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Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 31 Aug 2025, 17:19
von Rianon
1 - Der Ruf des Friedens
Der Regen hatte den Wald in eine stille Umarmung gehüllt, feine Tropfen glitzerten wie kalte Splitter auf dem smaragdgrünen Moos, das den Boden bedeckte, und hingen schwer an den Zweigen der uralten Eichen, deren knorrige Wurzeln wie die Finger vergessener Riesen aus der Erde ragten. Rianon bewegte sich zwischen diesen Säulen aus Holz und Zeit, so lautlos, dass selbst der Atem des Waldes ihn kaum wahrnahm. Sein Schritt war federnd, der Boden nachgiebig und feucht unter seinen Stiefeln, und jeder Laut, jedes Knacken von Holz, das unter dem Gewicht brach, jedes Zittern eines Blattes im Wind drang klar und unverfälscht in sein Bewusstsein. Es war, als sei der Wald Teil von ihm, als sei sein Herzschlag mit dem Puls der Bäume verwoben, und dennoch fühlte er sich fremd – wie ein Schatten, der seinen eigenen Körper verlassen hatte.
Die Luft schmeckte nach Regen und Eisen, nach feuchter Erde und verwittertem Holz, und irgendwo fern trug der Wind den metallischen Hauch von Blut heran, alt und schwach, vielleicht das eines Rehs, das in der Nacht gefallen war. Der Geruch legte sich wie eine Erinnerung auf seine Sinne, süß und scharf zugleich, und tief in ihm, dort, wo der Wolf schlief, regte sich das erste unstete Grollen. Sein Rudel war nicht bei ihm. Weder das leise, treue Trappeln von Koda und Naya noch der feste, bestimmte Schritt von Alniira begleiteten ihn. Auch waren seine anderen Freunde unter den Waldelfen fern. Das Lachen von Ira, die Klänge, welche Yâranel auf seinen Instrumenten hervorbringen kann oder das funkelnde Lächeln in dem lieblichen Gesicht von Lirael. Zum ersten Mal seit vielen Wochen war er allein unterwegs, ohne die Wärme derer, die ihm vertraut waren, ohne die Sicherheit, die ihr Atem in der Nacht bot. Nur er und das Wispern des Waldes, das an diesem Tag schwerer klang, als wäre selbst die Natur in eine tiefe Melancholie gefallen.
Doch die Stille brachte keinen Frieden. Sie trug nur die Stimmen seiner Erinnerungen heran, und je tiefer er in das Herz des Waldes drang, desto lauter wurden sie. Da war das leise Flehen des Yewbaum-Setzlings, dessen uralte Seele er aus den Klauen der Fäulnis befreit hatte; das Echo eines Lebens, das älter war als seine eigene Erinnerung. Er hörte den verzerrten Schrei des Mannes, der an der Schwelle zwischen Mensch und Bestie zerbrach, als hätte der Mond selbst ihn mit den Klauen der Verwandlung ergriffen und sein Fleisch aufgerissen. Und da waren die Schatten jener Nächte, in denen Untote durch den Wald gewandert waren, leere Hüllen ohne Atem, deren Kälte tiefer war als die schärfste Klinge. Alles in ihm trug diese Bilder wie Narben unter der Haut, unsichtbar, doch stets spürbar.
Und der Wolf, der Teil von ihm war, ließ sie nicht ruhen. In seinem Inneren drängte das Raubtier, ungeduldig, wild, verlangend. Manchmal war es nur ein Flüstern, wie das Knistern von Laub im Wind, und manchmal so laut wie das Heulen eines Rudels im Tal, unüberhörbar, unübersehbar. Der Elf in ihm suchte nach Ordnung, nach der klaren Linie, nach einem Weg, auf dem Vernunft die Schritte lenkte. Der Wolf aber kannte keine Pfade. Er kannte nur Instinkt. Hunger. Jagd. Freiheit. Außerdem war da noch der Adler, sein Seelentier, dessen Rufe laut hallten und nach seiner Aufmerksamkeit riefen. Und immer häufiger geschah es, dass Rianon in der Dunkelheit der Nacht aufwachte und sich selbst fragte, welche Stimme die seine war.
„Genug.“ Das Wort kam leise, kaum mehr als ein rauer Hauch zwischen den Zähnen, doch es hallte in ihm nach wie der Schlag einer Axt in Holz. Er hielt inne, legte die Hand auf die Rinde einer alten Buche und ließ die Fingerkuppen über die feuchte Oberfläche gleiten. Der Wald war alt. Er kannte den Schmerz der Zeit, das Vergehen und die Wunden, die Generationen schlugen. Und dennoch wuchs er weiter, reckte seine Äste dem Licht entgegen, so, wie er es seit Jahrhunderten tat. Vielleicht lag darin die Antwort, die er suchte.
Seine grünen Augen glitten über das Unterholz, über das zarte Spiel von Farnen und Wurzeln, die wie Adern aus der Erde brachen. Er spürte, wie der Wind seinen feuchten Atem in den Wald trug, und mit ihm kam der ferne Hauch von Harz und feuchtem Stein, der nach einem Ort roch, den er noch nicht kannte. Etwas in dieser Richtung lockte ihn, leise und doch bestimmt, wie eine Stimme, die nicht in Worten sprach, sondern in Gerüchen, in Licht und Schatten. Vielleicht lag dort Frieden, vielleicht nur eine neue Bürde – aber er wusste, dass er gehen musste.
Er zog die Kapuze seines Umhangs tiefer ins Gesicht, ließ den Kopf leicht gesenkt, um dem Wind zu lauschen, und setzte sich wieder in Bewegung. Die Schritte wurden schneller, fließender, bis sein Körper sich wie von selbst bewegte, Muskel auf Muskel, kontrolliert und doch ungebändigt, der Rhythmus des Laufens alt wie das Rudel selbst. Dann brach das Knacken eines Astes hinter ihm die Harmonie der Geräusche. Rianon verharrte augenblicklich, der Atem stockte, und für einen Herzschlag war alles still, nur das ferne Trommeln des Regens begleitete die Spannung. Seine Sinne schärften sich, der Wolf wachte, der Adler flog, beide rissen seine Gedanken fort und ließ nur das Jetzt zu. Herzschlag. Atmung. Richtung. Er roch es, lange bevor er es sah: Tier. Warm. Leben. Ein Reh, schwach und verwundet, nicht weit entfernt. Sein inneres Raubtier spannte die Muskeln, schickte Impulse durch seine Adern, verlangte nach Jagd, nach dem Blut, das er schon zu schmecken glaubte. Der Elf in ihm aber stemmte sich gegen diesen Ruf. Nicht heute. Nicht jetzt. Er suchte keinen Kampf, keine Beute, keine Bestätigung seines Überlebens. Ein leises Knurren entrang sich dennoch seiner Kehle, ungewollt, tief, kehlig, wild, ehe er die Augen schloss und die Spannung fortdrängte. „Nicht heute,“ murmelte er rau, und das leise, fast heisere Timbre seiner Stimme verlor sich im schweren Atem des Waldes. Heute würde er lediglich den Frieden jagen.

