Sziedeyna

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Ein glücklicher Zufall

von Sziedeyna » 15 Okt 2025, 18:28

Inzwischen war es die dritte Nacht, in der Sziedeyna wie besprochen im Lager des fahrenden Volkes die Nachtwache übernahm. Sie saß am Feuer und schaute den tänzelnden Flammenzungen zu. Sie hatten eine seltsame meditative Wirkung auf sie und das Verfolgen mit dem Blick lenkte sie etwas von ihren Erinnerungen ab. Da vernahm sie plötzlich ein unerwartetes Geräusch.

Blitzschnell lokalisierte sie die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie stand auf und verließ das Lager ins umliegende Dunkel dieser Richtung. Sie hörte wieder etwas. Ein leises kaum wahrnehmbares Knacken von Ästen, diesmal etwas näher. Ihre feinen Vampirsinne waren wie ein Frühwarnsysten. Sie konnte auch im Dunkel der Nacht alles erkennen als wäre es taghell. Da sah sie schließlich etwas, oder genauer gesagt, jemanden. Es war ein einzelner Mann, der sich in Richtung des Lagers bewegte und anhand der Körperhaltung eher den Eindruck erweckte, als wollte er lieber nicht entdeckt werden. Nach menschlichen Maßstäben beherrschte er die leise Fortbewegung. Aber für eine Vampirin war das dilettantisch. Sziedeyna versteckte sich und ließ die Dunkelheit für sich arbeiten. Der Mann passierte sie kurze Zeit später nichtsahnend und Sziedeyna folgte ihm unbemerkt zurück zum Lager.

Als der Mann das Lager erreichte, schaute er sich genau um. Er musterte Säcke und Kisten und begann dann, vorsichtig eine der Kisten zu öffnen, um hineinzuschauen. Es musste sich um einen Plünderer handeln. Niemand, der irgendeine Verbindung zum Lager hatte, würde sich so verhalten, da war sich Sziedeyna sicher. Sie schlich sich lautlos von hinten an, packte den neugierigen Mann und brach ihm mit einem hörbaren Knacken das Genick. Sie schleppte ihn einige Schritt außerhalb das Lagers, fuhr ihre Vampirzähne aus und trank sich an der frischen Leiche satt. Hinterher trug sie den schlaffen Leib noch etwas weiter bis zum nahegelegenen Sumpf und entsorgte den Mann dort. Leise blubbernd verschwand er nach kurzer Zeit spurlos unter der Wasseroberfläche.

"Was für in glücklicher Zufall", dachte sich Sziedeyna, die inzwischen schon wieder deutlich ihren Hunger gespürt hatte. Sie wollte sich an Ronas klare Worte halten, und niemandem aus dem Lager schaden. Schließlich haben sie sich so fürsorglich um sie gekümmert. Aber dieser Mann, der nichts Gutes im Schilde geführt hatte, der war ihr egal. Er konnte sterben. Und so ging sie mit einem zufriedenen Gefühl langsam wieder zum Lager zurück. Es betäubte auch ein wenig ihren inneren Schmerz. Die anderen sollten nie etwas von diesem Ereignis erfahren.

Fahrendes Volk

von Sziedeyna » 15 Okt 2025, 00:05

Irgendwann setzte sich Sziedeyna wieder in Bewegung und ging eher ohne Ziel los. Zur verirrt waren ihre Gedanken zu diesem Zeitpunkt. In einiger Ferne machte Sziedeyna nach einer Weile Lichter im Wald aus, die normale Augen wohl kaum wahrgenommen hätten. Sie ging darauf zu und fand bald ein Lager fahrenden Volks, das in einer Lichtung kampierte. Im Zentrum loderte ein großes Feuer, das umstellt war von mehreren verschiedenfarbigen Wagen. Sie blieb in einigem Abstand stehen und beobachtete das Lager. Stimmen drangen an ihr Ohr. Sie sah mehrere Personen, die sich unterhielten.

In ihrem Zustand war ihr nicht gerade nach Gesellschaft, allerdings auch nicht danach, mit ihren quälenden Gedanken allein zu sein. Nach der vollen Blutmahlzeit von vorhin war Hunger für sie gerade nichts, das ihre Gedanken beherrschte, und das würde auch noch eine Weile so bleiben. So wagte sie es und näherte sich. Als sie sich aus dem Schatten der Umgebung schälte, bemerkten die anwesenden Leute sie schnell. Ihre Blicke wandten sich Sziedeyna zu, skeptisch den Neuankömmling musternd, der zu einer ungewöhnlichen Zeit ihr Lager aufsuchte. Sziedeyna näherte sich ihnen und blieb dann einige Schritt vom Feuer entfernt stehen.

