Die Rückkehr zur Mutter
Verfasst: 19 Jul 2025, 23:32
Leere Hallen
Zehn Jahre.
Zehn Jahre hatte sie im Dienst der Göttin verbracht – zwischen Blut und Gebet, Schmerz und Vision, Prüfung und Läuterung. Zehn Jahre an der Arach Tinilith, der finsteren Wiege der Yathrinen. Und nun… die Rückkehr. Als das Portal sich öffnete und die schwarzen Tore des Quellar in Sicht kamen, erwartete sie den Klang. Fanfaren. Fackeln. Vielleicht sogar ein feierliches Opfer – angemessen für eine Tochter des Hauses, für eine Yathrin.
Für Xael’vyra Ky’Alur.
Tochter, Blut und Erbin der Ilharess d’lil Qu’ellar Ky’Alur.
Doch stattdessen: Stille.
Nur das Knirschen ihrer eigenen Schritte auf dem dunklen Stein. Keine knienden Silhouetten. Keine Ehrbezeugung. Keine Familie. Nur zwei Schatten, die auf sie warteten – armselige Repräsentanten des Hauses, das sie einst hervorgebracht hatte. Eine niedere Dienerin, kaum mehr als ein besseres Sklavenmädchen, war die Erste, die ihr entgegentrat. Lyr’sa, wurde ihr gesagt. Nervös, überfordert – und unverschämt genug, sie durch das eigene Heim zu führen, als wäre Xael’vyra eine Fremde, ein verlorenes Kind. An ihrer Seite: That’raen. Ein Sargtlin – wenigstens bewaffnet, doch mit dem Ausdruck eines Mannes, der keine Ahnung hatte, wem er gegenüberstand. Zweitklassig, wie so vieles, das ihr heute geboten wurde.Xael’vyra sagte nichts. Nicht sofort. Ihr Blick sprach für sich – kalt, durchdringend, wie die Klinge, die sie unter ihrem Mantel trug.
„So also empfängt man die Tochter der Ilharess.“ Nicht einmal ausgesprochen – nur gedacht. Aber ihr Schweigen war schärfer als jedes Wort.
Der Rundgang war eine Farce. Lyr’sa stammelte Namen, erwähnte Änderungen, als würde Xael’vyra sich dafür interessieren. Die Halle des Gebets sei verlegt worden. Neue Quartiere für die Waffenmeister. Und natürlich… ein Zimmer für sie selbst – nah am Thronsaal, wie es hieß. Ein Hohn. Ein kleiner Flur, ein Raum mit zwei Kammern. Kaum mehr als ein ausgestatteter Kerker. Xael’vyra spürte, wie sich Bitterkeit wie ein schwelender Nebel in ihr sammelte.
Das war ihr Heim.
Ihr Geburtsrecht.
Und man hatte ihr nicht einmal einen Teppich ausgelegt. War das etwa das Urteil ihrer Mutter? Eine Prüfung? Oder war sie schlicht vergessen worden? Eine Erinnerung, die man nicht mehr zurückerwartet hatte?
In ihrer Brust pochte etwas Dunkles. Keine Trauer – nein.
Verachtung. Enttäuschung.
Verletzter Stolz.
Sie war nicht irgendeine Yathrin. Sie war Xael’vyra.
Erzogen im Namen der Göttin. Geformt in Ketten und Licht.
Und sie hatte den Tempel nicht verlassen, um sich wie eine Bittstellerin behandeln zu lassen.
Dieses Haus hatte ihre Rückkehr nicht gewürdigt.
Aber es würde sich bald an sie erinnern.
Arach Tinilith: Die Schule der Göttin
Xael’vyra stand lange still in ihrem neuen Quartier.
Die Stille schnitt tiefer als jede Begrüßung. Und doch… war sie ihr nicht fremd.
Denn sie hatte das Schweigen gelernt – dort, wo nichts vergeben und nichts vergessen wurde.
Arach Tinilith.
Der Name klang wie ein Urteil – und war doch eine Offenbarung.