Re: Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 01 Sep 2025, 13:17
von Rianon
2 - Die Ebenen vor Britian
Der Regen ließ nach, doch die Luft blieb schwer, gesättigt von Feuchtigkeit und dem dumpfen Duft nasser Erde. Rianon wanderte weiter, sein Blick nicht auf einen Weg gerichtet, denn einen Pfad gab es hier nicht, nur das dichte Geflecht aus Farnen, Moosen und knorrigen Wurzeln, die wie Schlangen unter dem Blattwerk verborgen lagen. Er bewegte sich, ohne wirklich zu wissen, wohin ihn seine Schritte trugen, und jeder Schritt war weniger eine Entscheidung als ein Reflex, geboren aus jener tiefen Verbundenheit mit dem Land, das ihn trug. Seine Gedanken jedoch waren unstet, zerrissen wie aufgewühltes Laub im Wind, und je weiter er ging, desto mehr verstrickte er sich in den Fäden seines eigenen inneren Chaos.
In ihm war es nicht still. Der Wolf lag nicht mehr schlafend in den Tiefen seines Wesens, sondern war wach, unruhig, drängend, seine Instinkte wie scharfe Fänge, die sich immer wieder in die Fäden seines Verstandes gruben. Hunger, Jagd, Freiheit – Bilder von fliehender Beute, von Fleisch und Blut, vom nackten Überleben glitten ungerufen durch sein Bewusstsein, und er spürte, wie sein Körper manchmal unwillkürlich darauf reagierte, wie sich die Muskeln spannten, die Atmung schneller wurde, als wolle der Wolf die Führung übernehmen. Doch kaum war dieser Drang spürbar, da breitete sich von einer anderen Seite eine Kühle in ihm aus, eine Schwere, die nicht vom Regen kam. Der Adler, sein Seelentier, erhob sich in seinen Gedanken, nicht als Stimme, sondern als Gefühl, als stumme Sehnsucht, die in die Ferne rief. Anders als der Wolf verlangte er nicht nach Blut, sondern nach Höhe, nach Weite, nach dem Blick von oben, wo die Welt nicht mehr in Geruch und Laut, sondern in Linien und Strömen sichtbar wurde, im Atem von Winden und Sternen. Der Wolf zog ihn hinab, hin zu Erde, Fell und Fangzähnen. Der Adler zog ihn hinauf, in den Himmel, in die Ferne, in eine Freiheit, die nicht das Töten, sondern das Loslassen kannte. Zwischen diesen beiden Kräften, diesen ungleichen Spiegelbildern seiner eigenen Natur, ging Rianon verloren.
Er wusste nicht, ob er noch Stunden oder nur Augenblicke lief, denn die Zeit zerfloss zwischen dem gleichmäßigen Trommeln seiner Schritte und dem Wispern des Waldes um ihn. Der Regen hatte ein feines Netz aus Tropfen auf den Farnen hinterlassen, und jedes Mal, wenn er an ihnen vorbeistrich, sprühten sie glitzernde Perlen, die sich kühl auf seiner Haut niederlegten. Der Geruch der Erde stieg schwerer auf, je tiefer er in die Schatten vordrang, und zwischen den knorrigen Stämmen, deren Kronen das Licht verschluckten, fühlte er die uralte Gegenwart des Waldes, die ihm sonst Trost war, nun aber wie ein Spiegel seiner eigenen Zerrissenheit wirkte. Jeder Laut schien klarer als sonst, fast scharf: das ferne Rufen eines Eichelhähers, das leise Rieseln von Wasser, das in Rinnsalen über moosbedeckte Steine rann, das unterdrückte Rascheln von kleinen Tieren, die seinen Weg mieden. Und immer wieder die beiden Strömungen in ihm – das Heulen des Wolfes tief in seinen Adern, das Rauschen der Schwingen des Adlers hoch in seinen Gedanken.
Er fragte sich, wer er war, wenn beides von ihm abfiele. Ein Elf? Ein Waldläufer? Ein Kämpfer? Oder nur eine leere Hülle, geformt von Kräften, die älter waren als seine eigene Entscheidung? Es war diese Frage, die ihn in Nächten ohne Schlaf wach hielt, die ihn trieb, obwohl er keine Antwort fand, und die ihn jetzt durch das endlose Grün des Waldes führte, während der Boden unter seinen Stiefeln leiser wurde, weicher, als hätte er unmerklich höher gelegenes Terrain betreten.
Er bemerkte erst spät, dass die Schatten sich lichteten, dass das Geflecht der Äste über ihm aufbrach und die Bäume sich zurückzogen, als gäben sie den Blick frei auf etwas, das nicht mehr zu ihrem Reich gehörte. Erst als er den Kopf hob, löste er den Blick von den Wurzeln, zwischen denen er seinen Weg gefunden hatte, und hielt inne. Der Geruch veränderte sich, wurde klarer, trockener, der Duft von Gras lag schwerer in der Luft, und ein Wind, der von vorn heranstrich, trug die entfernten Gerüche von Rauch, Menschen und Eisen mit sich. Vor ihm öffnete sich der Wald. Wie eine lebendige Mauer brachen die letzten Bäume auseinander, und dahinter lag eine weite Ebene, deren sattes Grün von hellen Wegen durchzogen wurde, die sich wie Adern durch die sanften Hügel zogen. Menschenhöfe lagen verstreut über das Land, kleine Ansammlungen von Fachwerkhäusern, deren Strohdächer im grauen Licht des frühen Tages matt glänzten. Und weiter im Zentrum, dort, wo die Wege zusammenliefen wie Ströme zu einem See, erhob sich Britain.
