von Xael'vyra Ky'Alur » 21 Jul 2025, 18:12
Das Erwachen
Der erste Lichtschein – wenn man in den Tiefen des Qu’ellar überhaupt von Licht sprechen konnte – fiel wie flüssiger Rauch durch das hohe Fenster, dessen Glas in blassem Violett gefärbt war und die Formen verzerrte, als würde die Welt draußen nicht aus Stein und Schatten bestehen, sondern aus Erinnerungen, die man zu vergessen versucht hatte. Xael’vyra lag wach, obwohl sie geschlafen hatte – nicht gut, nicht tief, nicht ruhig, aber ausreichend, um zu wissen, dass der gestrige Abend keine Einbildung gewesen war. Der Empfang, die Kälte, die Worte ihrer Mutter – sie waren geblieben, wie ein Geruch, der sich in der Kleidung festsetzt, wie das Echo einer Stimme, die nie wirklich schweigt.
Sie streckte sich nicht, richtete sich nicht auf mit jener eleganten Selbstverständlichkeit, die ihr einst antrainiert worden war, sondern blieb einen Moment lang einfach liegen, beobachtete die Decke mit dem Blick einer Statthalterin, die ein erobertes Gebiet kartierte. Die Kammer war leer, in einem ordentlichen, beinahe künstlichen Zustand, als hätte niemand sie je betreten, und vielleicht war das wahr – vielleicht war es ein Raum, der für sie eingerichtet worden war, nicht weil man sie erwartet hatte, sondern weil man sich verpflichtet fühlte, ihr einen Ort zu geben. Einen Ort, nicht ein Zuhause.
Doch dann war da ein Geräusch – so leise, dass es sich im ersten Moment eher wie ein Gedanke anfühlte. Ein Atmen, flach, zaghaft, fast verlegen. Und als sie den Kopf langsam drehte, sah sie die Gestalt. Lyr’sa. Zusammengesunken an der Wand, mit der Stirn auf die Knie gepresst, die Hände ineinander verkrallt wie ein Tier, das gelernt hatte, im Schlaf auf der Hut zu sein. Xael’vyra blinzelte, richtete sich auf, ließ die Decke lautlos von den Schultern gleiten, während ihre Gedanken sich sortierten wie Karten auf einem Altar – und keine davon passte zu dem Bild, das sich ihr darbot.
„Was“, sagte sie schließlich – leise, aber mit jener schneidenden Präzision, die kein Flüstern war –, „tust du da?“
Es war keine Frage im eigentlichen Sinn, sondern ein Urteil mit einem Fragezeichen. Ihr Blick glitt über die Rüstung, das erschöpfte Gesicht, die Augenringe, die wie gezeichnet wirkten, als hätte jemand mit Ruß und Nägeln ihre Wachheit auf die Haut geschrieben. Und erst als Lyr’sa langsam, tastend, sich wie aus Trance erhob, spürte Xael’vyra, wie fremd ihr der Gedanke war, dass jemand die Nacht außerhalb ihrer Tür verbracht hatte – nicht aus Pflicht, sondern aus Furcht, aus einer seltsamen Mischung aus Schuld und Erwartung.
An das Kettenhemd konnte sie sich nicht erinnern. Es war wie ausgelöscht, ein Schatten im Nebel des Zorns, der sie gestern durchdrungen hatte wie ein Blutritual in Arach Tinilith. Vielleicht hatte sie etwas gesagt, vielleicht auch nicht. Es war unerheblich. Was zählte, war die Tatsache, dass jemand sich gebrochen hatte – nicht unter ihrer Peitsche, sondern unter ihrer bloßen Anwesenheit.
Xael’vyra betrachtete Lyr’sa einen Moment lang schweigend, mit dem Gesicht einer Göttin, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie Mitleid empfinden oder vernichten wollte. Dann erhob sie sich, trat barfuß auf den kalten Boden, ließ den Moment wirken – ein erstes Morgenritual im neuen Leben, das ihr fremder war, als sie sich je eingestanden hätte.
Und draußen, hinter den Mauern, wartete das Qu’ellar – ein Labyrinth aus Erinnerungen, Machtspielen und alten Geschichten, die noch immer durch die Schatten flüsterten. Und Xael’vyra würde sie sich zurückholen. Eine nach der anderen.
Splitter einer Erinnerung
Sie rührte sich nicht. Noch nicht.
Die Dunkelheit war träge geworden, in jenen letzten Atemzügen der Nacht, in denen auch Schatten zu schlafen schienen – und doch war Xael’vyras Blick wach. Klar wie Glas, hart wie geschliffenes Onyx. Sie stand am Rand ihrer eigenen Welt, einen Schritt entfernt von der Linie, die einen Befehl von einer Berührung unterschied, ein Urteil von einem Hauch.
Lyr’sa.
Da saß sie. Immer noch. Wie vergessen. Oder wie etwas, das man achtlos hatte liegen lassen – ein Stück Zeug, eine Hülle, ein Schatten ihrer selbst. Xael’vyra betrachtete sie. Lange. Länger, als sie sich erlaubt hätte, wenn jemand anderes anwesend gewesen wäre. Die Skepsis in ihr war kalt, ein vertrauter Reflex. Doch sie wich – langsam, tastend – einer Art… Verwunderung.
Habe ich das befohlen?
Der Gedanke kam nicht wie ein Schuldbekenntnis, sondern wie ein Splitter, der aus dem Fleisch der Erinnerung brach – klein, scharf, ungewiss.
Sie suchte. In sich. Zwischen den Erniedrigungen des gestrigen Tages und dem dornigen Schleier aus Stolz. Metall… ja. Ein Kettenhemd. Dampf, Reinigungsmittel. Eine Stimme, dünn, müde, fast zitternd.