Rückblickend war der Eintritt in den Tempel weniger ein Einschnitt als eine Bestimmung. Xael’vyra war ihr ganzes Leben darauf vorbereitet worden. Ihre Kindheit war kein Ort der Wärme, keine Geschichte der Nähe. Ihre Mutter – die Ilharess selbst – war keine Mutter im herkömmlichen Sinne. Sie war eine ferne Sonne, zu hell, zu brennend, als dass man ihr nahe kommen durfte. Was ihr an Zuneigung und Aufmerksamkeit vorenthalten wurde, war stets mit materiellem Überfluss kompensiert worden. Geschenke, Artefakte, Bücher, Schmuck – was immer das Herz eines Kindes begehren mochte, wurde ihr gereicht. Doch es waren leere Gaben, blass gegenüber dem Hunger nach Anerkennung. Sie war ein verwöhntes Kind eines Hauses, das nie wirklich eine Familie war. Und so wuchs sie auf – als Thronfolgerin, als Erbin, als geborene Herrscherin. Mit dem Blick einer Königin – und dem Herzen eines leeren Kelches.
Doch im Tempel wartete keine Ehrung.
Keine Privilegien.
Von dem Tag an, an dem sie die Arach Tinilith betrat, wurde sie nicht wie eine Prinzessin behandelt – sondern wie eine Zielscheibe.
Die Oberinnen erwarteten von ihr das Doppelte.
Weil es ihre Mutter so gefordert hatte.
Ihre Mitschülerinnen hassten sie aus Prinzip.
Weil es ihre Mutter so verdient hatte.
Die Taten der Ilharess hallten durch jede Grotte des Tempels – und Xael’vyra war ihr Echo.
Ein Echo, das man brechen wollte.
Sie war allein.
Nicht, weil sie nicht gelernt hätte, sich anzupassen.
Nicht, weil sie unfähig war, zu gefallen.
Sondern weil sie von Grund auf überzeugt war, dass alle anderen ihr unterlegen waren.
Sie waren es.
Und sie trug diesen Glauben wie ein Wappen auf der Stirn.
Freundschaften waren für andere. Für jene, die Gleichgesinnte brauchten. Xael’vyra hatte sich selbst. Sie musste es. Denn im Tempel galt kein Schutz – nur Stärke. Und Stärke bedeutete, niemandem zu vertrauen. Niemandem zu gehorchen außer der Göttin selbst.
Die oberste Priesterin der Arach Tinilith, die Ulathallar, hatte sie besonders im Blick.
Nicht aus Gunst – sondern aus Erwartung.
Xael’vyra wurde zu jedem Ritual befohlen, oft gezwungen, diese selbst zu leiten, zu tragen, durchzustehen.
Der Schmerz war allgegenwärtig.
Der Anspruch: unmenschlich.
Und das Urteil – stets unausgesprochen.
Doch genau das formte sie.
Während andere im Wahnsinn verloren gingen oder an Intrigen zerbrachen, wuchs Xael’vyra.
Nicht in Freundschaft. Nicht in Mitgefühl.
Sondern in Wissen. In Disziplin. In fanatischer Hingabe.
Sie wurde zu einer Waffe Lloths. Und mehr als das – zu einer Verkünderin ihrer Ankunft.
Denn Xael’vyra wusste: Die Zeit der Spinnenkönigin würde kommen.
Lloth würde die Götter stürzen, das Firmament zerreißen, und vom Netz der Sterne herabsteigen, um die Welt unter ihre Klauen zu legen.
Und wenn dieser Tag kam, würde Xael’vyra an ihrer Seite stehen – nicht als Dienerin, sondern als Stimme. Als Instrument. Vielleicht sogar als Mitregentin über alles Irdische.
Die Schule der Göttin hatte sie gebrochen, neu geformt – und zur Hohepriesterin ihres eigenen Glaubens gemacht.
Nicht durch Gnade.
Sondern durch Prüfung.
Und Lloth hatte gesehen, dass sie würdig war.