Als die Leute ihr seltsame Blicke zuwarfen, merkte sie erst, dass sie gar keine richtige Kleidung trug, sondern nur eine Art Nachthemd, das zudem durch die Experimente ziemlich mitgenommen aussah. Bei ihrer linken Brust war der Stoff völlig durchlöchert und blutüberströmt. Sziedeyna schaute an sich herunter und schämte sich in dem Moment. Dann hob sie den Blick wieder und schaute die Umstehenden an. Einer von ihnen durchbrach die Wortstille: "Brauchst du Hilfe?" Sziedeyna schaute dem Mann eine Weile in die Augen, bis sie lediglich ein sachtes Nicken zustande brachte.

Der Mann rief einer der anwesenden Frauen zu: "He, Hailey, du hast doch sicher für diese junge Dame etwas zum Anziehen, oder?" Die Frau musterte Sziedeyna und nickte ihm dann zu. "Klar, sie soll mal mitkommen." Hailey deutete Sziedeyna an, mit in ihren Wagen zu kommen und Sziedeyna folgte ihr langsam, noch immer nicht ganz geistig anwesend, als würde das Vergangene zu viel ihrer mentalen Kapazität beanspruchen.

Im Wagen musterte die Frau Sziedeyna erneut und suchte ihr dann einen dunklen Rock und eine dazu passende ärmellose Bluse raus. Sie wollte ihr auch gerade eine warme Decke dazu geben, aber Sziedeyna winkte kaum merklich ab und sagte leise, kaum hörbar: "Mir... ist nicht kalt." Hailey wunderte sich etwas ob dieser Worte, legte die Decke aber dann beiseite. Sziedeyna zog sich vor ihr um und beide verließen kurz darauf wieder den Wagen und gingen zu den anderen ans Feuer. Hailey bot ihr einen Platz auf dem Baumstamm vor dem Feuer an und Sziedeyna setzte sich darauf, mit leeren Augen ins Feuer starrend.

Einer der Männer sagte schließlich: "Vielleicht sollte Rona sie sich mal ansehen. Mir scheint, ihr hat es nicht nur an Kleidern gemangelt. Was meint ihr?" Die anderen schauten sich gegenseitig an und nickten dann langsam. "Ja, vielleicht", sagte einer von ihnen. "He, wie heißt du eigentlich, Unbekannte mit den dunkelroten Haaren? Ich bin Geoffrey.", entfuhr es schließlich dem Mann, der schon Hailey nach Kleidern für Sziedeyna gefragt hatte. Sziedeyna brauchte einen Moment, um ihren Blick vom hypnotischen Tanz der knisternden Flammern zu lösen, und ihn auf Geoffrey zu richten. Sie zögerte noch kurz, aber brachte dann leise und gebrochen ihren Namen heraus: "Sziedeyna." Geoffrey fuhr fort: "Dann willkommen in unserem bescheidenen Heim, Sziedeyna. Wir helfen gerne jedem in Not. Und du siehst aus als ob du Hilfe gebrauchen könntest. Was ist denn mit dir passiert?"

Sziedeyna zuckte zusammen bei dieser Frage, da sie sie unweigerlich wieder direkt in ihre Erinnerungen zurückbrachte. Sie brachte kein Wort heraus. "Definitiv ein Fall für Rona", sagte Hailey. Sziedeyna schaute Hailey den Kopf langsam drehend an. Hailey führte weiter aus: "Ja, Rona, sie lebt in dem Wagen dort." Sie zeigte auf den grünen Wagen, in dessen Richtung Sziedeyna eh von ihrem Sitzplatz am Feuer schaute. "Sie kann dir bestimmt helfen. Sprich einfach mit ihr." Sziedeyna schaute wieder zu Hailey. Diese legte nach: "Du kannst jetzt zu ihr gehen, wenn du magst." Sziedeyna zögerte noch einen Moment, als wüsste sie nicht genau, was sie tun sollte. Wer war diese Rona und wie konnte sie ihr helfen?