Aber kein Befehl. Kein klarer Satz. Keine bewusste Geste.
Nur dieser Blick, der alles bedeutete, weil er nichts sagte.
Ein Funken von Unmut blitzte auf – gegen sich selbst, gegen das Ungefähre, gegen die Möglichkeit, dass sie unbedacht gewesen war. Dass sie vielleicht etwas von sich gegeben hatte, das mehr war als sie erinnern wollte. Doch der Gedanke wurde im selben Atemzug erstickt, zertreten wie eine Made. Selbstzweifel waren keine Sünde – sie waren Schwäche. Und Schwäche war unentschuldbar.
Xael’vyra trat näher. Ihre Bewegungen waren fließend, katzenhaft – das leise Gleiten nackter Füße auf kaltem Stein kaum hörbar, eher gespürt als gehört. Der Umhang strich wie flüssiger Schatten über den Boden, eine Verlängerung ihres Willens.
Dann blieb sie stehen, einen halben Schritt entfernt, gerade so, dass ihre Präsenz spürbar wurde wie ein Kältestich im Nacken.
„Was… bei Lloth… tust du da unten?“
Die Stimme war sanft – fast schmeichelnd –, aber kalt wie geweihtes Silber auf offener Haut.
Lyr’sa zuckte. Nicht wie eine Dienerin, die ertappt wurde – sondern wie ein Tier, das in den Schlaf gefallen war, obwohl es wusste, dass es das nicht durfte. Ihre Augen flackerten, der Körper schwankte, suchte Halt, fand nur sich selbst. Xael’vyra sah die Müdigkeit, sah die Schuld, die sich wie ein Abdruck um ihre Schultern gelegt hatte. Kein Wort kam. Nur der Atem, stoßweise, unruhig, schwer.
Und Xael’vyra schwieg.
Nicht aus Milde – sondern weil Worte in diesem Moment zu grob gewesen wären.
Sie musterte Lyr’sa weiter – mit einem Ausdruck, der zwischen Spott und Interesse schwebte. Nicht offen, nicht gezielt. Nur ein feines Spiel aus gehobener Braue und leicht geneigten Lippen. Wie jemand, der einen Riss im Marmor entdeckt und sich fragt, ob er den Stein entwertet – oder veredelt.
Faszination war ein zu großes Wort.
Aber etwas in ihr hielt inne.
Nicht aus Mitleid.
Sondern aus Neugier auf ein Muster, das sie noch nicht verstand.
Die Hallen des Hauses
Der Flur lag vor ihr wie eine vergessene Gebetszeile, in Stein gemeißelt und dennoch fremd geworden – langgezogen, leicht gekrümmt, als hätte man ihm einst die Richtung genommen, aber nicht den Sinn, und während Xael’vyra sich darin bewegte, langsam, lautlos, barfuß auf kaltem Boden, schien es ihr, als würde jeder Schritt nicht sie durch das Qu’ellar führen, sondern das Qu’ellar durch sie – wie ein Ort, der in ihrem Inneren weiterging, dunkler, älter, wahrer als das, was sich mit den Augen fassen ließ.
Die Tür zu ihrer Kammer war hinter ihr ins Schloss gefallen mit jenem leisen, metallischen Laut, der nicht klang wie ein Beginn, sondern wie das leise Verstreichen eines Moments, der sich nicht wiederholen würde – und sie hatte sich nicht umgesehen, nicht zurück zur schlaffen Gestalt Lyr’sas, nicht zu dem schwachen Puls einer Loyalität, die vielleicht keiner war, sondern bloß Angst, oder Gewohnheit, oder ein schiefes Echo von etwas, das sie selbst noch nicht entschieden hatte, zu würdigen oder zu zerstören.
Die Hallen hießen sie nicht willkommen, aber sie stießen sie auch nicht ab – sie waren einfach da, in Stein gegossene Erinnerungen, die zu lange schweigen mussten, und während sie sich zwischen ihnen bewegte, mit erhobenem Haupt und jener stillen, unerschütterlichen Würde, die mehr war als Geste, mehr als Rolle, begann sich eine Frage in ihr zu regen, nicht laut, nicht fordernd, eher wie ein kalter Strom, der unter der Haut entlanglief: War das hier kleiner geworden – oder war sie selbst größer geworden, unpassender, gefährlicher für Räume, die früher ein Zuhause gewesen waren und jetzt wie zu eng gewordene Masken an ihr klebten?
Der erste Diener, der ihr begegnete, war mager, kaum mehr als ein Schatten mit Tablett und schrägem Blick, und als er sie sah – erkannte? erahnte? – verneigte er sich tiefer, als es angemessen war, so tief, dass es fast an Lächerlichkeit grenzte, und Xael’vyra entgegnete mit nichts außer Schweigen, einem Blick, der länger hielt, als nötig gewesen wäre, nur um zu prüfen, ob er das Zittern unterdrückte oder genoss – und auch hier: keine Reaktion, kein Titel, keine Ehrerbietung, nur das leise Wispern ihrer eigenen Gedanken, das sich über sein verbeugtes Rückgrat legte wie ein Urteil: Sie sehen mich, aber sie wissen nicht, wer ich geworden bin. Noch nicht.
Die Gewölbe, durch die sie schritt, waren dieselben wie in ihrer Kindheit, in jenen Jahren, die kein Kindsein erlaubten und doch diesen Namen trugen – dieselben Bögen, dieselben Spinnensymbole, dieselben dunklen Wandteppiche, auf denen Göttinnen Beute verschlangen und Blut in Ornamente verwandelten –, und dennoch wirkte alles… stiller. Nicht in der Lautstärke, sondern in der Art, wie man sie nicht mehr fragte, nicht mehr berührte, nicht mehr prüfte. Es war, als hätte das Haus sie vergessen wollen – oder beschlossen, sie erst dann zu erkennen, wenn sie es sich neu nahm.