Die Stadt lag wie eine fremde Insel inmitten der Felder, hoch aufragende Mauern aus Stein, Türme, deren Spitzen die Wolken zu berühren schienen, und darüber ein Dunst aus Rauch, Stimmen und Leben. Rianon erstarrte bei ihrem Anblick, und für einen langen Moment pochte nur sein Herz in seiner Brust, dumpf und hart. Jede Faser seines Körpers drängte zurück in die Sicherheit der Bäume, zurück ins Rauschen der Blätter, zurück zu Gerüchen, die er verstand. Stein war kalt, trennte die Erde, schnitt ihre Adern auf und verdrängte das Leben, das darunter schlief. Er wollte gehen. Fort. Dorthin, wo er atmen konnte. Doch aus einem ihm nicht bekannten Grund blieb er stehen.
Zwischen den Stimmen des Wolfes und des Adlers erhob sich ein dritter Gedanke, leise, fast tastend, wie das erste Licht der Morgendämmerung: Loretta eine Halbelfin, Tochter zweier Welten, eine, die zwischen dem Flüstern der Wälder und dem Lärm der Städte lebte. Er hatte sie lange nicht gesehen, und die Erinnerung an ihr letztes Gespräch, das so lange her war, brannte plötzlich klarer als das Grau der Mauern vor ihm. Vielleicht … vielleicht konnte sie Antworten geben, wo er selbst nur Fragen fand.
Sein Blick verharrte noch einen Moment auf der Stadt, auf den Türmen, den rauchenden Schornsteinen, den kleinen Bewegungen auf den Mauern, bevor er die Kapuze seines Umhangs tiefer ins Gesicht zog. Die Entscheidung fiel leise. Der Wolf knurrte, der Adler schwieg, und für einen seltenen Augenblick gehörten beide ihm. Ohne zurückzusehen, trat Rianon aus dem Schatten des Waldes und setzte den Fuß auf das offene Grasland, das sich wie ein Meer zwischen ihm und Britain spannte. Der Wind wehte ihm den Geruch der Stadt entgegen, eine Mischung aus Feuer, Stein und Leben, und er ließ ihn zu, auch wenn jeder Atemzug fremd war. Er begann den Abstieg, Schritt für Schritt, und mit jedem Schritt fühlte er die Blicke der uralten Bäume in seinem Rücken – als würden sie ihn beobachten, still, schweigend, und doch wissend, dass sein Weg ihn weit von ihnen fortführen würde.

Re: Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 04 Sep 2025, 21:51
von Rianon
3 - Bauernweisheiten
Die Ebene lag weit und still vor ihm, nur das leise Rauschen des Windes, der durch die sanft gewellten Hügel strich, begleitete seinen Schritt. Unter seinen Stiefeln knirschte der trockene Boden, von dünnem, gelbem Gras bedeckt, das unter dem Grau des Himmels wie fahles Fell wirkte. Anders als im Wald, wo jeder Laut gedämpft wurde, breiteten sich Geräusche hier weiter aus, getragen von der Weite, und Rianon spürte, wie fremd ihm dieser offene Raum war. Der Wolf in ihm murrte unruhig, mochte keine Ebenen, keine Orte ohne Deckung, ohne Schatten, und jeder Atemzug trug Gerüche von Erde, Rauch und Mensch in sein Bewusstsein, die ihn daran erinnerten, dass er die Grenze seines Reiches längst überschritten hatte.
Fern zeichnete sich ein Gehöft gegen den Himmel ab, eine Ansammlung schlichter Holzbauten, von denen Rauch in dünnen Fahnen aufstieg, und davor eine Reihe niedriger Felder, in denen Gestalten arbeiteten. Rianon verlangsamte den Schritt, ließ den Wind seine Sinne tragen, bevor er sich näherte. Der Geruch von Schweiß, Heu, nassem Leder und Pferden lag hier schwerer, gemischt mit dem unverwechselbaren Geruch von Feuerstellen und dem feinen Duft nach frisch umgegrabener Erde. Für ihn war dieser Geruch fremd, nicht unangenehm, doch ungewohnt, wie eine Sprache, die er hörte, ohne sie ganz zu verstehen.
Als er den Feldrand erreichte, bemerkte er, wie die Menschen inne hielten. Drei Bauern standen nahe beieinander, zwei Männer und eine Frau, die Schaufeln in den Händen, die sie nun achtlos in den Boden stießen. Ihre Kleidung war schlicht, erdfarben, von harter Arbeit gezeichnet, und ihre Gesichter trugen das Rot der Sonne und das Grau des Windes. Sie musterten ihn offen, nicht feindselig, doch mit dieser zurückhaltenden Vorsicht, die denen eigen war, die Seltenes sehen. Der Älteste von ihnen, ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauen Schläfen, trat schließlich einen Schritt vor. Seine Bewegungen waren langsam, überlegt, und seine Augen glitten prüfend über Rianons Gestalt, den langen Umhang, das bleiche Haar, das in der Brise wehte, und schließlich die smaragdgrünen Augen, in denen das Licht des Waldes schimmerte. „Ein seltener Anblick,“ sagte der Mann schließlich, und seine Stimme war rau, vom Staub der Felder getragen. „Ein Waldelf, so nah an Britain. Die meisten von euch meiden unsere Straßen und unsere Höfe.“
Rianon neigte leicht den Kopf, ein stummer Gruß, und erwiderte ruhig: „Meine Pfade führen selten aus dem Schatten der Bäume. Doch manchmal verlangt das Leben, dass man andere Wege geht.“ Seine Stimme war wie immer und dennoch klang etwas Ungewohntes darin; eine Müdigkeit, die er nicht ganz verbergen konnte. Der Mann nickte langsam, als würde er den Satz abwägen, ehe er mit einer beiläufigen Geste auf die Felder zeigte, in denen dunkle Erdschollen in gleichmäßigen Reihen aufgebrochen waren. „Ihr kommt aus dem Wald, Elfenfreund, und ihr liebt ihn, das sieht man. Aber hier, außerhalb eurer grünen Hallen, lebt man anders. Wir schneiden das Land auf, wir teilen es, wir pflügen, säen, ernten. Ohne das – keine Häuser, keine Familien, kein Leben.“ Seine Stimme gewann an Gewicht, erklärend, wie jemand, der einen uralten Streit schon zu oft geführt hat. „Die Bäume geben viel, das weiß ich. Holz, Früchte, Wild. Aber sie geben nicht genug für so viele. Ein Wald nährt keine Familie, ernährt kein Dorf, kein Heer.“
Rianon lauschte schweigend, sein Blick ruhte auf den umgepflügten Reihen, deren strenge Ordnung so fremd wirkte neben dem Chaos, das er liebte. Hier war nichts dem Zufall überlassen, keine Pflanze, die wachsen durfte, wo sie wollte, keine Wurzel, die sich frei ihren Weg suchte. Es war, als hätten die Menschen dem Land selbst einen Willen aufgezwungen, eine Form, die der Natur fremd war. In ihm regte sich Widerstand, der Wolf knurrte leise, wollte zurück in das Gewirr aus Farn und Moos, dorthin, wo der Atem der Welt ungezähmt war, der Adler wollte in die Baumkronen zurückfliegen.
