Erzählt von Bareti, Wirtin die den Schatten protokolliert.
Trotz der feuchten Luft des Morgens auf der Insel, hatte ich die Eingangstüren offen verkeilt, um etwas frische Luft durch die Taverne strömen zu lassen. Ich selbst sortierte gerade Getränke, als ein Stallbursche zur Tür hereinstürmte – völlig außer Atem, Hände voller Heu und Neuigkeiten. Hinter ihm stolperten weitere Stimmen in die Schankstube, jede mit einer Version derselben Geschichte: Etwas im Ettintal sei aus dem Takt geraten. Ziegen würden Bären anfallen. Vögel stürzten sich im Schwarm auf Ettins. Hunde heulten in einem Ton, der einem das Herz aus der Brust zog. Und irgendwo dazwischen diese Formulierung, die sich anfühlt wie kaltes Metall auf der Zunge: eine schattige Substanz.
Ich unterbrach die Arbeit und bat die Boten, sich zu setzen. Nicoletta brachte Krüge; ich protokollierte ihre Aussagen. Nach kurzer Zeit stellte ich keine Fragen mehr: Die Berichte folgten demselben Muster.
Ich beschloss, selbst zu gehen. Es ist eine Sache, die Schreie eines Tales zu hören; eine andere, sie im Brustkorb zu spüren. Ulaf war irgendwo zwischen Fels und Wald verschwunden seit Tagen. Von Thorian fehlte jede Spur. Also packte ich eine schlichte Tasche: Verbände, einige Tränke (man weiß nie), Reagenzien, eine kleine Weidenflasche mit Essig, einen leeren Glaszylinder, einige Werkzeuge und nahm im gehen meinen treuen Stab mit, der am Kamin ruhte.„Meldungen über seltsame Vorkommnisse im Ettintal:
– Übereinstimmende Berichte über Fluchtverhalten: hunderte Tiere verlassen das Ettintal.
– Aggressionsmuster: Befallene greifen stets Unbefallene an; *keine* beobachtete Aggression von Befallenen gegeneinander.
– Begleiterscheinung: „schattige Substanz“ – am Fell, Gefieder, Haut; beschrieben als kalt, schmierig, nicht glänzend.
– Geruch: von einem Hirten als „wie nasses Aas“ bezeichnet.“
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Der Weg ins Ettintal verlief zunächst unspektakulär. Ab der Talstufe änderte sich die Geräuschkulisse: kaum Blatt- oder Tierlaute. Im Unterholz lagen überlagerte Fährten zahlreicher Arten, alle aus dem Tal hinaus gerichtet. Der Boden war feucht, die Luft jedoch auffallend trocken. Auf einer Kiefer saßen fünf Krähen und blickten in dieselbe Richtung.
Ich hörte Ziegen, bevor ich sie sah: drei panische Tiere stürzten den Hang hinab, Hörner gesenkt, Augen trüb. Die Ziegen schienen gezielt zu wissen wo sie hin wollten und beachteten mich nicht weiter. Auf ihrem Fell lagen dunkle, matte Flecken; das Haar wirkte stumpf. Kein Leichengeruch, eher kalt und neutral.
Weiter talwärts nahm die Stille zu: keine Vögel kreisten mehr, es gab keinen Gesang. Am Rand eines kleinen Tümpels kniete, was ich gesucht hatte: ein Ettin, allein. Auf seiner Haut zeigten sich unregelmäßige, dunkle Areale, schattenartig und entlang der Körperlinien verlaufend – nicht aufgelagert, sondern im Gewebe verankert.
Ich wirkte einen einfachen Zauber und verbarg meine Anwesenheit um das Wesen besser beobachten zu können. Der Zauber gelang, wenn auch das Gefühl der Essenz ungewohnt war.
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Ich beobachtete wie der Ettin sich ruhelos aufrichtete ohne das Wasser das er eben noch geschöpft hatte zu beachten. Etwas schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Ein Reh kam aus dem Tal gelaufen, floh, panisch. Der Ettin wurde ohne Umwege aggressiv und griff an. Nicht wie sonst, mit Gebrüll und dem Wurf eines Felsens, sondern unheimlich still. Das Wild hatte keine Chance, in seiner wilden, panischen Flucht rannte es dem Ettin fast in die Arme und wurde sogleich gepackt und zerrissen.
Und kaum das die Lebensgeister dem armen Tier erloschen, ließ der befallene Ettin den Kadaver fallen und beachtete ihn nicht weiter.
Ich hob die Hand und sandte zunächst einen Bann, wie man ihn bereits früh lernt aber erst spät meisterte: einen Gegenbann. Er blieb ohne Antwort. "Also kein magischer Hintergrund?"
Anschließend wollte ich den Ettin mit Magie stoppen, wie ich es oft tat, wenn ich etwas studieren wollte. Die Luft um seine Gelenke verdichtete sich – und ließ wieder los. Anstatt das Wesen zu fesseln, hatte ich es nun auf mich aufmerksam gemacht. Es drehte sich zu mir und kam, schneller als gewöhnliche Ettins, auf mich zu.
Ich wirkte weitere Zauber, welche die ihn halten sollten, seine Bewegungen erschweren, gar ihn einfrieren ... keiner hatte die gewünschte Wirkung. Ich schuf gar einen Bannkreis, der ihn eigentlich halten sollte, aber er lief einfach aus ihm heraus. Am Ende war ich gar gezwungen mich selbst mit einem Teleportationszauber in Sicherheit zu bringen.