Vor einem Bogen blieb sie stehen – das Symbol der Jagd eingraviert, fein, kunstvoll, aber gesprungen, ein Riss durch das Spinnennetz, kaum sichtbar, aber da, und ihre Finger glitten wie von selbst darüber, prüfend, forschend, als könnte man durch Berührung verstehen, was Worte nicht zu sagen wagten: War dieser Sprung neu? Oder war er immer da gewesen – und hatte sie ihn nur nie bemerkt, weil sie zu klein war, zu blind, zu hungrig nach etwas anderem als Wahrheit?
Ein weiterer Schatten bewegte sich, tiefer im Korridor, ein Sargtlin vermutlich, schweigend, mit Haltung, aber ohne Titel auf den Lippen – wieder kein Yathrin, kein Gruß, kein Stopp, nur ein Nicken, wie man es einem Gespenst entgegenbringt, das man nicht rufen, aber auch nicht vertreiben kann. Und in Xael’vyra spannte sich etwas – ein Muskel, ein Wille, ein Netz – und ihre Schritte wurden nicht schneller, aber präziser, bewusster, wie eine Tänzerin auf einem unsichtbaren Faden zwischen Erinnerung und Macht.
Zeige niemals Schwäche.
Nicht in diesen Gängen, nicht vor diesen Blicken, nicht vor dir selbst.
Und doch… es war nicht nur Stolz, der sie trug, nicht nur Zorn oder Ehrgeiz – es war das leise Bewusstsein, dass diese Hallen, so leer sie wirkten, nicht leer waren. Sie waren voller Stimmen, voller Augen, voller wartender Schatten, die noch nicht entschieden hatten, ob sie sie wieder aufnehmen würden – oder ob sie ihr zum Feind werden mussten, um sich selbst zu retten.
Sie erkannte Orte – eine Nische, in der sie einst gelauscht hatte, ein Türbogen, hinter dem ihre Mutter einst einen Gesandten in die Knie gezwungen hatte, ohne ein Wort zu sagen –, und doch wirkten diese Bilder aus der Vergangenheit wie Puppentheater in ihrem Geist: klein, starr, überzeichnet, nicht mehr bedeutungsvoll, sondern wie etwas, das sie lächelnd verbrennen würde, wenn es ihr im Weg stünde.
Und so ging sie weiter, mit dem Wissen, dass sie zurückgekehrt war, nicht um zu bitten, nicht um zu flehen, nicht einmal um zu verstehen – sondern um das Netz, das andere zerschlissen hatten, mit eigenen Händen neu zu weben.
Nicht weil es ihr Recht war.
Sondern weil es ihre Natur war.
Riten der Rückkehr
Der Raum roch nach altem Rauch und flüchtigem Eisen – eine Mischung, die Xael’vyra sofort erkannte, auch wenn sie sich nicht mehr an jedes Detail erinnerte, das hier einst gelegen hatte. Der Schrein lag am Ende eines Seitengangs, halb verborgen hinter einem bogenförmigen Schleier aus dunklem Stoff, dessen Fransen in der unbewegten Luft wirkten, als wären sie versteinert. Niemand hatte sie zurückgezogen. Niemand hatte ihn vorbereitet.
Es war nicht der Haupttempel des Hauses – nicht der große Saal mit den fünf Altaren und den lebenden Spinnen, nicht der Raum für Prozessionen und Opferfeste, nicht der Ort, an dem Peitschen tanzten und Blut gerufen wurde –, nein. Dies hier war älter. Kleiner. Intimer. Ein Gebetsraum für die, die Lloth nicht nur kannten, sondern ihr zuhörten, wenn sie schwieg.
Xael’vyra trat ein, langsam, mit jener kontrollierten Bedachtsamkeit, die bei anderen wie Ehrfurcht gewirkt hätte, bei ihr jedoch eher wie ein stiller Anspruch wirkte – als würde sie die Schwelle nicht betreten, sondern beanspruchen.
Die Wände waren mit Tüchern behängt, bestickt mit Symbolen aus schwarzem Garn auf schwarzem Grund, kaum sichtbar, aber spürbar. Ein Netz über allem, gezogen wie ein Schleier aus Erwartung. Und doch… irgendetwas war anders. Nicht falsch. Aber verschoben. Der kleine Altar, einst aus poliertem Obsidian, trug Spuren. Kratzer. Winzige Flecken von Wachs, das nachlässig entfernt worden war. Die Spinnenfigur, die einst in der Mitte gesessen hatte – eine Göttin aus sieben Gliedern, mit Augen aus rotem Glas – war verrückt worden. Kaum merklich. Aber sie sah nicht mehr genau nach Osten.
Xael’vyra blieb stehen.
Ein Atemzug verging. Dann noch einer.
Ihre Finger, noch kalt vom Stein des Flures, hoben sich langsam, wie im Tanz, wie im Ritual, und sie berührte die Spinne mit zwei Fingern – dem Daumen und dem Ringfinger der rechten Hand, so, wie es ihr einst beigebracht worden war, als die Namen der Göttin noch wie Prüfungen auf der Zunge gebrannt hatten. Die Kälte des Symbols durchfuhr sie nicht. Kein Schock, kein Zeichen. Nur Stille.
Aber das war nichts Neues.
Denn Lloth sprach nicht zu jenen, die warteten.
Sie sprach zu jenen, die wirkten.
Leise murmelte sie eine Formel – nicht laut, nicht für andere Ohren, nur für sich, für das Netz, das sie trug, für das Band, das sie nicht nur band, sondern durchdrang:
“Ul’yathrin Lloth, dos zhaun dosst k’lar… uns’aa xun wund nindel zhaun usstan orn tlu.”
