele wieder öffnen konnte.

Sie steckte das Schwert zurück in die Scheide. Die Freude war nicht verschwunden, nur vertieft durch die leise Melancholie. Sie war auf dem richtigen Weg. Und zum ersten Mal glaubte sie wirklich daran.