Doch er schwieg und fragte schließlich leise: „Und was sagt das Land dazu?“ Der Mann sah ihn an, blinzelte, als hätte er die Frage nicht verstanden. Dann kratzte er sich mit rauen Fingern am Kinn und meinte: „Das Land? Das Land ist, was wir daraus machen. Wir geben ihm Samen, es gibt uns Brot. Wir bauen Mauern, und es trägt unsere Häuser. Das Land kennt keinen Willen, Waldelf, nur die Hände derer, die es bearbeiten.“
Diese Antwort hallte in Rianon nach, und während der Mann sprach, glitten seine Gedanken wie Schatten durch die Erinnerungen an den Wald. Er dachte an den Yewbaum, dessen uralte Seele um Hilfe gefleht hatte, an das Wispern der Wurzeln, wenn der Wind durch die Kronen fuhr, an das Knarren der Äste, das er manchmal wie Stimmen hörte. Für ihn war das Land lebendig, atmend, sprechend, und der Gedanke, es sei nur Erde und Stein, war ihm fremd. Und doch … er sah die Felder, sah das kräftige Getreide, das in ordentlichen Reihen spross, sah die robusten Pferde, die die Pflüge zogen, und er wusste, dass die Menschen überlebt hatten, weil sie diesen Weg gingen. Es war ihm fremd, aber nicht ohne Logik.
„Ihr zwingt dem Boden eure Ordnung auf,“ sagte er schließlich, langsam, als würde er das Bild in Worte tasten. „Und ihr nehmt, was er gibt, ohne mehr zu fragen.“ Der Bauer nickte, ohne Zorn, vielleicht sogar mit einem Anflug von Stolz. „So ist es. Wenn wir das nicht täten, würde der Wald alles zurückholen, und die Ebenen würden ihn nicht lange aufhalten.“ Er sah auf Rianons bleiches Haar und fügte leiser hinzu: „Wir wissen, was wir riskieren, wenn wir den Bäumen zu nahe kommen. Eure Art hat uns das oft genug gezeigt.“
Für einen langen Moment stand Rianon schweigend am Feldrand, ließ den Blick über die weite Ebene schweifen, die bis an die Tore Britains reichte, deren Mauern im fahlen Licht des späten Tages wie gewaltige Schatten über das Land ragten. Er spürte das leise Drängen des Wolfes, das ihn zurück in die Deckung des Waldes ziehen wollte, und zugleich den leichten Sog des Adlers, der ihn weitertrieb, hinaus, fort, in die Höhe, in die Ferne. Schließlich nickte er dem Mann knapp zu. „Danke,“ sagte er nur, und die Bauern erwiderten den Gruß mit einem stillen Neigen der Köpfe, bevor sie wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrten.
Rianon wandte sich ab, und seine Schritte führten ihn weiter über die offenen Felder, das Gewicht der Worte des Bauern noch wie Tau auf seiner Haut. Britain lag vor ihm, die Tore sichtbar im Dunst, und mit jedem Schritt, den er näherkam, fühlte er die Spannung zwischen Wald und Stadt, zwischen Instinkt und Entscheidung. Die Luft roch nach Rauch, nach Feuer und Leben. Er atmete tief ein, richtete den Blick auf die Mauern und setzte seinen Weg fort.
Re: Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 05 Sep 2025, 19:19
von Rianon
4 - Britain
Die Mauern Britains erhoben sich wie ein erstarrtes Meer aus grauem Stein, dessen Wellen von Menschenhand in präzise Linien gezwungen worden waren. Rianon kannte diese Stadt, war schon einmal hier gewesen, und doch traf ihn der Anblick erneut wie eine kalte Klinge, die sein Innerstes berührte. Der Wald lag hinter ihm, sein Duft nach Harz und Moos längst vom Wind verweht, und vor ihm breitete sich eine Welt aus, die keine Wurzeln kannte. Mauern aus behauenen Blöcken, Torbögen aus Granit, Straßen gepflastert mit Steinplatten, die von unzähligen Schritten blank geschliffen waren – alles daran wirkte fest, unbeweglich, unnachgiebig, als hätte der Mensch dem Land nicht nur seinen Willen aufgezwungen, sondern auch sein Schweigen.
Als er die gewaltigen Stadttore durchschritt, umfing ihn eine andere Welt, lebendig, laut, drängend. Die Luft war erfüllt von Gerüchen, die sich in dichten Wellen überlagerten: geröstetes Fleisch, frisch gebackenes Brot, Pferdeschweiß, kaltes Eisen, der säuerliche Hauch von nassem Leder, Rauch von Feuerstellen und dazwischen der süßliche Duft von Obst, das in Körben zum Verkauf lag. Es war eine Flut von Eindrücken, und jeder Atemzug brachte neue Nuancen, die ihn gleichzeitig fesselten und bedrückten.
Seine Augen glitten über das Gewimmel, über Händler, die ihre Waren anpriesen, über Kinder, die zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchhuschten wie flinke Wiesel, über Frauen mit schweren Körben auf den Armen, über Karren, die unter dem Gewicht von Fässern ächzten. Die Stimmen vermischten sich zu einem einzigen, gewaltigen Rauschen, das gegen seine Sinne brandete, wie das Dröhnen eines Wasserfalls. Worte wurden zu Tönen, Rufe zu rhythmischem Stampfen, Lachen zu scharfem Glitzern in der Luft, und Rianon spürte, wie er sich darin verlor. Hier gab es keine Ordnung, keine Linie, keine Spur, der er folgen konnte – nur Bewegung, nur das stetige Kreisen von Menschen um Menschen, wie ein Schwarm ohne erkennbaren Mittelpunkt. Der Wolf in ihm murrte unruhig, empfand das Drängen der Körper, die Nähe, die Enge als Bedrohung. Zu viele Gerüche, zu viele fremde Atemzüge, zu wenig Raum, um Instinkten zu folgen. Der Adler hingegen schien schweigend über ihm zu kreisen, fern, distanziert, und die Gedanken, die er ihm eingab, waren kühler, klarer: Beobachte. Lerne. Die Stadt war kein Feind – aber auch kein Freund.