Ein Schatten eines Lächelns berührte ihre Lippen, kaum mehr als ein Zucken.
„Die Göttin braucht keinen Tempel, um zu herrschen“, sagte sie leise – deutsch diesmal, fast wie ein Bekenntnis.
Und doch war es ein stiller Zorn, der in ihr gärte.
Denn irgendjemand hatte hier gedient – und dabei geschlampt.
Irgendjemand hatte diesen Raum benutzt, ohne ihn zu ehren.
Die Hände an den Seiten, die Haltung aufrecht, der Blick nun leerer, distanzierter – Xael’vyra drehte sich langsam um, ließ den Blick ein letztes Mal durch den Raum gleiten.
Ein Gefühl breitete sich in ihr aus, das weder Wehmut noch Heimweh war, sondern eine Form von Besitzanspruch:
Wenn dieser Ort einst mir gehört hat… dann wird er es wieder tun. Und mehr noch.
Denn sie spürte es in diesem Moment klarer denn je: Nicht das Haus war ihr Ziel, nicht ihre Mutter, nicht der Titel, nicht die Macht allein.
Sondern der Punkt, an dem alles sich bündeln würde.
Wo das Netz nicht länger nur aus Fäden bestand –
sondern aus Willen.
Und der Wille war da.
Klar.
Still.
Unverrückbar.
Schatten der nächsten Schritte
Der Weg zurück war kurz, doch in ihm lag mehr als bloße Entfernung.
Xael’vyra ging mit der Ruhe einer Priesterin, die ein Ritual beendet hatte, aber nicht befriedet war – sondern nur vorbereitet auf das nächste. Die Gewölbe zogen an ihr vorbei wie Hüllen, die sie abgestreift hatte, einst bedeutungsvoll, nun bloß Kulisse. Und mit jedem Schritt wurde ihr klarer: Was immer dieses Haus einst gewesen war, was immer es zu ihr gesprochen hatte in den Jahren vor Arach Tinilith – es war verstummt. Nicht tot. Aber leer.
Und Leere war ein Zustand, den man füllen konnte.
Als sie ihr Quartier erreichte, stand die Tür offen – nur einen Spalt, aber genug, um Misstrauen zu wecken.
Nicht aus Angst.
Angst war ein Luxus, den sie sich vor langer Zeit abgewöhnt hatte.
Aber Vorsicht war keine Schwäche. Sie war das Instrument derer, die überleben wollten.
Ein flüchtiger Blick – keine Bewegung im Inneren. Keine fremde Präsenz, kein Hauch von Magie. Nur Stille.
Xael’vyra trat ein, ließ den Umhang über ihre Schultern gleiten, ließ ihn auf den Stuhl fallen wie eine Haut, die sie für einen Moment ablegte.
Der Raum war derselbe geblieben. Kein Duft, kein Staub, kein Zeichen dafür, dass jemand ihn berührt hatte.
Niemand traut sich noch. Aber man beobachtet mich bereits.
Sie trat an das kleine, schmale Becken, in dem sich das Wasser wie eine stumme Linse sammelte. Ihre Hände tauchten ein, nur flüchtig – nicht zur Reinigung, sondern zum Spüren. Das Wasser war kalt. Glatt. Klar. Wie ihre Gedanken es sein mussten.
Wer beobachtet mich?
Wer spricht mit wem, wenn ich nicht da bin?
Sie erinnerte sich an Tath’raens Blick – still, ausdruckslos, aber nicht dumm.
Er hatte nicht gesprochen, nicht gewertet, doch sein Schweigen war nicht leer gewesen. Es hatte registriert. Bewertet.
Ein Mann wie er – diszipliniert, berechnend – war entweder eine Gefahr.
Oder eine Gelegenheit.
Und Lyr’sa?
Ein Ärgernis. Ein Relikt. Eine, die zu zerbrechen schien, ohne dass man sie berührte.
Und doch… sie war geblieben.
Nicht klug genug, um zu fliehen.
Nicht stolz genug, um aufzubegehren.
Aber vielleicht – gerade deswegen – brauchbar.
Manchmal gehorchen die Schwachen aus Furcht besser als die Starken aus Loyalität.
Xael’vyra setzte sich. Nicht an den Tisch. Nicht auf das Bett. Sondern auf den Boden – den Rücken an die kalte Wand gelehnt, das Knie angezogen, das andere ausgestreckt, den Blick zur Decke gerichtet, auf die Schatten, die sich langsam zurückzogen, als wäre das Licht, das nicht existierte, doch auf dem Weg.
Sie dachte an ihre Mutter.
Nicht mit Sehnsucht. Nicht mit Wut.
Sondern mit jenem leisen Spott, der zwischen Erkenntnis und Strategie lebt.
Jhea’kryna glaubt, sie hätte mich geschickt – und empfangen. Doch sie hat mich nicht erkannt.
Sie sieht eine Tochter. Eine Yathrin. Ein Werkzeug vielleicht.
Aber sie sieht nicht, was ich geworden bin. Was sie geschaffen hat – und was ich selbst aus mir gemacht habe.
Xael’vyra schloss kurz die Augen.
Ein Atemzug. Zwei. Dann ein leises Lächeln.
Kein Zeichen von Zufriedenheit – sondern von Klarheit.
Sie würde nicht betteln.
Nicht bitten.
Nicht dulden.
Wenn dieses Haus vergessen hat, wie man eine Tochter der Göttin empfängt –
dann wird es sich erinnern müssen, wie es ist, von ihr gerichtet zu werden.
Nicht heute.
Nicht morgen.
Aber bald.
Und dann würde jeder wissen, was es bedeutete, der Tochter der Ilharess zu trotzen.
Und Lloths Schatten würde nicht länger an den Wänden kleben.
Sondern sprechen – durch sie.
