Der Duft des Herbstes: Niedergang. [Wolfenreich]

Forum für den roten Faden der Schattenwelt, Events und Quests. Wissen aus diesem Forum kann im Spiel erarbeitet werden.
Graefin Armatia Maire von Wolfenreich
Beiträge: 1
Registriert: 16 Nov 2025, 14:05

Der Duft des Herbstes: Niedergang. [Wolfenreich]

Beitrag von Graefin Armatia Maire von Wolfenreich »

         
Der Duft des Herbstes: Niedergang.
         
         
         
Die Finger der Gräfin Armatia Maire von Wolfenreich waren ausgekühlt. Sie selbst hatte das Fenster im Gang vor ihren Gemächern geschlossen, das seit Stunden unbeachtet offenstand. Der Geruch und vor allem die klamme Kühle des späten Herbstes erfüllte nun das Anwesen. Dazwischen hatten sich die unruhigen Klänge einer Stadt gemischt, die sich nicht mehr wie die ihre anfühlte. Selbst das Licht des späten Abends war trist und verbreitete eine melancholische Stimmung. Sie verabscheute den Herbst.
         Doch das Problem des offenen Fensters und dessen Ursache - die unerhörten, unerklärlichen Ausfälle der Bediensteten; weder Ab- noch Krankmeldung, noch irgendeine Nachricht über deren Verbleib – waren mit nur einem Brief, mit nur wenigen Zeilen, weit in den Hintergrund gerückt. Sie faltete das schuldige Pergament, strich es wieder glatt, faltete es – und wollte es zum vierten Male lesen, als nach einem eiligen Klopfen eine Wache endlich ihren Sohn ankündigte, mit einer viel zu zaghaften, belegten Stimme. Feigheit, an jeder Ecke.
         "Mutter, ich kam so schnell ich konnte." Nun, nicht überall Feigheit, auch wenn Leuemunds Stimme wie gewohnt viel zu sanft war.
         "Hier, lies das. Ich will wissen, was du über diesen Bericht denkst."
         Ihre Stimme musste ihre innere Aufruhr verraten haben, denn er sah sie lange und besorgt an, bevor er sich gehorsam dem Pergament widmete, noch immer stehend, in die Kälte des sterbenden Tages gehüllt. Er roch nach Pferden. Ungewöhnlich. Armatia blieb in ihrem Stuhl sitzen und beobachtete ihren Sohn. Mit jedem gelesenen Wort wuchs Sorge in den warmen, schönen Zügen ihres Kindes. Angst, nach einigen Zeilen. Er schwieg, und las den Brief in Reglosigkeit. Einen Moment lang erinnerte sie sich an sein Gesicht, als er noch ein kleiner Bub gewesen war, der voller Furcht wegen irgendeiner Kleinigkeit nach Halt und Nähe gesucht hatte. Sie hatte sich nie leisten können, eine gute Mutter zu sein.
         Die Gräfin riss sich aus der sinnlosen Reminiszenz und blickte selbst auf das Pergament herab. Sie konnte die auf dem Kopf stehenden Zeilen mühelos entziffern. In den Tintenstrichen glänzte die tiefe Beunruhigung des Verfassers.
         