Rianon ließ sich von der Strömung treiben, die ihn durch schmale Gassen und über weit gespannte Plätze führte, bis er schließlich auf dem zentralen Markt ankam. Hier bündelte sich das Chaos der Stadt zu einem einzigen Brennpunkt, und die Luft war dicht vor Stimmen und Farben. Stoffbahnen in allen Schattierungen hingen über den Ständen, flatterten im Wind, Körbe voller Früchte stapelten sich neben glänzenden Messerklingen, Töpferwaren standen dicht an dicht, und überall versuchten Händler, die Aufmerksamkeit der Menge zu gewinnen. Der Boden unter seinen Füßen war hart und warm, gespeist vom Leben, das über ihn hinwegströmte, und doch fehlte ihm der Atem der Erde, das weiche Nachgeben des Waldbodens, der Rhythmus, den er kannte.
Er blieb stehen, als eine kräftige Stimme ihn aus dem Fluss der Bewegung riss. Ein Mann hinter einem Stand, stämmig, mit breiten Schultern und einem Gesicht, das die Sonne dunkel gebrannt hatte, hielt ihm einen Korb entgegen, geflochten aus hellem Weidenholz. „Ein Stück Handwerk, Waldelf! Leicht, stabil, hält eine Ewigkeit. Nichts, was ihr nicht gebrauchen könntet, wenn ihr zurück in euren Wald zieht.“ Die Stimme war warm, nicht aufdringlich, und dennoch schwang die gezielte Überzeugung eines geübten Händlers mit. Rianon nahm den Korb nicht an, musterte ihn aber mit einem Blick, der mehr dem Material galt als dem Angebot selbst. „Wozu,“ fragte er ruhig, „sollte ich einen Korb brauchen, wenn der Wald alles trägt, was er gibt?“
Der Mann lachte leise, ein kehliges, fast freundliches Geräusch, und stellte den Korb neben die anderen, die in einer ordentlichen Reihe an seinem Stand lehnten. „Der Wald mag tragen, was er will, aber er teilt es nicht von selbst. Ein Mensch muss sammeln, Waldelf, muss ordnen, muss seine Dinge tragen. Ein Korb hält das zusammen, was sonst zerfällt.“ Rianon runzelte leicht die Stirn. „Ihr bindet also nicht nur die Weiden, sondern auch das, was ihr nehmt. Ihr zwingt die Dinge, zusammenzubleiben.“ „Wir binden, ja,“ antwortete der Händler und lehnte sich auf seinen Stand, während seine Stimme leiser wurde, als spräche er weniger zu einem Kunden als zu sich selbst. „Nicht nur Weiden und Körbe, sondern alles. Häuser, Familien, Gilden, Märkte. Menschen brauchen Ordnung, weil wir zu viele sind, um ohne sie zu leben. Der Korb ist nur ein Symbol, verstehst du? Wir schaffen Räume, in denen wir zusammenpassen.“
Rianon betrachtete den Mann lange, und seine Gedanken glitten wie Schatten zu den Wäldern zurück, zu Orten, an denen jedes Lebewesen seinen Platz kannte, ohne dass jemand Regeln festlegen musste. Bäume wuchsen, wo das Licht sie nährte. Flüsse bahnten sich Wege, ohne dass jemand sie lenkte. Rudel fanden ihre Hierarchien instinktiv, und kein Wolf musste erklärt bekommen, wem er folgte. „Im Wald,“ sagte er schließlich, „wird nichts gebunden, und dennoch zerfällt nichts. Alles weiß, wo es hingehört.“ Der Händler lächelte, und für einen Moment lag weder Spott noch Stolz darin, nur leises Verständnis. „Dann ist der Wald nicht wie wir,“ meinte er ruhig. „Wir sind zu viele, um so frei zu sein. Wenn wir nicht binden, reißen wir uns selbst auseinander.“
Rianon schwieg. Die Worte des Mannes waren einfach. Er spürte, dass er sie nicht verstand und doch begreifen konnte – wie einen Geruch, der fremd war und doch das Versprechen von Wahrheit trug. Seine Finger glitten flüchtig über den Rand eines der Körbe, als wollte er das Geflecht fühlen, das nicht nur Weiden hielt, sondern die Idee dahinter. „Vielleicht,“ murmelte er leise, „sind eure Körbe enger, als ihr glaubt.“ Der Händler lachte wieder, diesmal leise und ohne Druck, und neigte leicht den Kopf. „Vielleicht,“ sagte er, ehe er sich einem anderen Kunden zuwandte.
Rianon blieb noch einen Moment stehen, ließ seinen Blick über den Markt gleiten, über das Gewimmel, das ihn zugleich bedrängte und faszinierte. Überall Stimmen, Bewegungen, Gerüche, Entscheidungen, die sich unaufhörlich kreuzten und verbanden, wie Fäden in einem Netz, das viel zu groß war, um es mit einem Blick zu begreifen. Dann wandte er sich ab und ließ sich von der Strömung der Menschen forttragen, tiefer in das Herz Britains, in dem sich mehr verbarg, als bloß Stein und Stimmen.
Re: Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 07 Sep 2025, 00:52
von Rianon
5 - Abwesenheitsnotiz
Der Weg zu Lorettas Haus führte Rianon durch einen ruhigeren Teil Britains, fernab vom stetigen Brausen des Marktes, wo die Stimmen der Händler und das Drängen der Menge nur noch wie fernes Rauschen an die Mauern brandeten. Die Straßen waren schmaler hier, gepflastert mit unregelmäßigen Steinen, über denen das Moos in zarten Inseln wuchs, als würde selbst der Stein sich langsam dem stillen Griff der Natur beugen. Häuser aus hellem Kalkstein lehnten sich dicht aneinander, ihre hölzernen Balken dunkel und vom Regen gegerbt, und in den Fenstern spiegelte sich das milchige Licht eines Himmels, der keinen Entschluss kannte zwischen Regen und Sonne.
Lorettas Heim lag am Ende einer kleinen Gasse, verborgen hinter einem schmalen Torbogen aus Efeu, dessen Ranken selbst in dieser Jahreszeit noch grün waren und mit dem Wind flüsterten. Rianon blieb kurz davor stehen, eine Hand an dem kühlen Holz des Torpfostens, und lauschte. Kein Laut drang aus dem Inneren des Hauses, kein Schritt, kein Rascheln, kein gedämpftes Summen einer Stimme, die er hätte erkennen können. Nur der ferne Klang von Hämmern, die irgendwo weiter oben in der Stadt auf Holz trafen, und das leise Gurren einer Taube, die auf dem Sims über ihm hockte.