[b]Das Erwachen[/b]
Der erste Lichtschein – wenn man in den Tiefen des Qu’ellar überhaupt von Licht sprechen konnte – fiel wie flüssiger Rauch durch das hohe Fenster, dessen Glas in blassem Violett gefärbt war und die Formen verzerrte, als würde die Welt draußen nicht aus Stein und Schatten bestehen, sondern aus Erinnerungen, die man zu vergessen versucht hatte. Xael’vyra lag wach, obwohl sie geschlafen hatte – nicht gut, nicht tief, nicht ruhig, aber ausreichend, um zu wissen, dass der gestrige Abend keine Einbildung gewesen war. Der Empfang, die Kälte, die Worte ihrer Mutter – sie waren geblieben, wie ein Geruch, der sich in der Kleidung festsetzt, wie das Echo einer Stimme, die nie wirklich schweigt.
Sie streckte sich nicht, richtete sich nicht auf mit jener eleganten Selbstverständlichkeit, die ihr einst antrainiert worden war, sondern blieb einen Moment lang einfach liegen, beobachtete die Decke mit dem Blick einer Statthalterin, die ein erobertes Gebiet kartierte. Die Kammer war leer, in einem ordentlichen, beinahe künstlichen Zustand, als hätte niemand sie je betreten, und vielleicht war das wahr – vielleicht war es ein Raum, der für sie eingerichtet worden war, nicht weil man sie erwartet hatte, sondern weil man sich verpflichtet fühlte, ihr einen Ort zu geben. Einen Ort, nicht ein Zuhause.
Doch dann war da ein Geräusch – so leise, dass es sich im ersten Moment eher wie ein Gedanke anfühlte. Ein Atmen, flach, zaghaft, fast verlegen. Und als sie den Kopf langsam drehte, sah sie die Gestalt. Lyr’sa. Zusammengesunken an der Wand, mit der Stirn auf die Knie gepresst, die Hände ineinander verkrallt wie ein Tier, das gelernt hatte, im Schlaf auf der Hut zu sein. Xael’vyra blinzelte, richtete sich auf, ließ die Decke lautlos von den Schultern gleiten, während ihre Gedanken sich sortierten wie Karten auf einem Altar – und keine davon passte zu dem Bild, das sich ihr darbot.
„Was“, sagte sie schließlich – leise, aber mit jener schneidenden Präzision, die kein Flüstern war –, „tust du da?“
Es war keine Frage im eigentlichen Sinn, sondern ein Urteil mit einem Fragezeichen. Ihr Blick glitt über die Rüstung, das erschöpfte Gesicht, die Augenringe, die wie gezeichnet wirkten, als hätte jemand mit Ruß und Nägeln ihre Wachheit auf die Haut geschrieben. Und erst als Lyr’sa langsam, tastend, sich wie aus Trance erhob, spürte Xael’vyra, wie fremd ihr der Gedanke war, dass jemand die Nacht außerhalb ihrer Tür verbracht hatte – nicht aus Pflicht, sondern aus Furcht, aus einer seltsamen Mischung aus Schuld und Erwartung.
An das Kettenhemd konnte sie sich nicht erinnern. Es war wie ausgelöscht, ein Schatten im Nebel des Zorns, der sie gestern durchdrungen hatte wie ein Blutritual in Arach Tinilith. Vielleicht hatte sie etwas gesagt, vielleicht auch nicht. Es war unerheblich. Was zählte, war die Tatsache, dass jemand sich gebrochen hatte – nicht unter ihrer Peitsche, sondern unter ihrer bloßen Anwesenheit.
Xael’vyra betrachtete Lyr’sa einen Moment lang schweigend, mit dem Gesicht einer Göttin, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie Mitleid empfinden oder vernichten wollte. Dann erhob sie sich, trat barfuß auf den kalten Boden, ließ den Moment wirken – ein erstes Morgenritual im neuen Leben, das ihr fremder war, als sie sich je eingestanden hätte.
Und draußen, hinter den Mauern, wartete das Qu’ellar – ein Labyrinth aus Erinnerungen, Machtspielen und alten Geschichten, die noch immer durch die Schatten flüsterten. Und Xael’vyra würde sie sich zurückholen. Eine nach der anderen.
[b]Splitter einer Erinnerung[/b]
Sie rührte sich nicht. Noch nicht.
Die Dunkelheit war träge geworden, in jenen letzten Atemzügen der Nacht, in denen auch Schatten zu schlafen schienen – und doch war Xael’vyras Blick wach. Klar wie Glas, hart wie geschliffenes Onyx. Sie stand am Rand ihrer eigenen Welt, einen Schritt entfernt von der Linie, die einen Befehl von einer Berührung unterschied, ein Urteil von einem Hauch.
Lyr’sa.
Da saß sie. Immer noch. Wie vergessen. Oder wie etwas, das man achtlos hatte liegen lassen – ein Stück Zeug, eine Hülle, ein Schatten ihrer selbst. Xael’vyra betrachtete sie. Lange. Länger, als sie sich erlaubt hätte, wenn jemand anderes anwesend gewesen wäre. Die Skepsis in ihr war kalt, ein vertrauter Reflex. Doch sie wich – langsam, tastend – einer Art… Verwunderung.
Habe ich das befohlen?
Der Gedanke kam nicht wie ein Schuldbekenntnis, sondern wie ein Splitter, der aus dem Fleisch der Erinnerung brach – klein, scharf, ungewiss.
Sie suchte. In sich. Zwischen den Erniedrigungen des gestrigen Tages und dem dornigen Schleier aus Stolz. Metall… ja. Ein Kettenhemd. Dampf, Reinigungsmittel. Eine Stimme, dünn, müde, fast zitternd.
Aber kein Befehl. Kein klarer Satz. Keine bewusste Geste.
