So flog sie, flatterte über Berge und Täler der Schattenwelt, bis sie an einen Pass weit im Nordwesten der Welt gelangte, der wie ein Spalt in den Felsen lag. Hier schlängelte sich ein schmaler Pfad hindurch, kaum breit genug für zwei Maultiere nebeneinander. Die Steine waren brüchig, die Schatten tief, und nur das Rauschen des Windes und das Klacken von losen Geröllstücken erfüllten die Luft. Orrypha fühlte, wie ihr Herz flatterte. Hier würde sie nisten. Hier würden Reisende, Händler und Pilger durchmüssen – und hier würden sie lernen, wie eine Harpyie Gastfreundschaft verstand.
Schon bald fiel ihr auf, dass in den Spalten des Gesteins kleine grüne Halme wuchsen. Erst glaubte sie, es seien nur dürre Kräuter, doch als sie mit krummen Krallen ein Büschel ausriss und zwischen ihren spitzen Zähnen zerkaute, da breitete sich ein Geschmack in ihrem Mund aus, der nicht nur scharf, sondern irgendwie… erfrischend war.
„Par-sil-ja“, krächzte sie, und ihre Stimme hallte am Felsen wider. „Ein Kraut, das selbst den Gestank von Menschenschweiß überdeckt! Ein Kraut, das die Zunge kitzelt und das Blut süß macht! Ha-haaa!“
Von diesem Tag an beschloss Orrypha, allen Reisenden eine letzte Höflichkeit zu erweisen: Sie sollten von der Petersilie kosten, ehe sie ihnen das Fleisch von den Knochen riss. „Es ist nur nett“, erklärte sie mit ernster Miene, als ob dies eine alte Tradition der Gastfreundschaft wäre. „Schmeckt besser, für mich und für euch!“
Der erste, der den Pass wagte, war ein Händler mit einem Karren voller Leinenballen. Orrypha schwang sich auf einen Felsen über ihm und ließ ihre Schwingen rauschen, bis der arme Kerl starr vor Schreck nach oben blickte.
„Haaa!“ kreischte sie. „Halt ein, du Lump, der du hier mein Revier betrittst! Willst du leben, oder zumindest lecker sterben?“
Der Mann stammelte, dass er doch nur durchwolle.
„Durch? DURCH?“, gackerte Orrypha. „Zuerst isst du! Da, Petersilie! Kau! KAU!“
Er wagte nicht zu widersprechen. Mit zitternden Fingern stopfte er sich das Kraut in den Mund. Orrypha sah wohlgefällig zu, wie er kaute, und nickte. „So ist es brav. Und nun… FLIEG!“ Sie stürzte sich herab, riss ihn von den Füßen, und wenig später blieb nur noch der Karren übrig, den sie achtlos den Hang hinunterrollen ließ.
Von diesem Tag an galten Regeln im Pass:
- Jeder Reisende musste Petersilie essen.
- Wer sich weigerte, wurde besonders herzhaft verspeist.
- Wer gut kaute, durfte vielleicht ein Lied singen, ehe er starb.
Es dauerte nicht lange, bis Gerüchte den Nordwesten durchzogen. Man sprach von der Harpyie im Pass, die nicht nur fraß, sondern auch forderte, dass man sich selbst würzte. Manche Händler begannen, kleine Bündel Petersilie in ihre Taschen zu stecken, um vorbereitet zu sein. Andere hielten es für einen Aberglauben – bis sie nie wieder gesehen wurden.
Barden dichteten Spottlieder:
„Orrypha krächzt vom Felsen steil,
iss Petersil’ und bleib mir heil.
Doch wenn du kaust nicht brav und nett,
dann liegst du bald in ihrem Bett!“
Kinder spielten „Harpyie und Händler“ auf den Dörfern. Der eine musste auf einem Stein hocken und kreischen, die anderen krochen unter ihm hindurch und stopften sich Gras in den Mund, um nicht gefressen zu werden. Und Orrypha selbst genoss den Ruhm. Wenn sie ihre Flügel breitete und in den Himmel schrie, hallte es nicht nur vom Fels wider, sondern von den Geschichten, die man sich über sie erzählte. Doch Orrypha blieb nicht allein. Eines Tages flatterten zwei ihrer Schwestern aus dem Harpyienwald heran: Kkraasha, die für ihre schrillen Gesänge bekannt war, und Myleth, die fast nur Federn und Knochen war, so dürr, dass man durch sie hindurchsehen konnte.
„Orrypha!“, kreischten sie. „Du hast dir einen feinen Horst gesucht! Platz, Beute, Kräuter! Wir wollen auch!“
Zunächst wollte Orrypha ihr Revier verteidigen. Doch dann dachte sie an die Petersilie, an den schmalen Pfad und daran, wie viel einfacher es war, mit mehreren Kehlen zu schreien, als allein. Also gestattete sie ihnen, in benachbarten Klippen zu nisten. Bald schwirrten noch mehr Harpyien heran, und der Pass wurde zu einem Ort, den man den „Kräuterhorst“ nannte.
Mit den Schwestern zusammen entwickelte Orrypha ein Ritual. Reisende wurden nicht einfach gefressen – oh nein! Sie wurden auf die Felsen gestellt, die Harpyien flatterten um sie herum, und jede drückte ihnen ein Bündel Petersilie in die Hand. Dann mussten sie ein Lied singen, ein Gebet sprechen oder wenigstens einen Schrei ausstoßen.
„Das ist unsere Liturgie!“, rief Orrypha stolz. „So ehren wir das Kraut, so ehren wir das Mahl, so ehren wir uns selbst!“
Die Harpyien begannen sogar, Kränze aus Petersilie zu flechten, die sie den Opfern auf den Kopf setzten, bevor sie ihnen diesen Kopf abrissen.
Manch einer meinte später, dass es fast so aussah wie ein seltsames Priesteramt, nur dass die Predigt mit Krallen und Zähnen endete.