Nach einer Weile stand Sziedeyna langsam auf und ging zum grünen Wagen. Sie schaute durch den Eingang, bevor sie die kleinen Leiterstufen hochging und schließlich im Wagen stand. Sie blickte sich um. Niemand da. Sie sah ein altes Bett, Bücherregale, eine Kommode mit Blumentopf, und einen gemütlichen Sessel mit einer... Kristallkugel daneben. Sziedeyna hatte von so etwas schon mal gehört. War Rona eine Wahrsagerin, eine Hellseherin? Gab es so etwas wirklich? Aber wo war sie denn überhaupt, diese Rona? Die anderen hatten doch gesagt, sie wäre da. Aber Sziedeyna sah niemanden. In dem Moment aber, als sich Sziedeyna gerade umgedreht hatte, um den Wagen wieder zu verlassen, sprach plötzlich eine sanfte Frauenstimme zu ihr: "Bleib hier, Kind. Du bist hier richtig." Sziedeyna erschrak. Schon wieder jemand, der einfach hinter ihr auftauchte, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie drehte sich abrupt um und erblickte in dem Sessel nun eine Frau, die Rona sein musste. Mit der Überraschung im Gesicht geschrieben fragte Sziedeyna leise: "Rona?" Die Frau antwortete mit sanfter Stimme. "Ja, manche nennen mich Rona. Du kannst das auch tun." Sziedeyna stutzte kurz und schaute sie nur an, nicht so recht wissend, was sie mit dieser Rona nun anfangen sollte.

"Komm her", Rona deutete ihr mit einer Geste an, sich ihr zu nähern, "ich möchte dich sehen." Sziedeyna folgte ihrer Aufforderung mit fragendem Blick. "Gib mir deine Hand." Sziedeyna zögerte. "Deine Hand, es tut nicht weh." Rona schmunzelte kurz. Sziedeyna schaute sie nur unsicher an, wohlwissend, dass die Kälte ihres Körpers ihre Natur verraten könnte. Aber gleichzeitig hatte sie auch ein seltsames Vertrauen zu dieser Frau. Sie hatte eine warme Ausstrahlung, die vielleicht mehr andeutete als man es bei einem gewöhnlichen Menschen erwarten würde. Also reichte Sziedeyna ihr langsam die Hand und Rona umfasste sie mit einem festen Griff. Sziedeyna und Rona zuckten fast gleichzeitig etwas zusammen, als hätte zwischen ihnen ein wortloser Austausch stattgefunden, dabei aber das Ergebnis noch nicht offenbart. Sziedeyna schaute Rona suchend in die Augen, ihre Reaktion beobachtend. Rona blickte ihr wiederum fest in die Augen und nickte kurz. "So ist das also", entfuhr es Rona.

Sziedeyna spürte, dass Rona nun um ihre wahre Natur wusste, hatte aber nicht das Gefühl, hier in Gefahr zu sein oder als solche gesehen zu werden. Sziedeynas Hand weiterhin fest haltend, der Druck war Sziedeyna etwas unangenehm, schloss Rona nun die Augen und konzentrierte sich, während sie ein paar für Sziedeyna unverständliche Silben murmelte. Sziedeyna spürte etwas in ihrem Inneren. Als wäre sie gerade nicht mehr allein mit sich in ihrem Geist. Aber die ruhige Ausstrahlung Ronas ließ Sziedeyna Rona gewähren. In ihrem Zustand sah Sziedeyna vielleicht eine gewisse Chance, dass Rona ihr Leid etwas lindern könnte. Als Rona tiefer in ihr Inneres vordrang, verfinsterte sich Ronas Miene zusehends. Ihre Hand drückte sie nun fester, bis Sziedeyna einen deutlichen Schmerz spürte. Aber sie hielt still und ließ Rona weiter tun, was sie tat.

Schließlich kniff Rona ihre Augen fest zusammen, dass sich ihre Stirn runzelte. Kurz nach dem Höhepunkt des schmerzhaften Drucks auf Sziedeynas Hand reduzierte sie den Druck abrupt wieder und öffnete schlagartig die Augen, welche sofort Sziedeynas Augen fixierten. "Kind, was hat man dir angetan!" Sziedeyna, die nun wusste, dass Rona alles gesehen haben musste, fing in diesem Moment bitterlich an zu weinen. Sie brach vor Rona auf die Knie und spürte, wie sich in ihr etwas Erleichterung breit machte, da sie nun nicht mehr mit dem Erlebten allein war. Rona wartete geduldig und hielt weiterhin Sziedeynas Hand, bis diese wieder aufhörte zu weinen und sich langsam wieder fasste. Sziedeyna blieb auf dem Boden vor Rona sitzen und schaute sie an. "Wer bist du?", fragte Sziedeyna sie dann überrascht. "Ich bin nur eine fahrende Frau, die Dinge sieht." Sziedeyna schaute sie weiter an, mit dieser Antwort nicht all zu viel anzufangen wissend. Dennoch nickte sie dann leicht, ohne den Drang zu verspüren, weiter nachzubohren.