Das Wiedersehen
Die Stille hallte in ihr nach, als sie sich dem Thronsaal näherte. Lyr’sa und That’raen gingen voran – Diener, Begleiter, Beobachter. Wenngleich sie sich unterwürfig gaben, war da doch stets dieses kaum greifbare Flackern in ihren Stimmen. Ein Hauch von Spott, als kosteten sie es aus, die Yathrin begleiten zu dürfen wie ein bemitleidenswerter Neuzugang. Und doch… es war auch eine gewisse Genugtuung in Xael’vyra, dass man sie nicht allein sandte. Begleitet aufzutreten war ein Zeichen von Rang – auch wenn die Wahl der Begleiter eine Beleidigung war.
Sie war Xael’vyra Ky’Alur.
Tochter, Blut und Erbin der Ilharess d’lil Qu’ellar Ky’Alur.
Und man ließ sie auftreten wie eine Schülerin.
Insgeheim hatte sie gehofft, der Thronsaal würde alles wettmachen. Vielleicht keine Fanfaren – das wäre unangebracht gewesen. Aber ein Empfang. Ein Zeichen. Etwas, das ihre Rückkehr würdigte.
Stattdessen: Leere.
Nur der Klang ihrer Schritte auf schwarzem Stein.
Und auf dem Thron: eine Statue aus Fleisch. Jhea’kryna Ky’Alur. Ihre Mutter.
Die Ilharess saß reglos. Die Arme auf den Lehnen, das Bein übergeschlagen – nicht in Ruhe, sondern in kalter Dominanz. Die Schlangenpeitsche auf dem Schoß. Die fünf Köpfe zischten leise, als spürten sie ihre Tochter vor dem Thron.
Xael’vyra blieb stehen. Starr. Stolz.
Ilhar... Mutter... ich bin wieder da, sagte sie mit fester Stimme.
Ein Nicken. Kaum mehr.
„Du bist zurückgekehrt, wie es mir von der Ulathallar angekündigt wurde.“
Keine Freude. Kein Stolz. Nur Erwartung.
„Bist du bereit und fähig, deine Pflichten deinem Qu’ellar gegenüber aufzunehmen?“
Xael’vyra hob das Kinn. „Ja...“
Ein Hauch von Selbstzufriedenheit begleitete ihre Worte.
„Die Ausbildung war... interessant. Und lehrreich.“
Ein kaum merkliches Nicken.
„Ist dem so? Dann wirst du mir davon berichten müssen, was unsere Ulathallar dir erzählt hat.“
Die Ilharess erhob sich. Nicht gemessen – sondern fließend, präzise. Ein Schatten wurde zur Bewegung. Xael’vyra hielt den Blick, auch wenn sie innerlich bereits die Kälte spürte, die sich wie Dornen um ihr Herz legte.
Dann begann das Spiel.
Jhea’kryna trat herab, umrundete sie wie ein Raubtier seine Beute. Streifte mit Fingern über Säume, über Stoff. Der Blick analytisch, vernichtend.
„Du bist... schlampig.“
Ein einziges Wort – und Xael’vyras Welt bebte.
„Dein Kragen... er sitzt wie auswendig gelernt, nicht mit Stolz getragen.
Ein Faden am Ärmel – fehlende Achtsamkeit.
Das Wappen... du trägst es zwar. Aber ich kenne die Fadenführung. Du hast es machen lassen. Wie... nachlässig.“
Xael’vyra presste die Lippen zusammen. Ihre Haltung blieb aufrecht, das Kinn hoch. Doch mit jedem Satz sackte sie – kaum sichtbar – ein wenig mehr in sich zusammen. Der Dolch kam am Ende:
„Selbst Lyr’sa ist achtsamer als das.“
Ein Schnitt unter der Haut.
Die Ilharess beendete ihre Prüfung mit einer wegwerfenden Geste.
„Du darfst dein Zimmer beziehen.“
Xael’vyra setzte an, etwas zu sagen – ein Rest von Aufbegehren. Doch der Blick ihrer Mutter traf sie wie eine Peitsche. Sie senkte die Augen. Schweigend.
„Bwael, Ilhar...“
„Malla Ilharess.“
Der Thron nahm sie zurück, als wäre sie nie aufgestanden.
Xael’vyra wandte sich um, der Blick schweifte zu Tath’raen.