Nur dieser Blick, der alles bedeutete, weil er nichts sagte.
Ein Funken von Unmut blitzte auf – gegen sich selbst, gegen das Ungefähre, gegen die Möglichkeit, dass sie unbedacht gewesen war. Dass sie vielleicht etwas von sich gegeben hatte, das mehr war als sie erinnern wollte. Doch der Gedanke wurde im selben Atemzug erstickt, zertreten wie eine Made. Selbstzweifel waren keine Sünde – sie waren Schwäche. Und Schwäche war unentschuldbar.
Xael’vyra trat näher. Ihre Bewegungen waren fließend, katzenhaft – das leise Gleiten nackter Füße auf kaltem Stein kaum hörbar, eher gespürt als gehört. Der Umhang strich wie flüssiger Schatten über den Boden, eine Verlängerung ihres Willens.
Dann blieb sie stehen, einen halben Schritt entfernt, gerade so, dass ihre Präsenz spürbar wurde wie ein Kältestich im Nacken.
„Was… bei Lloth… tust du da unten?“
Die Stimme war sanft – fast schmeichelnd –, aber kalt wie geweihtes Silber auf offener Haut.
Lyr’sa zuckte. Nicht wie eine Dienerin, die ertappt wurde – sondern wie ein Tier, das in den Schlaf gefallen war, obwohl es wusste, dass es das nicht durfte. Ihre Augen flackerten, der Körper schwankte, suchte Halt, fand nur sich selbst. Xael’vyra sah die Müdigkeit, sah die Schuld, die sich wie ein Abdruck um ihre Schultern gelegt hatte. Kein Wort kam. Nur der Atem, stoßweise, unruhig, schwer.
Und Xael’vyra schwieg.
Nicht aus Milde – sondern weil Worte in diesem Moment zu grob gewesen wären.
Sie musterte Lyr’sa weiter – mit einem Ausdruck, der zwischen Spott und Interesse schwebte. Nicht offen, nicht gezielt. Nur ein feines Spiel aus gehobener Braue und leicht geneigten Lippen. Wie jemand, der einen Riss im Marmor entdeckt und sich fragt, ob er den Stein entwertet – oder veredelt.
Faszination war ein zu großes Wort.
Aber etwas in ihr hielt inne.
Nicht aus Mitleid.
Sondern aus Neugier auf ein Muster, das sie noch nicht verstand.
[b]Die Hallen des Hauses[/b]
Der Flur lag vor ihr wie eine vergessene Gebetszeile, in Stein gemeißelt und dennoch fremd geworden – langgezogen, leicht gekrümmt, als hätte man ihm einst die Richtung genommen, aber nicht den Sinn, und während Xael’vyra sich darin bewegte, langsam, lautlos, barfuß auf kaltem Boden, schien es ihr, als würde jeder Schritt nicht sie durch das Qu’ellar führen, sondern das Qu’ellar durch sie – wie ein Ort, der in ihrem Inneren weiterging, dunkler, älter, wahrer als das, was sich mit den Augen fassen ließ.
Die Tür zu ihrer Kammer war hinter ihr ins Schloss gefallen mit jenem leisen, metallischen Laut, der nicht klang wie ein Beginn, sondern wie das leise Verstreichen eines Moments, der sich nicht wiederholen würde – und sie hatte sich nicht umgesehen, nicht zurück zur schlaffen Gestalt Lyr’sas, nicht zu dem schwachen Puls einer Loyalität, die vielleicht keiner war, sondern bloß Angst, oder Gewohnheit, oder ein schiefes Echo von etwas, das sie selbst noch nicht entschieden hatte, zu würdigen oder zu zerstören.
Die Hallen hießen sie nicht willkommen, aber sie stießen sie auch nicht ab – sie waren einfach da, in Stein gegossene Erinnerungen, die zu lange schweigen mussten, und während sie sich zwischen ihnen bewegte, mit erhobenem Haupt und jener stillen, unerschütterlichen Würde, die mehr war als Geste, mehr als Rolle, begann sich eine Frage in ihr zu regen, nicht laut, nicht fordernd, eher wie ein kalter Strom, der unter der Haut entlanglief: War das hier kleiner geworden – oder war sie selbst größer geworden, unpassender, gefährlicher für Räume, die früher ein Zuhause gewesen waren und jetzt wie zu eng gewordene Masken an ihr klebten?
Der erste Diener, der ihr begegnete, war mager, kaum mehr als ein Schatten mit Tablett und schrägem Blick, und als er sie sah – erkannte? erahnte? – verneigte er sich tiefer, als es angemessen war, so tief, dass es fast an Lächerlichkeit grenzte, und Xael’vyra entgegnete mit nichts außer Schweigen, einem Blick, der länger hielt, als nötig gewesen wäre, nur um zu prüfen, ob er das Zittern unterdrückte oder genoss – und auch hier: keine Reaktion, kein Titel, keine Ehrerbietung, nur das leise Wispern ihrer eigenen Gedanken, das sich über sein verbeugtes Rückgrat legte wie ein Urteil: Sie sehen mich, aber sie wissen nicht, wer ich geworden bin. Noch nicht.
Die Gewölbe, durch die sie schritt, waren dieselben wie in ihrer Kindheit, in jenen Jahren, die kein Kindsein erlaubten und doch diesen Namen trugen – dieselben Bögen, dieselben Spinnensymbole, dieselben dunklen Wandteppiche, auf denen Göttinnen Beute verschlangen und Blut in Ornamente verwandelten –, und dennoch wirkte alles… stiller. Nicht in der Lautstärke, sondern in der Art, wie man sie nicht mehr fragte, nicht mehr berührte, nicht mehr prüfte. Es war, als hätte das Haus sie vergessen wollen – oder beschlossen, sie erst dann zu erkennen, wenn sie es sich neu nahm.