Er trat näher, öffnete das Tor, dessen Scharniere kaum hörbar knarrten, und betrat den kleinen Innenhof. Der Boden war von Kies bedeckt, der unter seinen Stiefeln kaum ein Geräusch machte, und zwischen den flachen Steinplatten wuchs zarter Efeu, dessen Spitzen sich in winzigen Tropfen verfingen. Hier war ein Garten, klein, fast verborgen, mit wenigen Pflanzen, die in sorgsam gezogenen Linien angeordnet waren; fast so, wie der Weizen des Bauern auf der Ebene vor der Stadt. Kräuter, die ihren Duft in die kühle Luft gaben – Thymian, Rosmarin, Minze –, und zwischen ihnen einige niedrige Sträucher, deren Blätter vom Regen dunkel glänzten. Es war ein Ort, der nach Frieden roch, nach Erde und stiller Geduld.
Die Fensterläden des Hauses standen geschlossen, die Tür war verriegelt, und selbst der vertraute kleine Tontopf, den Loretta stets neben den Eingang gestellt hatte, war leer, ohne die Blüten, die sie sonst pflegte. Rianon trat näher an die Tür heran und fand dort, zwischen zwei hölzernen Brettern geklemmt, einen schmal gefalteten Streifen Pergament. Das Siegel war gebrochen, die Tinte leicht verwischt, als habe der Regen seine Finger darübergelegt, aber die Schrift war deutlich genug.
Lieber Besucher, wenn du dies liest, bin ich unterwegs. Eine Gelegenheit, die ich nicht erwarten konnte, hat mich fortgerufen – eine Reise, weit und vielleicht lange. Ich weiß nicht, wann ich zurückkehre, vielleicht in Wochen, vielleicht erst in Monden. Wenn du gekommen bist, um mich zu sehen, verzeih mir mein Fehlen.
Darunter nur ihr Name, hastig gesetzt, als wäre er eher gehaucht als geschrieben. Rianon hielt das Pergament lange in der Hand, spürte die raue Faser unter seinen Fingern, während seine Gedanken sich lösten und über die Zeilen glitten wie der Wind über Wasser. Loretta war fort. Er hatte keinen Grund, sich betrogen zu fühlen, und doch war da eine leise, unbestimmte Schwere, wie das Knacken eines trockenen Zweigs in einem Wald, der lange unberührt schien. Er hatte gedacht, ihren Rat zu suchen, ihren Blick zu finden, der oft mehr verstand, als Worte jemals erklären konnten. Doch jetzt war nur das leere Haus, der Duft der Kräuter, die Stille.
Seine Gedanken zogen Kreise wie der Adler, jedoch getragen von der Stimme des Wolfs in ihm, die leise und ungeduldig knurrte. Der Wolf kannte keine Wege, die in Abwesenheit endeten, er verstand nicht, warum man jemanden suchen sollte, der nicht da war. Der Adler hingegen schien stiller als sonst, betrachtete die Dinge von oben, ohne Urteil, und in dieser kühlen Distanz lag eine Wahrheit, die Rianon erst langsam begriff. Loretta hatte ihren eigenen Pfad betreten. Er fühlte keinen Groll. Nur ein stilles Anerkennen.
Langsam, fast unmerklich, breitete sich in ihm ein anderer Gedanke aus: Vielleicht lag eine Antwort auch für ihn nicht mehr hier, nicht in den bekannten Wegen, nicht in vertrauten Gesprächen. Vielleicht brauchte er selbst die Fremde, die Unruhe, das Umherstreifen durch Länder, deren Atem er noch nicht kannte. Der Wald war sein Blut, ja, aber die Welt war größer, als seine Wurzeln reichten. Rianon blickte noch einmal zu dem kleinen Garten hinab, zu den zarten Linien der Pflanzen, deren Duft selbst in ihrer Abwesenheit von Leben sprach. „Danke,“ murmelte er heiser, kaum mehr als ein Hauch zwischen den Zähnen, nicht zu Loretta, sondern zu dem Schatten ihrer Entscheidung, zu dem leeren Haus, das nun mehr bedeutete als ihre Anwesenheit es gekonnt hätte.
Er steckte die Nachricht behutsam zurück zwischen die Hölzer an der Tür, zog den Umhang enger um die Schultern und wandte sich ab. Hinter ihm rauschte der Wind durch die Ranken des Efeus, trug einen flüchtigen Duft von Regen und Salz über die Gasse hinweg, und in ihm erwachte das erste Ziehen, leise, aber klar. Nicht zurück in den Wald. Rianon ging. Seine Schritte trugen ihn fort von Lorettas stiller Tür, hinaus in die Straßen Britains, die voller Stimmen und Pfade waren, die in die Ferne führten, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er, dass das Unbekannte nicht nur Gefahr barg – sondern vielleicht auch die Antwort, die er suchte.

Re: Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 07 Sep 2025, 23:43
von Rianon
6 - Der Weg nach Trinsic
Der Morgen begann stiller, als Rianon es erwartet hatte. Britain lag hinter ihm, noch eingehüllt in das blasse Licht der ersten Sonne, deren Strahlen kaum die schweren Schatten zwischen den engen Gassen vertreiben konnten. Der Duft der Stadt haftete ihm noch in den Kleidern – Rauch, Metall, Pferd und Mensch, das dichte Geflecht von Leben, das hier atmete, so vielstimmig und unruhig, dass es selbst jetzt noch in seinem Kopf nachklang wie fernes Murmeln. Doch vor ihm lag das offene Land, und der Wind, der über die sanften Hügel strich, roch nach Regen, nach Erde, nach Freiheit.
Er stand einen Moment am Rand der Straße, die gen Süden führte, und ließ den Blick über die Ebene gleiten. Die Pflastersteine der Stadt gingen schon nach wenigen Schritten in einen festgetretenen, staubigen Weg über, der von tiefen Spuren unzähliger Räder gezeichnet war. Hier begann der Pfad nach Trinsic. Rianon wusste nur wenig über die Stadt, kannte nicht ihre Mauern, nicht die Gesichter der Menschen, die dort lebten, nicht ihre Geschichten. Doch Kazhar Rontre, der Paladin, hatte oft von ihr gesprochen, wenn sie sich in der Taverne in Britain getroffen hatten. Es sei eine Stadt aus Sandstein, in der das Hauptquartier seines Ordens lag.