„Führt mich zu meinem Zimmer“, sagte sie mit eisiger Stimme.
Der Sargtlin nickte. „Hier.“
Zorn brannte in ihrem Blick, als sie ihm folgte.
Sie konnte kaum fassen, wie sehr man sie gedemütigt hatte.
In ihrem Quartier angekommen, ging sie auf und ab wie eine Raubkatze in einem zu kleinen Käfig. Ihr Spiegelbild musterte sie. Jedes Detail. Jeder Faden. Jeder Fehler.
Sie würde lernen. Korrigieren. Optimieren.
Und dann...
Dann würde sich keiner mehr erlauben, ihr so zu begegnen. Nicht einmal ihre Mutter.
Was die Zukunft bringen wird
Die Tür fiel mit einem leisen, metallischen Klicken ins Schloss.
Xael’vyra stand einen Moment lang wie versteinert. Dann drehte sie sich langsam um – nicht aus Ruhe, sondern aus angespannter Kontrolle. Ihre Schritte waren leise, aber hart. Zielgerichtet. Nur die Luft im Raum zitterte noch – schwer von unausgesprochener Wut.
Der Tag war vorbei. Der Empfang war erfolgt.
Und er war eine Demütigung gewesen.
Xael’vyra ließ sich auf den steinernen Sitz ihres Quartiers sinken. Die Finger verkrampft ineinandergelegt, die Kiefer angespannt. Der Blick starrte ins Nichts. Innerlich tobte ein Sturm.
Sie war die Tochter der Ilharess. Eine Yathrin.
Und man hatte sie behandelt wie eine bloße Schülerin. Wie ein Werkzeug, das man abstellte, bis es gebraucht wurde.
Sie wusste, was sie fühlen sollte: Trauer. Erschütterung.
Doch diese Phase hatte sie vor Jahren überwunden.
Illusionen…
Illusionen über Nähe, über Mutterliebe, über Anerkennung hatte sie tief in den steinernen Hallen der Arach Tinilith beerdigt – neben allem, was einmal weich, kindlich, menschlich gewesen war.
Was blieb, war Zorn. Und Ratlosigkeit. Eine gefährliche Mischung.
Sie lehnte sich zurück. Die Gedanken wollten nicht schweigen.
Die Ruhe, die sie nach ihrer Rückkehr erwartet hatte, war eine Lüge gewesen.
Als sie noch im Tempel war – unter ständigem Misstrauen, inmitten von Intrigen, Folter und Prüfungen – hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, endlich „nach Hause“ zu kommen.
Ein Platz. Ein Rang. Eine Rolle.
Und nun…
Nichts davon war wahr.
Was sie heute erlebt hatte, war schlimmer als jede Prüfung der Ulathallar.
Denn es war kein Ritual.
Keine Lektion.
Es war Realität.
Xael’vyra drehte sich auf die Seite, die Stirn in die kalte Decke gedrückt. Schlaf fand sie nicht. Der Zorn war zu frisch. Das Denken zu laut.
Sie wusste, dass sie sich gut überlegen musste, wie sie nun agieren würde.
Jede Reaktion würde beobachtet werden.
Jedes Wort, jede Geste konnte und würde gegen sie verwendet werden.
Und vor allem:
Wie sollte sie mit ihrer Mutter umgehen?
Jhea’kryna war keine Matrone, die sich mit Stärke beeindrucken ließ. Sie hatte Xael’vyra durch andere Augen gesehen – durch die Augen der Politik. Und das bedeutete: Xael’vyra war nicht Tochter. Sie war Spielstein. Rivalin. Schachfigur.
Ein kalter Gedanke kroch in ihren Geist:
Vielleicht hatte das Taktieren nie aufgehört.
Vielleicht war der Tempel nur die Vorbereitung gewesen.
Vielleicht…
war das hier erst der Anfang.
Xael’vyra schlug die Augen auf. Starrte an die Decke.
Wenn es so war – dann würde sie vorbereitet sein.
Dann würde sie nicht mehr nur Tochter sein.
Nicht mehr nur Yathrin.
Sondern das, was man aus ihr gemacht hatte:
Ein Werkzeug Lloths. Und vielleicht eines Tages – ihre Stimme.