Auch gewirkte Zauber, welche sich direkt gegen die seltsame Substanz richteten, zeitigten keinerlei Wirkung.
„Erkenntnisse Expedition Ettintal im Jahr des Sternenfalls:
– Substanz schein fast völlig reaktionsfrei gegenüber jeglicher Magie.
– Eindruck: Bindung liegt *im* Wirt, nicht *auf* ihm.
– Ettin zeigt keine Schmerzen, jedoch abweichendes Blickverhalten (fixiert Lebendiges).“
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Ich brauchte eine Trennung. Ich trennte ihn von der Welt. Nicht für lange – nur ein schmaler Schnitt zwischen ihn und alles, was ihn berührt. Ein Absondern, wie man eine Flamme unter ein Glas stülpt, damit sie ihre eigene Luft verbraucht. Der Ettin schien es kaum zu bemerken.
Ich versuchte, die Substanz von seiner Haut zu ziehen, nicht mit Kraft, sondern mit einem Trick: Ein Stück der Welt bereitstellen, in dem sie lieber sein wollte als hier. Ein Gefäß, geöffnet und bereit sie aufzunehmen. Sie entschied sich, zu bleiben.
Es blieb nur, was ich nicht gern tue und noch weniger gern schreibe: Ich tötete ihn. Es war sauber, schnell, ohne Geschichte. Der Körper fiel, als wären sämtliche Bindungen erloschen.
Und *dann* wurde der Schatten sichtbar. Er hob sich von der Haut, als hätte der Tod ihm erst eine Oberfläche gegeben, an der er sich abstoßen konnte. Er war kein Rauch, kein Nebel, kein Tier. Eher der Abdruck von etwas, das hier nicht sein wollte – eine Rissfigur aus kaltem Hauch, einen Herzschlag lang dichter, dann schoss er davon. Er nahm den kürzesten Weg: zwischen den Bäumen hindurch, über das Wasser hinweg, ohne die Welt zu berühren. Ich war zu langsam. Oder er zu entschlossen.
Nachdem das Wesen, oder das Echo, verschwunden war, nahm ich die Überreste in Augenschein. Von all den Spuren des Befalls schien kaum noch etwas erkennbar, Dort wo zuvor große Flecken Haut wie aufgelöst erschienen, war nun wieder normale Haut zu erkennen. Nicht unversehrt, aber in einem üblichen Zustand für einen Ettin.
Ich blieb noch etwas bei dem Tümpel, bis ich gewiss war, dass die Substanz nicht zurückkehrte. Ich reinigte mein Messer im Wasser und nahm eine Probe, man konnte nie wissen. Als ich mich erhob, stand am Rand meines Blickfelds ein Reh. Es sah mich an, ohne Furcht, und trat dann zwei Schritte näher. Sein Fell war klar. Ich atmete zum ersten Mal seit Stunden aus.„weitere Erkenntnisse Expedition Ettintal im Jahr des Sternenfalls:
– Substanz wird erst beim Tod des Wirtes frei; verdichtet sich zu kurzfristiger gestaltähnlicher Formation ("Schattenrest").
– zeigt Aggression, jedoch auch Fluchtverhalten: geradlinig, keine Interaktion mit Materie erkennbar.
– Hypothese: kein Parasit (keine Nahrungsaufnahme, scheint sich aber auszubreiten) eher anhaftender Echo-Kern / ausgelagerte Funktion einer größeren Präsenz.
– Korrelation: Befallene bekämpfen nur Unbefallene → Steuerungs- oder Erkennungsmechanismus?“
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Zurück in der Taverne leuchtete die Laterne, die Thorian gefunden hatte und die behauptet, Reisende heimzuführen. Sie leuchtete ein wenig heller als sonst, als hätte sie einen Grund dazu. Ich setzte mich an den Tresen und schrieb, während das Haus atmete. Nicoletta wischte die Tische; irgendwo knackte das Holz, als fände es seine bequeme Form für die Nacht.
Es gibt Tage, an denen ich die Welt gern zeichnen würde, wie sie *sein will*. Heute schrieb ich sie, wie sie *ist*.
Ich werde mit einem kleinen, fachübergreifenden Trupp zurückkehren. Ziel ist nicht die „Jagd“ auf den Schattenrest, sondern die systematische Kartierung seiner Bewegungsmuster und Wirkzonen. Auch wenn er nicht direkt zu fassen ist, erzeugt er erfahrungsgemäß Spuren an Übergängen und Rändern. Diese Kanten werden wir markieren, zeitlich protokollieren und mit Relief, Windrichtung und Tierverhalten korrelieren.„Vorläufig sollte das Ettintal gemieden werden; es ist derzeit kein sicheres Jagdgebiet mehr. Ich muss gezielt nach nicht‑arkanen Reinigungsriten suchen – Gerbmethoden, Kräuterauszüge, Rauchungen –, um die Bindungen im Fleisch lockern zu könnten. Andere Gelehrte zu Hinweise zu Phänomenen, bei denen sich erst beim Tod des Wirts eine „Schattenentladung“ zeigt (Echo, gebundener Rest, Riss‑Entität), befragen und Bücher studieren. Feldbeobachtung fortführen: Befallene greifen einander nicht an; prüfen, ob das die Regel ist und ob teilbefallene Tiere dasselbe Muster zeigen“
Die Tür der Taverne blieb bewusst unverschlossen: In unsicheren Zeiten braucht es einen offenen Ort für Meldungen, Ruhe und Versorgung.