         
Hochgeborene Gräfin,
         vergebt diese eiligen Zeilen. Entgegen eurem wiederholten Befehl, nur bedachte und gesicherte Fakten zu berichten, zwingen mich die Umstände zu dieser voreiligen Beurteilung.
Zahlreiche Veränderungen sind eingetreten, seit jener verfluchten Nacht, und die wahre Bedeutung wird sich erst noch zeigen müssen. Hier eine Aufzählung von Gehörtem, das als wahrscheinlich wahr gelten muss.
         Ein beträchtlicher Teil von Personen jedweder Art – von Bettlern bis hin zu Hofbediensteten, von Händlern bis zu Gardisten, von Prostituierten zu Gelehrten – ist ohne jede Spur verschwunden. Anstelle dessen sind, mehr oder minder in gleicher Anzahl, Personen erschienen, die niemand zu kennen scheint – es scheint, als hätte jemand zwei Städte genommen, sie auseinander geschnitten und zwei falsche Hälften wieder zusammengeheftet. Untereinander sind sich die Fremden größtenteils bekannt, zumindest genug, um diese Theorie nahezulegen. Verwirrung und Unsicherheit herrscht auch auf dieser Seite. Hier finden sich keine leichten Antworten.
         Eine Horde von Flüchtigen strömt in die Stadt – die fallenden Sterne müssen unsagbare Zerstörung angerichtet haben, denn ich habe Fliehende aus beinahe allen bekannten Städten, Inseln und Gegenden getroffen, die entweder vor den Bränden oder marodierenden Räubern oder gar – vergebt dies, aber zu oft hörte ich dies wiederholt – wandelnden Ungeheuern flohen.
Es gibt keine gesicherte Kunde über das Schicksal der Krone und anderer Grafschaften, doch zumindest aus Britain und Moonglow stammen bisher nur Flüchtige, die nicht direkt von dort vertrieben wurden, so besteht also noch Hoffnung.
         Die Stimmung der Stadt ist seit dem schrecklichen Tag abrupt und exzessiv gekippt. Selbst unter mir bekannten Bürgern, die ihr Leben lang treu gedient haben, findet sich ein unerklärliches Murren und tiefe Unzufriedenheit. Angestachelt durch Hetzplakate, Furcht und den allherbstlichen Krankheiten empfehle ich der Grafenfamilie dringlichst, nicht mehr ohne Begleitschutz die Straßen Düsterhafens zu betreten.
         Ich habe nicht direkt ausfindig machen können, wer diese schändlichen Texte verbreitet, doch – in Anbetracht der zuvor erwähnten Theorie der zusammengehefteten, falschen Stadthälften – ist es naheliegend, dass einige der dort vorherrschenden Machtstrukturen ebenfalls mit den Fremden in unsere Stadt kamen.
         Es ist die Rede in den Straßen von Verbindungen zwielichtiger Gestalten, die Herrschaftsanspruch erheben, und zwar auf despotische, niederste Art. Gewissenlose Söldner, Diener von Anarchie und Chaos, Kulte im Dienste ketzerischer Götter und eine Zunft von unkontrollierten Magiern, die ihrer dunklen Kunst verfallen scheinen. Diese Verbindungen scheinen geherrscht zu haben, daher muss von beachtlicher Schlagkraft, womöglich sogar Truppenstrukturen ausgegangen werden. Welche Unwägbarkeiten die Magier unter diesen Halunken ins Spiel bringen, vermag ich nicht zu urteilen, aber ich kann nicht genug unterstreichen, wie unberechenbar die aktuelle Lage ist.
         Die fremden Bürger scheinen sich mit der Herrschaft dieser Verbindungen (Ein Bündnis dieser Verbindungen, selbstironisch Schattenbund genannt, wurde vielfach erwähnt) abzufinden, auf geradezu lakonische Art. Oft und glaubhaft wurde von einem Zwischenfall berichtet, der vor kurzer Zeit geschehen ist. Ein Handwerker wagte es, einen dieser Magier ohne den erwarteten Respekt zu begegnen, und der Unglückliche wurde an Ort und Stelle, ohne Prozess und Gnade, in einem magisch beschworenen Flammensturm hingerichtet. Und darüber nicht einmal Empörung! Die innere Natur der Fremden muss verzerrt und verdreht sein, dass sie solche Schreckensherrschaft dulden.
         Doch dulden tun sie es, schlimmer, es wird über uns gemurmelt, mehr als nur gemurmelt, über Invasoren aus einem fernen Reich, die mit den fallenden Sternen kamen, um sich das Land ihrer Vorfahren anzueignen. Wir! Invasoren! Kein Wort über die lange und edle Herrschaft der Wolfenreichs!
         Noch einmal, verehrte Gräfin, dringlichst! Die üblen Verbindungen regen sich sicherlich bereits. Wie Räuberbanden werden sie darauf aus sein, ihren angenommenen Grund zu verteidigen und sich neuen Reichtum einzuverleiben. Wir befinden uns am Vorabend eines Bürgerkrieges, von dem wir bis jetzt nichts ahnen konnten. Niemandem der Fremden ist zu trauen! Ich bete, dass unsere Garde funktionsfähig ist. Erwägt gar, eure Hofmagier zu Rate zu ziehen.
         Hochachtungsvoll und voller Bedauern, nur Übles berichten zu können,
         Euer ergebener Meister des Geflüsterten.