Zehn Jahre.
Zehn Jahre hatte sie im Dienst der Göttin verbracht – zwischen Blut und Gebet, Schmerz und Vision, Prüfung und Läuterung. Zehn Jahre an der Arach Tinilith, der finsteren Wiege der Yathrinen. Und nun… die Rückkehr. Als das Portal sich öffnete und die schwarzen Tore des Quellar in Sicht kamen, erwartete sie den Klang. Fanfaren. Fackeln. Vielleicht sogar ein feierliches Opfer – angemessen für eine Tochter des Hauses, für eine Yathrin.
Für Xael’vyra Ky’Alur.
Tochter, Blut und Erbin der Ilharess d’lil Qu’ellar Ky’Alur.
Doch stattdessen: Stille.
Nur das Knirschen ihrer eigenen Schritte auf dem dunklen Stein. Keine knienden Silhouetten. Keine Ehrbezeugung. Keine Familie. Nur zwei Schatten, die auf sie warteten – armselige Repräsentanten des Hauses, das sie einst hervorgebracht hatte. Eine niedere Dienerin, kaum mehr als ein besseres Sklavenmädchen, war die Erste, die ihr entgegentrat. Lyr’sa, wurde ihr gesagt. Nervös, überfordert – und unverschämt genug, sie durch das eigene Heim zu führen, als wäre Xael’vyra eine Fremde, ein verlorenes Kind. An ihrer Seite: That’raen. Ein Sargtlin – wenigstens bewaffnet, doch mit dem Ausdruck eines Mannes, der keine Ahnung hatte, wem er gegenüberstand. Zweitklassig, wie so vieles, das ihr heute geboten wurde.Xael’vyra sagte nichts. Nicht sofort. Ihr Blick sprach für sich – kalt, durchdringend, wie die Klinge, die sie unter ihrem Mantel trug.
„So also empfängt man die Tochter der Ilharess.“ Nicht einmal ausgesprochen – nur gedacht. Aber ihr Schweigen war schärfer als jedes Wort.
Der Rundgang war eine Farce. Lyr’sa stammelte Namen, erwähnte Änderungen, als würde Xael’vyra sich dafür interessieren. Die Halle des Gebets sei verlegt worden. Neue Quartiere für die Waffenmeister. Und natürlich… ein Zimmer für sie selbst – nah am Thronsaal, wie es hieß. Ein Hohn. Ein kleiner Flur, ein Raum mit zwei Kammern. Kaum mehr als ein ausgestatteter Kerker. Xael’vyra spürte, wie sich Bitterkeit wie ein schwelender Nebel in ihr sammelte.
Das war ihr Heim.
Ihr Geburtsrecht.
Und man hatte ihr nicht einmal einen Teppich ausgelegt. War das etwa das Urteil ihrer Mutter? Eine Prüfung? Oder war sie schlicht vergessen worden? Eine Erinnerung, die man nicht mehr zurückerwartet hatte?
In ihrer Brust pochte etwas Dunkles. Keine Trauer – nein.
Verachtung. Enttäuschung.
Verletzter Stolz.
Sie war nicht irgendeine Yathrin. Sie war Xael’vyra.
Erzogen im Namen der Göttin. Geformt in Ketten und Licht.
Und sie hatte den Tempel nicht verlassen, um sich wie eine Bittstellerin behandeln zu lassen.
Dieses Haus hatte ihre Rückkehr nicht gewürdigt.
Aber es würde sich bald an sie erinnern.
Arach Tinilith: Die Schule der Göttin
Xael’vyra stand lange still in ihrem neuen Quartier.
Die Stille schnitt tiefer als jede Begrüßung. Und doch… war sie ihr nicht fremd.
Denn sie hatte das Schweigen gelernt – dort, wo nichts vergeben und nichts vergessen wurde.
Arach Tinilith.
Der Name klang wie ein Urteil – und war doch eine Offenbarung.