Vor einem Bogen blieb sie stehen – das Symbol der Jagd eingraviert, fein, kunstvoll, aber gesprungen, ein Riss durch das Spinnennetz, kaum sichtbar, aber da, und ihre Finger glitten wie von selbst darüber, prüfend, forschend, als könnte man durch Berührung verstehen, was Worte nicht zu sagen wagten: War dieser Sprung neu? Oder war er immer da gewesen – und hatte sie ihn nur nie bemerkt, weil sie zu klein war, zu blind, zu hungrig nach etwas anderem als Wahrheit?
Ein weiterer Schatten bewegte sich, tiefer im Korridor, ein Sargtlin vermutlich, schweigend, mit Haltung, aber ohne Titel auf den Lippen – wieder kein Yathrin, kein Gruß, kein Stopp, nur ein Nicken, wie man es einem Gespenst entgegenbringt, das man nicht rufen, aber auch nicht vertreiben kann. Und in Xael’vyra spannte sich etwas – ein Muskel, ein Wille, ein Netz – und ihre Schritte wurden nicht schneller, aber präziser, bewusster, wie eine Tänzerin auf einem unsichtbaren Faden zwischen Erinnerung und Macht.
Zeige niemals Schwäche.
Nicht in diesen Gängen, nicht vor diesen Blicken, nicht vor dir selbst.
Und doch… es war nicht nur Stolz, der sie trug, nicht nur Zorn oder Ehrgeiz – es war das leise Bewusstsein, dass diese Hallen, so leer sie wirkten, nicht leer waren. Sie waren voller Stimmen, voller Augen, voller wartender Schatten, die noch nicht entschieden hatten, ob sie sie wieder aufnehmen würden – oder ob sie ihr zum Feind werden mussten, um sich selbst zu retten.
Sie erkannte Orte – eine Nische, in der sie einst gelauscht hatte, ein Türbogen, hinter dem ihre Mutter einst einen Gesandten in die Knie gezwungen hatte, ohne ein Wort zu sagen –, und doch wirkten diese Bilder aus der Vergangenheit wie Puppentheater in ihrem Geist: klein, starr, überzeichnet, nicht mehr bedeutungsvoll, sondern wie etwas, das sie lächelnd verbrennen würde, wenn es ihr im Weg stünde.
Und so ging sie weiter, mit dem Wissen, dass sie zurückgekehrt war, nicht um zu bitten, nicht um zu flehen, nicht einmal um zu verstehen – sondern um das Netz, das andere zerschlissen hatten, mit eigenen Händen neu zu weben.
Nicht weil es ihr Recht war.
Sondern weil es ihre Natur war.
[b]Riten der Rückkehr[/b]
Der Raum roch nach altem Rauch und flüchtigem Eisen – eine Mischung, die Xael’vyra sofort erkannte, auch wenn sie sich nicht mehr an jedes Detail erinnerte, das hier einst gelegen hatte. Der Schrein lag am Ende eines Seitengangs, halb verborgen hinter einem bogenförmigen Schleier aus dunklem Stoff, dessen Fransen in der unbewegten Luft wirkten, als wären sie versteinert. Niemand hatte sie zurückgezogen. Niemand hatte ihn vorbereitet.
Es war nicht der Haupttempel des Hauses – nicht der große Saal mit den fünf Altaren und den lebenden Spinnen, nicht der Raum für Prozessionen und Opferfeste, nicht der Ort, an dem Peitschen tanzten und Blut gerufen wurde –, nein. Dies hier war älter. Kleiner. Intimer. Ein Gebetsraum für die, die Lloth nicht nur kannten, sondern ihr zuhörten, wenn sie schwieg.
Xael’vyra trat ein, langsam, mit jener kontrollierten Bedachtsamkeit, die bei anderen wie Ehrfurcht gewirkt hätte, bei ihr jedoch eher wie ein stiller Anspruch wirkte – als würde sie die Schwelle nicht betreten, sondern beanspruchen.
Die Wände waren mit Tüchern behängt, bestickt mit Symbolen aus schwarzem Garn auf schwarzem Grund, kaum sichtbar, aber spürbar. Ein Netz über allem, gezogen wie ein Schleier aus Erwartung. Und doch… irgendetwas war anders. Nicht falsch. Aber verschoben. Der kleine Altar, einst aus poliertem Obsidian, trug Spuren. Kratzer. Winzige Flecken von Wachs, das nachlässig entfernt worden war. Die Spinnenfigur, die einst in der Mitte gesessen hatte – eine Göttin aus sieben Gliedern, mit Augen aus rotem Glas – war verrückt worden. Kaum merklich. Aber sie sah nicht mehr genau nach Osten.
Xael’vyra blieb stehen.
Ein Atemzug verging. Dann noch einer.
Ihre Finger, noch kalt vom Stein des Flures, hoben sich langsam, wie im Tanz, wie im Ritual, und sie berührte die Spinne mit zwei Fingern – dem Daumen und dem Ringfinger der rechten Hand, so, wie es ihr einst beigebracht worden war, als die Namen der Göttin noch wie Prüfungen auf der Zunge gebrannt hatten. Die Kälte des Symbols durchfuhr sie nicht. Kein Schock, kein Zeichen. Nur Stille.
Aber das war nichts Neues.
Denn Lloth sprach nicht zu jenen, die warteten.
Sie sprach zu jenen, die wirkten.
Leise murmelte sie eine Formel – nicht laut, nicht für andere Ohren, nur für sich, für das Netz, das sie trug, für das Band, das sie nicht nur band, sondern durchdrang:
“Ul’yathrin Lloth, dos zhaun dosst k’lar… uns’aa xun wund nindel zhaun usstan orn tlu.”