Kazhar hatte erzählt, dass seine Brüder und er die Straßen zwischen Britain und Trinsic bewachten, um Händler, Pilger und Reisende vor Räubern, Untoten oder dem wilden Treiben der Sümpfe zu schützen. Für Rianon klang das nach Sicherheit, so viel, wie ein Weg durch fremdes Land versprechen konnte. Er vertraut auf die Worte von Kazahr, nicht nur wegen dessem festen Blicks und des Schwertes an seiner Seite, sondern wegen der ruhigen Entschlossenheit in seinen Worten, die keine Prahlerei kannte. Wenn es eine Straße gab, die er nehmen konnte, ohne seine Aufmerksamkeit jedem Schatten opfern zu müssen, dann war es diese. Und doch fühlte sich der erste Schritt schwer an.
Hinter ihm summte Britain wie ein gewaltiger Schwarm, Stimmen und Hämmer und Schritte, während vor ihm eine Weite lag, die noch kaum einen Laut kannte. Er spürte, wie der Wolf in ihm unruhig knurrte, empfand die offenen Flächen als fremd, beinahe verletzlich – zu wenig Deckung, zu wenig Schatten, zu wenig Wald. Der Adler hingegen regte sich, breitete seine Schwingen in seinen Gedanken aus und zog ihn fort, hinauf, in die Ferne, zu neuen Wegen, neuen Blicken, neuen Winden. Zwei Stimmen, zwei Pfade, und er wusste, dass er ihnen beiden folgen musste, so lange, bis er verstand, welche von ihnen seine eigene war.
Die Straße führte ihn vorbei an Feldern, die sich weit bis zum Horizont zogen. Menschen arbeiteten dort, krümmten die Rücken über die feuchte Erde, während Rinder träge auf den Weiden grasten und Krähen über frisch bestellte Furchen flatterten. Der Geruch von aufgebrochener Erde lag schwer in der Luft, gemischt mit dem Rauch kleiner Feuerstellen, und Rianon spürte, wie fremd diese Welt der Felder und Ernten ihm war. Für ihn hatte der Wald immer gegeben, was er brauchte, ohne dass er ihn formte, ohne dass er ihn brach oder begradigte. Hier aber griffen Menschen tief in den Atem der Erde, pflügten, banden, schnitten; jedoch nicht aus Gier, sondern aus Notwendigkeit. Er erinnerte sich an das Gespräch mit dem Bauern am Vortag, an dessen ruhige Stimme, die ihm erklärt hatte, dass Menschen binden müssen, weil sie zu viele sind, um frei zu sein wie der Wald. Dieser Gedanke lag nun schwer in seinen Gedanken, wie eine Erkenntnis, die sich nicht recht fassen ließ, und vielleicht war Trinsic der Ort, an dem er mehr darüber erfahren konnte.
Je weiter er ging, desto stiller wurde die Umgebung. Die Felder verschwanden allmählich, das Land öffnete sich zu weiten Wiesen, die sich in sanften Wellen erstreckten, und hier und da standen einzelne Baumgruppen wie Wächter, deren Wurzeln tief in die Erinnerung des Bodens griffen. Er blieb einmal kurz stehen, legte eine Hand an die raue Rinde einer alten Buche, und atmete den Duft ihres Harzes ein. Der Yew lag weit hinter ihm, und doch fühlte er, dass er ihn in sich trug; in seinem Atem, in seiner Haut, in jeder Bewegung seines Körpers. Der Gedanke beruhigte ihn, wenn auch nur ein wenig.
Stunden vergingen, und die Sonne wanderte stetig weiter, bis sie den Himmel in ein mattes Gold tauchte. An einer Wegbiegung kam er an einem kleinen Posten der Paladine vorbei: Zwei Männer in weiß-goldenen Mänteln standen an der Straße, ihre Lanzen glänzten matt, und das Zeichen des Ordens prangte auf ihren Brustpanzern. Einer nickte ihm kurz zu, musterte ihn dabei aufmerksam, doch ohne Misstrauen, und Rianon erwiderte den Gruß wortlos. Er spürte die Sicherheit, die Kazhar ihm versprochen hatte, wie einen unsichtbaren Wall um diese Straße, und zum ersten Mal seit Tagen ließ er den Bogen an seiner Seite ungelockert, die Finger entspannt um das Leder des Gurtbandes.
Er spürte, wie sich seine Schritte festigten, wie der Blick klarer wurde, die Last leichter, während die Straße ihn weiter trug. Die Gedanken an Britain, an den Markt, an das endlose Stimmengewirr fielen von ihm ab wie alte Rinde, und er begann, die Geräusche der Ebene zu hören: Den Ruf eines Habichts über ihm, das Rascheln des Grases im Wind, das ferne Quaken von Fröschen in einem kleinen Sumpf.
„Trinsic“ murmelte er leise, mehr zu sich selbst und zum Wind, und das Wort schmeckte neu, ungewohnt, wie ein Samen, der noch keine Wurzeln kannte. Dort lag sein Ziel, nicht weil er die Stadt kannte oder ihre Mauern verstand, sondern weil er wusste, dass der Weg dorthin ihn weiterführen würde. Weiter von dem, was er glaubte zu sein, und näher zu dem, was er vielleicht werden musste. Ohne sich noch einmal umzusehen, setzte er den Fuß fester auf den Boden, und der Rhythmus seiner Schritte verschmolz mit dem Atem der Straße, dem Ziehen des Windes, dem unhörbaren Herzschlag der Ebene. Vor ihm lag der Weg nach Trinsic. Dahinter, vielleicht, Antworten.

Re: Der Pfad der sich verzweigenden Äste
Verfasst: 23 Sep 2025, 13:00
von Rianon
7 - Die Brücke
Der Weg aus Britain hinaus, gen Süden, führte ihn über Wiesen und Felder, die in der milden Wärme des Tages ihr spätsommerliches Gesicht zeigten. Noch immer war die Luft feucht vom Regen, den er in der Stadt hinter sich gelassen hatte, und das Gras, das in leichten Schwüngen vom Wind bewegt wurde, schimmerte in diesem feuchten Glanz, als habe es Tauperlen eingefangen. Rianon spürte, wie jeder Schritt ihn weiter entfernte von dem Gewimmel der Menschen, von der Enge der Straßen, dem Steingeruch, der über den Gassen hing, und von den Stimmen, die in endloser Vielstimmigkeit einander überlagert hatten. Mit jedem Atemzug wurde es stiller, und doch war es keine reine Stille: Es war das lebendige Schweigen der Ebene, die sich dem Ohr nur zögerlich offenbarte – das Zirpen kleiner Insekten, das gelegentliche Klappern eines Windrades in der Ferne, und der ferne Klang von Wasser, das unermüdlich gegen Stein brandete.