Rückblickend war der Eintritt in den Tempel weniger ein Einschnitt als eine Bestimmung. Xael’vyra war ihr ganzes Leben darauf vorbereitet worden. Ihre Kindheit war kein Ort der Wärme, keine Geschichte der Nähe. Ihre Mutter – die Ilharess selbst – war keine Mutter im herkömmlichen Sinne. Sie war eine ferne Sonne, zu hell, zu brennend, als dass man ihr nahe kommen durfte. Was ihr an Zuneigung und Aufmerksamkeit vorenthalten wurde, war stets mit materiellem Überfluss kompensiert worden. Geschenke, Artefakte, Bücher, Schmuck – was immer das Herz eines Kindes begehren mochte, wurde ihr gereicht. Doch es waren leere Gaben, blass gegenüber dem Hunger nach Anerkennung. Sie war ein verwöhntes Kind eines Hauses, das nie wirklich eine Familie war. Und so wuchs sie auf – als Thronfolgerin, als Erbin, als geborene Herrscherin. Mit dem Blick einer Königin – und dem Herzen eines leeren Kelches.
Doch im Tempel wartete keine Ehrung.
Keine Privilegien.
Von dem Tag an, an dem sie die Arach Tinilith betrat, wurde sie nicht wie eine Prinzessin behandelt – sondern wie eine Zielscheibe.
Die Oberinnen erwarteten von ihr das Doppelte.
Weil es ihre Mutter so gefordert hatte.
Ihre Mitschülerinnen hassten sie aus Prinzip.
Weil es ihre Mutter so verdient hatte.
Die Taten der Ilharess hallten durch jede Grotte des Tempels – und Xael’vyra war ihr Echo.
Ein Echo, das man brechen wollte.
Sie war allein.
Nicht, weil sie nicht gelernt hätte, sich anzupassen.
Nicht, weil sie unfähig war, zu gefallen.
Sondern weil sie von Grund auf überzeugt war, dass alle anderen ihr unterlegen waren.
Sie waren es.
Und sie trug diesen Glauben wie ein Wappen auf der Stirn.
Freundschaften waren für andere. Für jene, die Gleichgesinnte brauchten. Xael’vyra hatte sich selbst. Sie musste es. Denn im Tempel galt kein Schutz – nur Stärke. Und Stärke bedeutete, niemandem zu vertrauen. Niemandem zu gehorchen außer der Göttin selbst.
Die oberste Priesterin der Arach Tinilith, die Ulathallar, hatte sie besonders im Blick.
Nicht aus Gunst – sondern aus Erwartung.
Xael’vyra wurde zu jedem Ritual befohlen, oft gezwungen, diese selbst zu leiten, zu tragen, durchzustehen.
Der Schmerz war allgegenwärtig.
Der Anspruch: unmenschlich.
Und das Urteil – stets unausgesprochen.
Doch genau das formte sie.
Während andere im Wahnsinn verloren gingen oder an Intrigen zerbrachen, wuchs Xael’vyra.
Nicht in Freundschaft. Nicht in Mitgefühl.
Sondern in Wissen. In Disziplin. In fanatischer Hingabe.
Sie wurde zu einer Waffe Lloths. Und mehr als das – zu einer Verkünderin ihrer Ankunft.
Denn Xael’vyra wusste: Die Zeit der Spinnenkönigin würde kommen.
Lloth würde die Götter stürzen, das Firmament zerreißen, und vom Netz der Sterne herabsteigen, um die Welt unter ihre Klauen zu legen.
Und wenn dieser Tag kam, würde Xael’vyra an ihrer Seite stehen – nicht als Dienerin, sondern als Stimme. Als Instrument. Vielleicht sogar als Mitregentin über alles Irdische.
Die Schule der Göttin hatte sie gebrochen, neu geformt – und zur Hohepriesterin ihres eigenen Glaubens gemacht.
Nicht durch Gnade.
Sondern durch Prüfung.
Und Lloth hatte gesehen, dass sie würdig war.