Ein Schatten eines Lächelns berührte ihre Lippen, kaum mehr als ein Zucken.
„Die Göttin braucht keinen Tempel, um zu herrschen“, sagte sie leise – deutsch diesmal, fast wie ein Bekenntnis.
Und doch war es ein stiller Zorn, der in ihr gärte.
Denn irgendjemand hatte hier gedient – und dabei geschlampt.
Irgendjemand hatte diesen Raum benutzt, ohne ihn zu ehren.
Die Hände an den Seiten, die Haltung aufrecht, der Blick nun leerer, distanzierter – Xael’vyra drehte sich langsam um, ließ den Blick ein letztes Mal durch den Raum gleiten.
Ein Gefühl breitete sich in ihr aus, das weder Wehmut noch Heimweh war, sondern eine Form von Besitzanspruch:
Wenn dieser Ort einst mir gehört hat… dann wird er es wieder tun. Und mehr noch.
Denn sie spürte es in diesem Moment klarer denn je: Nicht das Haus war ihr Ziel, nicht ihre Mutter, nicht der Titel, nicht die Macht allein.
Sondern der Punkt, an dem alles sich bündeln würde.
Wo das Netz nicht länger nur aus Fäden bestand –
sondern aus Willen.
Und der Wille war da.
Klar.
Still.
Unverrückbar.
[b]Schatten der nächsten Schritte[/b]
Der Weg zurück war kurz, doch in ihm lag mehr als bloße Entfernung.
Xael’vyra ging mit der Ruhe einer Priesterin, die ein Ritual beendet hatte, aber nicht befriedet war – sondern nur vorbereitet auf das nächste. Die Gewölbe zogen an ihr vorbei wie Hüllen, die sie abgestreift hatte, einst bedeutungsvoll, nun bloß Kulisse. Und mit jedem Schritt wurde ihr klarer: Was immer dieses Haus einst gewesen war, was immer es zu ihr gesprochen hatte in den Jahren vor Arach Tinilith – es war verstummt. Nicht tot. Aber leer.
Und Leere war ein Zustand, den man füllen konnte.
Als sie ihr Quartier erreichte, stand die Tür offen – nur einen Spalt, aber genug, um Misstrauen zu wecken.
Nicht aus Angst.
Angst war ein Luxus, den sie sich vor langer Zeit abgewöhnt hatte.
Aber Vorsicht war keine Schwäche. Sie war das Instrument derer, die überleben wollten.
Ein flüchtiger Blick – keine Bewegung im Inneren. Keine fremde Präsenz, kein Hauch von Magie. Nur Stille.
Xael’vyra trat ein, ließ den Umhang über ihre Schultern gleiten, ließ ihn auf den Stuhl fallen wie eine Haut, die sie für einen Moment ablegte.
Der Raum war derselbe geblieben. Kein Duft, kein Staub, kein Zeichen dafür, dass jemand ihn berührt hatte.
Niemand traut sich noch. Aber man beobachtet mich bereits.
Sie trat an das kleine, schmale Becken, in dem sich das Wasser wie eine stumme Linse sammelte. Ihre Hände tauchten ein, nur flüchtig – nicht zur Reinigung, sondern zum Spüren. Das Wasser war kalt. Glatt. Klar. Wie ihre Gedanken es sein mussten.
Wer beobachtet mich?
Wer spricht mit wem, wenn ich nicht da bin?
Sie erinnerte sich an Tath’raens Blick – still, ausdruckslos, aber nicht dumm.
Er hatte nicht gesprochen, nicht gewertet, doch sein Schweigen war nicht leer gewesen. Es hatte registriert. Bewertet.
Ein Mann wie er – diszipliniert, berechnend – war entweder eine Gefahr.
Oder eine Gelegenheit.
Und Lyr’sa?
Ein Ärgernis. Ein Relikt. Eine, die zu zerbrechen schien, ohne dass man sie berührte.
Und doch… sie war geblieben.
Nicht klug genug, um zu fliehen.
Nicht stolz genug, um aufzubegehren.
Aber vielleicht – gerade deswegen – brauchbar.
Manchmal gehorchen die Schwachen aus Furcht besser als die Starken aus Loyalität.
Xael’vyra setzte sich. Nicht an den Tisch. Nicht auf das Bett. Sondern auf den Boden – den Rücken an die kalte Wand gelehnt, das Knie angezogen, das andere ausgestreckt, den Blick zur Decke gerichtet, auf die Schatten, die sich langsam zurückzogen, als wäre das Licht, das nicht existierte, doch auf dem Weg.
Sie dachte an ihre Mutter.
Nicht mit Sehnsucht. Nicht mit Wut.
Sondern mit jenem leisen Spott, der zwischen Erkenntnis und Strategie lebt.
Jhea’kryna glaubt, sie hätte mich geschickt – und empfangen. Doch sie hat mich nicht erkannt.
Sie sieht eine Tochter. Eine Yathrin. Ein Werkzeug vielleicht.
Aber sie sieht nicht, was ich geworden bin. Was sie geschaffen hat – und was ich selbst aus mir gemacht habe.
Xael’vyra schloss kurz die Augen.
Ein Atemzug. Zwei. Dann ein leises Lächeln.
Kein Zeichen von Zufriedenheit – sondern von Klarheit.
Sie würde nicht betteln.
Nicht bitten.
Nicht dulden.
Wenn dieses Haus vergessen hat, wie man eine Tochter der Göttin empfängt –
dann wird es sich erinnern müssen, wie es ist, von ihr gerichtet zu werden.
Nicht heute.
Nicht morgen.
Aber bald.
Und dann würde jeder wissen, was es bedeutete, der Tochter der Ilharess zu trotzen.
Und Lloths Schatten würde nicht länger an den Wänden kleben.
Sondern sprechen – durch sie.