         
         
Närrischer Mann. Aber niemand, der unüberlegte Vermutungen anstellte. Leuemunds Antlitz war blass geworden, und nach einem seiner langen Seufzer sah er sie wieder an. Hilflosigkeit, wieder der Junge, der vergeblich versuchte, heimlich eine zu Fall gebrachte, viel zu schwere Zierrüstung aufzustellen. Armatia wollte lächeln, trotz des plötzlichen Zusammenbruchs ihres gesicherten Lebens.
         „Fürwahr beunruhigende Kunde. Was ist deine Empfehlung?“
         „Ich bin nicht sicher, ob ich für so eine dramatische Situation genug Erfahrung besitze, Mutter.“
         „Ich besitze auch keine Erfahrung darin, unerwartet das Ziel des Volkshasses zu sein. Dennoch, in meiner Lage, was würdest du tun? Vielleicht bist du bald wirklich in meiner Lage.“ Diesmal lächelte Armatia, scharf.
         „Mutter...“
         „Nein, Leuemund, dieser Teil der Verpflichtungen ist genauso wichtig wie Etikette und Frieden stiften.“ Oh, jäher Zorn, wie lange hatte sie ihn nicht mehr geschmeckt. „Du wirst dieses Land nach mir regieren. Ein falscher Schritt, und das wird morgen sein! Die Zeit für Schwäche ist vorbei! Was würdest du tun?“ Ihr Sohn war vom Tisch zurückgewichen. Doch der Schrecken wich. Leuemund war trotz aller Weichheit ein Wolfenreich.
         „Dann.. zeigen wir Stärke! Finden wir die Anführer dieser Verbindungen, und knüpfen sie wegen Hochverrat auf.“
         „Eine Möglichkeit.“ Die Gräfin hob ihren Zeigefinger. Warum musste sie Leuemund immer erst antreiben? „Welche Probleme könnte es geben?“
         „Wir, nun, versagen dabei, und werden zum Gespött des Volkes. Oder das Volk steht, wie der Flüsterer andeutet, ohnehin mehr auf ihrer als auf unserer Seite, und wir erschaffen Märtyrer.“
         „Welche Pfade gibt es noch?“
         „Flu.. Rückzug. Wir konsolidieren unsere Kräfte auf dem Land. Wir könnten uns mit Schwarztann oder..“
         „Leuemund.“
         „Verzeihung, ja, wir wären gefallen, also kein Grund für sie uns auch nur zu beachten.“
         Mit einem knappen Nicken hob Armatia einen zweiten Finger. „Ein Rückzug kommt in Frage, wenn wir sehen, dass unsere Kräfte deutlich unterlegen sind. Und deren unkontrollierte Magier lassen das als wahrscheinlich erscheinen. Heidi und Luciana werden in jedem Fall fliehen, auch wenn wir es Heidi als Ausflug aufs Land verkaufen müssen. Aber gut, was noch?“
         „Mutter? Wir, nun, wir könnten die Aufmüpfigen irgendwie besänftigen.“
         Die Gräfin starrte ihren Sohn abwartend an.
         „Mit Gold, mit Garantien, mit Junkertiteln...“
         Ein dritter Finger, aber ihre Unzufriedenheit musste auf ihren Zügen zu lesen sein, denn Leuemund ließ die Schultern hängen.
         „Ich möchte keinen Krieg führen müssen. Ich...“
         „Genug, Leuemund.“
         „Jawohl.“ Er räusperte sich, senkte den Blick, wie immer, wenn er zurechtgewiesen wurde.
         „Das ist auf jeden Fall ein Anfang. Folgendes nun zuerst: Du wirst Luciana und deinen Vater aufsuchen, und ihnen knapp die Lage beschreiben. Talfan ist zur Besichtigung der Wehrmauern am Nordtor. Heidi.. erfährt möglichst erst nach Beginn ihres Ausfluges von der Schwere der Situation. Hoffen wir, dass sie keinen Unsinn macht. Ab nun gilt für jeden unserer Familie: Nur noch mit schlagkräftigem Begleitschutz auf die Straße. Niemanden der ‚Fremden‘ ist zu trauen. Ich werde unsere Kontrahenten erst als unfähige Barbaren bezeichnen, wenn sie sich als solche erweisen. Bis dahin behandeln wir sie wie die Rothensteiner Nattern.“ Ihr Sohn starrte sie ungläubig an. Ah, sie spürte sich lächeln, denn ein Feuer, dass sie seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte, brannte in ihrer Brust. Ein Kampf, ein wahrer Kampf! Mit Mühe beruhigte sie ihre Züge. „Nun geh, Kind, jede Minute zählt.“