Schon von weitem erkannte er den Fluss. Er schlängelte sich breit und schwer durch das Land, ein graublaues Band, das den Himmel spiegelte und zugleich seine eigene Stimme führte, tief und grollend, als sei er ein uralter Wächter, der allen Reisenden die Grenze aufzeigte, die er zwischen Nord und Süd gezogen hatte. Rianon blieb stehen, sog den metallischen Geruch ein, der immer über großen Strömen hing, und lauschte, wie der Wind die Gischt herantrug. Für ihn war ein Fluss stets eine natürliche Grenze gewesen, eine Mahnung, dass nicht jedes Ufer für den Wanderer bestimmt war. Und doch wusste er: Die Menschen hatten hier eine Brücke gebaut.
Er ging weiter, bis er das Bauwerk erreichte, das sich in schlichtem, aber kraftvollem Bogen über den Fluss spannte. Steine, sorgfältig behauen, lagen festgefügt nebeneinander, gestützt von massiven Pfeilern, die sich mitten in der Strömung in den Grund bohrten. Rianon legte eine Hand auf das kalte Gestein, und ein Schauer lief ihm über die Finger. Stein war ihm nicht fremd – auch in den Tiefen der Wälder ragten Felsen auf, mit Flechten und Moos überwachsen, uralt und unverrückbar, doch dieser Stein hier war nicht gewachsen. Er war gefügt, gezwungen, geformt. Es war, als habe eine fremde Hand die Geduld der Zeit herausgefordert und dem Fluss einen Befehl erteilt: Hier wirst du geteilt, hier wirst du überwunden. Rianon verharrte einen langen Moment am Beginn der Brücke. Er verstand nicht recht, ob ihn eine stille Ehrfurcht ergriff oder ein leises Unbehagen. Denn was war eine Brücke anderes als eine Einladung, Grenzen zu missachten? Für einen Waldelfen war die Grenze Teil der Ordnung. Ein Fluss war Fluss. Ein Wald war Wald. Ein Gebirge erhob sich nicht, um überwunden zu werden, sondern um das Land zu teilen. Doch die Menschen, so schien es ihm, hatten eine andere Auffassung: Sie erkannten Grenzen nur, um sie aufzulösen.
Langsam setzte er den Fuß auf das Pflaster, spürte die rauen Steine unter den Sohlen seiner Stiefel, und schritt in die Mitte der Brücke. Unter ihm donnerte das Wasser, ungestüm, wild, ein schäumendes Band aus graublauen Strudeln, das gegen die Pfeiler schlug, als wolle es den Bau fortwährend prüfen. Er beugte sich leicht über das niedrige Geländer, blickte in die Tiefe, wo die Strömung mit weißem Schaum die Wellenkämme zerriss, und ein leises Ziehen griff in seinen Magen. Er dachte daran, wie leicht ein Körper hier verschwinden konnte, wie rasch die Flut ihn forttragen würde, und er wusste, dass er diesen Fluss nicht schwimmend hätte überwinden können. Vielleicht, gestand er sich, lag darin der Sinn der Brücke: Nicht ein Frevel am Fluss, sondern eine Geste der Demut, ein Eingeständnis, dass der Mensch das Wasser nicht bezwingen konnte, sondern einen Umweg suchen musste, um es dennoch zu queren.
Während er so dastand, stieg eine Erinnerung in ihm auf. Nicht weit von hier, verborgen zwischen Haselnusssträuchern und alten Eichen, lag eine Lichtung, die er seit jenem einen Tag nie mehr vergessen hatte. Dort war er einem Mustang begegnet, einem Tier so wild, dass selbst der Wolf in ihm sich unruhig gebärdet hatten, das Fell glänzend wie geschmolzene Bronze, die Mähne von Wind zerzaust, die Nüstern weit. Tag um Tag war er zurückgekehrt, hatte im Schatten der Bäume verharrt, um das Tier zu beobachten, bis es schließlich seine Nähe zuließ. Der Moment, als der warme Atem des Pferdes über seine Hand strich, war ihm ins Gedächtnis eingebrannt wie ein seltener Stern. Es war ein Geschenk gewesen, das Vertrauen eines Wesens, das frei geboren war, und er hatte es angenommen, ohne es je zu binden.
Ein leises Lächeln huschte über Rianons Gesicht, während er über die Strömung hinweg in die Ferne blickte. Damals hatte er begriffen, dass Begegnungen nicht immer Besitz bedeuteten, dass Nähe ohne Fessel möglich war. Und nun, da er über diese Brücke stand, spürte er, dass auch sie eine Form von Begegnung war. Zwischen Natur und Mensch, zwischen Grenze und Weg. Vielleicht war sie fremd, vielleicht auch unnatürlich in seinen Augen, doch sie diente einem Zweck, den auch er nicht leugnen konnte: Sie schuf Verbindung.
Er legte beide Hände auf das Geländer, die Finger leicht gespreizt, und dachte zurück an ein Gespräch, das er einst belauscht hatte, fern, in den Tagen, als er zum ersten Mal die Straßen Britains beschritten hatte. Damals hatte ein alter Mann einem Knaben zugeraunt: „Manchmal, mein Junge, muss man Brücken bauen.“ Damals hatte er es nicht verstanden. Er hatte geglaubt, der Mensch meine dies wörtlich, spreche von Stein, von Holz, von Wegen über Wasser. Nun aber, hier inmitten des tosenden Flusses, begriff er zum ersten Mal, dass es mehr war. Brücken bedeuteten, Gräben zu überwinden – zwischen Ufern, aber auch zwischen Herzen. Zwischen jenen, die nicht auf demselben Boden standen, nicht dieselbe Sprache sprachen, nicht denselben Pfad gingen.
Ein leises, fast sehnsüchtiges Seufzen entwich ihm. „Brücken bauen …“, wiederholte er stumm in Gedanken. Eine seltsame Idee, und doch fühlte sie sich auf einmal wahr an. Vielleicht war dies der Weg, den er lernen musste, wenn er die Welt und auch sich selbst besser verstehen wollte: nicht immer Grenzen hinzunehmen, sondern manchmal den Mut zu finden, sie zu überqueren. Mit neuem Schritt setzte er seinen Weg fort. Die Brücke hallte leise unter seinen Tritten, und als er das andere Ufer erreichte, hatte sich in seinem Inneren etwas verschoben. Der Fluss lag nun hinter ihm, doch die Erkenntnis, die er dort gefunden hatte, würde ihn begleiten. Nicht nur die Steine der Menschen konnten Brücken tragen – vielleicht konnte auch er eine bauen, dort, wo die Kluft am tiefsten war.