Das Wiedersehen
Die Stille hallte in ihr nach, als sie sich dem Thronsaal näherte. Lyr’sa und That’raen gingen voran – Diener, Begleiter, Beobachter. Wenngleich sie sich unterwürfig gaben, war da doch stets dieses kaum greifbare Flackern in ihren Stimmen. Ein Hauch von Spott, als kosteten sie es aus, die Yathrin begleiten zu dürfen wie ein bemitleidenswerter Neuzugang. Und doch… es war auch eine gewisse Genugtuung in Xael’vyra, dass man sie nicht allein sandte. Begleitet aufzutreten war ein Zeichen von Rang – auch wenn die Wahl der Begleiter eine Beleidigung war.
Sie war Xael’vyra Ky’Alur.
Tochter, Blut und Erbin der Ilharess d’lil Qu’ellar Ky’Alur.
Und man ließ sie auftreten wie eine Schülerin.
Insgeheim hatte sie gehofft, der Thronsaal würde alles wettmachen. Vielleicht keine Fanfaren – das wäre unangebracht gewesen. Aber ein Empfang. Ein Zeichen. Etwas, das ihre Rückkehr würdigte.
Stattdessen: Leere.
Nur der Klang ihrer Schritte auf schwarzem Stein.
Und auf dem Thron: eine Statue aus Fleisch. Jhea’kryna Ky’Alur. Ihre Mutter.
Die Ilharess saß reglos. Die Arme auf den Lehnen, das Bein übergeschlagen – nicht in Ruhe, sondern in kalter Dominanz. Die Schlangenpeitsche auf dem Schoß. Die fünf Köpfe zischten leise, als spürten sie ihre Tochter vor dem Thron.
Xael’vyra blieb stehen. Starr. Stolz.
Ilhar... Mutter... ich bin wieder da, sagte sie mit fester Stimme.
Ein Nicken. Kaum mehr.
„Du bist zurückgekehrt, wie es mir von der Ulathallar angekündigt wurde.“
Keine Freude. Kein Stolz. Nur Erwartung.
„Bist du bereit und fähig, deine Pflichten deinem Qu’ellar gegenüber aufzunehmen?“
Xael’vyra hob das Kinn. „Ja...“
Ein Hauch von Selbstzufriedenheit begleitete ihre Worte.
„Die Ausbildung war... interessant. Und lehrreich.“
Ein kaum merkliches Nicken.
„Ist dem so? Dann wirst du mir davon berichten müssen, was unsere Ulathallar dir erzählt hat.“
Die Ilharess erhob sich. Nicht gemessen – sondern fließend, präzise. Ein Schatten wurde zur Bewegung. Xael’vyra hielt den Blick, auch wenn sie innerlich bereits die Kälte spürte, die sich wie Dornen um ihr Herz legte.
Dann begann das Spiel.
Jhea’kryna trat herab, umrundete sie wie ein Raubtier seine Beute. Streifte mit Fingern über Säume, über Stoff. Der Blick analytisch, vernichtend.
„Du bist... schlampig.“
Ein einziges Wort – und Xael’vyras Welt bebte.
„Dein Kragen... er sitzt wie auswendig gelernt, nicht mit Stolz getragen.
Ein Faden am Ärmel – fehlende Achtsamkeit.
Das Wappen... du trägst es zwar. Aber ich kenne die Fadenführung. Du hast es machen lassen. Wie... nachlässig.“
Xael’vyra presste die Lippen zusammen. Ihre Haltung blieb aufrecht, das Kinn hoch. Doch mit jedem Satz sackte sie – kaum sichtbar – ein wenig mehr in sich zusammen. Der Dolch kam am Ende:
„Selbst Lyr’sa ist achtsamer als das.“
Ein Schnitt unter der Haut.
Die Ilharess beendete ihre Prüfung mit einer wegwerfenden Geste.
„Du darfst dein Zimmer beziehen.“
Xael’vyra setzte an, etwas zu sagen – ein Rest von Aufbegehren. Doch der Blick ihrer Mutter traf sie wie eine Peitsche. Sie senkte die Augen. Schweigend.
„Bwael, Ilhar...“
„Malla Ilharess.“
Der Thron nahm sie zurück, als wäre sie nie aufgestanden.
Xael’vyra wandte sich um, der Blick schweifte zu Tath’raen.
„Führt mich zu meinem Zimmer“, sagte sie mit eisiger Stimme.