         Mit einem eiligen „Gewiss, Mutter.“ wieselte der Erbe ihres Geschlechtes davon.
         Armatia verließ ebenfalls ihre Gemächer, nach langen, rastlosen Minuten. Gedanken flossen, an ihre Vorfahren, Krieger und tapfere Recken, die ihre Zaghaftigkeit auslachen mussten. Gedanken an ihre Kinder, Gedanken an ihren Mann, an ihre Stadt, an die Krone, die ihr zustand... Ihre Räume waren zu klein geworden.
Krieger und tapfere Recken. Und Räuber, Mörder, Vergewaltiger. Mit einem Schnaufen bedachte sie noblen Anstrich, den ihre Blutlinie mit dem Blut Anderer erobert hatte. Sie hatte es leicht gehabt, all ihre Fehden waren bereits in der Jugend mühelos gewonnen worden, und ihre Ambitionen auf wahre Macht waren in den Fluren der Nobilität verlorengegangen. Sie schritt die Gänge ihres Anwesens entlang, seine Steine ausgekühlt und fremd.
         Doch ihr Herz schlug schnell und wild und heiß. Bedrohung, vielleicht Krieg, vielleicht Tod. Leuemund hatte Optionen gesehen, wo sie ein Ganzes sah, und noch vieles mehr, Intrigen, Hinterhalt, Klingen im Schatten und im Licht. Sie wollte lachen, wollte einen rauen Kriegsruf heulen, wie ihre Vorfahren, auf dass das Herz ihrer Gegner erstarrte. Sie ertappte sich, sie lachte tatsächlich, leise und kalt und jung und frei und es war eine Qual, wieder die Maske der besonnenen Gräfin aufzuziehen. Vielleicht war Heidis unbändige Natur ein Wink des Schicksals, dass die wahre Bestimmung ihres Geschlechts andeutete. Vielleicht würde sie keine Krone mehr erringen, aber vielleicht den Ruhm im Kampfestod. Ihre Schritte klangen bereits schwerer, so sehr bereits rüstete sich innerlich.
         Am Ende des Ganges stand ein weiteres Fenster offen, und da die Sonne schon vor einer geraumen Weile untergegangen war, strömte nur feuchte Kälte in ihr Zuhause. Die Gräfin, die dem Niedergang ihrer Blutlinie gegenüberstand, wollte auch dieses Fenster mit eigener Hand schließen, als sie die Stimme Heidis hörte, die dort im Garten des Anwesens mit jemanden sprach. Armatia beugte sich aus dem Fenster, und tatsächlich, dort leuchteten die blonden Haare wie brennendes Stroh im Licht des Speisesaals. Sie saß auf einer der Bänke und unterhielt sich mit einer ihr unbekannten Frau, dunkle Haare, einfaches Kleid, helle Haut. Heidi erschien.. aufdringlich. Also hatte sie wieder jemanden gefunden und war von irgendetwas fasziniert und würde jede Vorsicht vergessen, bis sie ihre Neugierde befriedigt hatte. Verfluchtes, wundervolles Kind. Noch eine Konfrontation also, über ein altbekanntes Thema, bevor sie ihre Tochter fortschicken konnte. Immerhin hatte sie den unberechenbaren Wildfang gefunden.
         Ihre Gedanken eilten voran. Informationen waren so wichtig wie Waffengeschick. Also auch noch zu ihrem Flüstermeister für neue Instruktionen. Wie dem Schreckgespenst der Magie gegenübertreten, die hier frei und ungezügelt Seelen verzehrte? Vielleicht musste sie ihrem Hofmagier ebenfalls einen Besuch abstatten. Und während all diese Schatten tanzten, musste zugleich die Grafschaft funktionieren, also hiernach dann zur Korrespondenz, die sich stapelte. Sie hatte den Brief der Schneiderin überflogen, und tatsächlich war die bisherige Hofschneiderin seit dem Umbruch der Welt verschollen. Und es gab einige Interessenten auf den Posten des Wachhauptmannes und des Statthalters.
         Konnte das unglückliche Briefeschreiben nicht ihr Mann erledigen, während sie das Schwert ihrer Vorfahren von der Wand befreite, entstaubte und schärfte?
         Natürlich nicht. Also lag eine schlaflose Nacht vor ihr.