Der Sargtlin nickte. „Hier.“
Zorn brannte in ihrem Blick, als sie ihm folgte.
Sie konnte kaum fassen, wie sehr man sie gedemütigt hatte.
In ihrem Quartier angekommen, ging sie auf und ab wie eine Raubkatze in einem zu kleinen Käfig. Ihr Spiegelbild musterte sie. Jedes Detail. Jeder Faden. Jeder Fehler.
Sie würde lernen. Korrigieren. Optimieren.
Und dann...
Dann würde sich keiner mehr erlauben, ihr so zu begegnen. Nicht einmal ihre Mutter.
Was die Zukunft bringen wird
Die Tür fiel mit einem leisen, metallischen Klicken ins Schloss.
Xael’vyra stand einen Moment lang wie versteinert. Dann drehte sie sich langsam um – nicht aus Ruhe, sondern aus angespannter Kontrolle. Ihre Schritte waren leise, aber hart. Zielgerichtet. Nur die Luft im Raum zitterte noch – schwer von unausgesprochener Wut.
Der Tag war vorbei. Der Empfang war erfolgt.
Und er war eine Demütigung gewesen.
Xael’vyra ließ sich auf den steinernen Sitz ihres Quartiers sinken. Die Finger verkrampft ineinandergelegt, die Kiefer angespannt. Der Blick starrte ins Nichts. Innerlich tobte ein Sturm.
Sie war die Tochter der Ilharess. Eine Yathrin.
Und man hatte sie behandelt wie eine bloße Schülerin. Wie ein Werkzeug, das man abstellte, bis es gebraucht wurde.
Sie wusste, was sie fühlen sollte: Trauer. Erschütterung.
Doch diese Phase hatte sie vor Jahren überwunden.
Illusionen…
Illusionen über Nähe, über Mutterliebe, über Anerkennung hatte sie tief in den steinernen Hallen der Arach Tinilith beerdigt – neben allem, was einmal weich, kindlich, menschlich gewesen war.
Was blieb, war Zorn. Und Ratlosigkeit. Eine gefährliche Mischung.
Sie lehnte sich zurück. Die Gedanken wollten nicht schweigen.
Die Ruhe, die sie nach ihrer Rückkehr erwartet hatte, war eine Lüge gewesen.
Als sie noch im Tempel war – unter ständigem Misstrauen, inmitten von Intrigen, Folter und Prüfungen – hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, endlich „nach Hause“ zu kommen.
Ein Platz. Ein Rang. Eine Rolle.
Und nun…
Nichts davon war wahr.
Was sie heute erlebt hatte, war schlimmer als jede Prüfung der Ulathallar.
Denn es war kein Ritual.
Keine Lektion.
Es war Realität.
Xael’vyra drehte sich auf die Seite, die Stirn in die kalte Decke gedrückt. Schlaf fand sie nicht. Der Zorn war zu frisch. Das Denken zu laut.
Sie wusste, dass sie sich gut überlegen musste, wie sie nun agieren würde.
Jede Reaktion würde beobachtet werden.
Jedes Wort, jede Geste konnte und würde gegen sie verwendet werden.
Und vor allem:
Wie sollte sie mit ihrer Mutter umgehen?
Jhea’kryna war keine Matrone, die sich mit Stärke beeindrucken ließ. Sie hatte Xael’vyra durch andere Augen gesehen – durch die Augen der Politik. Und das bedeutete: Xael’vyra war nicht Tochter. Sie war Spielstein. Rivalin. Schachfigur.
Ein kalter Gedanke kroch in ihren Geist:
Vielleicht hatte das Taktieren nie aufgehört.
Vielleicht war der Tempel nur die Vorbereitung gewesen.
Vielleicht…
war das hier erst der Anfang.
Xael’vyra schlug die Augen auf. Starrte an die Decke.
Wenn es so war – dann würde sie vorbereitet sein.
Dann würde sie nicht mehr nur Tochter sein.
Nicht mehr nur Yathrin.
Sondern das, was man aus ihr gemacht hatte:
Ein Werkzeug Lloths. Und vielleicht eines Tages – ihre Stimme.