Rona ergriff wieder das Wort: "Mit viel mehr werde ich dir leider nicht helfen können. Ich habe dir etwas des Gewichts abgenommen, aber nur die Zeit kann deine Wunden wirklich heilen, junge Vampirin." Sziedeyna zuckte zusammen, als sie so direkt angesprochen wurde. "Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher." Eine kurze Pause entstand, während dieser Sziedeyna Rona prüfend anschaute. "Solange du dich zu benehmen weißt. Du weißt, was ich meine." Sziedeyna verstand und nickte ihr leicht zu. Dann fragte sie: "Kann ich etwas hierbleiben, bei euch?" Rona nickt ihr zu. "Aber natürlich, solange du willst." Sziedeyna lächelte, hatte sie hier doch so etwas wie einen kleinen sicheren Hafen gefunden. Aber dann stellte Sziedeyna ihr noch eine Frage: "Aber, was wenn...?" Rona schaute sie nun mit ernster Miene an und entgegnete: "Meine Worte waren doch eindeutig, oder nicht?" Sziedeyna nickte und schaute zu Boden. Rona fuhr fort: "Aber was du außerhalb unserer beschaulichen Lagerstätte machst, soll mich nicht interessieren." Sziedeyna nickte abermals. Rona schloss das Gespräch ab: "Dann geh nun, Kind, setz dich ans Feuer, wärme dich und lasse das Geschehene los. Nur so kannst du weitermachen." Sziedeyna stand langsam auf, ihre Hände lösten sich und in dem Moment war Rona plötzlich wieder verschwunden. Sziedeyna wunderte sich nicht mehr wirklich und verließ den grünen Wagen, ging zurück zum Feuer und setzte sich zu den anderen.

Geoffrey fragte sie sogleich: "Und? Hat Rona dir helfen können?" Sziedeyna schaute ihn an und überlegte kurz. "Glaube schon", entfuhr es ihr knapp. "Ich darf etwas hierbleiben." Geoffreys Miene hellte sich auf und er lächelte breit. "Dann herzlich willkommen bei uns. Sag Bescheid, wenn dir etwas fehlt." Sziedeynas Gesicht wies nun den Hauch eines Lächelns auf, das Dankbarkeit andeutete. Hailey mischte sich ein: "Du kannst bei mir schlafen." Sziedeyna wandte den Blick zu ihr und lächelte noch etwas mehr. "Danke für eure Gastfreundschaft", brachte sie leise hervor. "Ich hoffe es stört euch nicht, dass ich eher... nachtaktiv bin", legte Sziedeyna nach. "Soll vorkommen", sagte Geoffrey mit verschmitztem Lächeln und fuhr fort: "Du kannst für uns die Nachtwache übernehmen." Sziedeyna wirkte erleichtert und erwiederte in etwas festerem Tonfall: "Gerne. Nochmals danke für die Gastfreundschaft. Ich bringe mich gerne ein." Geoffrey, Hailey und die anderen warfen ihr ein warmes Lächeln zu und Sziedeyna fühlte sich in dieser illustren Truppe gut aufgehoben.

Sie war wie ein Rabe zwischen lauter bunten Vögeln, die sie nicht ganz einzuordnen wusste. Aber gehört hatte sie von solchen Leuten schon, die man fahrendes Volk nannte. In ihrer alten Heimat waren sie besonders häufig, aber dort schienen sie von der Bevölkerung nicht sonderlich gemocht zu werden, weshalb sie stets auf Abstand blieben. Welches Problem die Bevölkerung mit ihnen hatte, hatte Sziedeyna nie verstanden. Ihr schienen diese Menschen ein besseres Leben zu führen als die Leute in ihrem alten Dorf. Sie waren frei und unabhängig. Sie reisten durch das ganze Land und hatten sicherlich viele spannende Geschichten erlebt. So völlig anders als die Bewohner ihres Dorfes, aus dem sie stammte, die nur jeden Tag den immergleichen Routinen folgten.

Die Bewohner des Lagers legten sich bald schlafen, während Sziedeyna am Feuer sitzen blieb und wieder mit ihren Gedanken allein war. Sie hatte sich etwas beruhigt. Die Gastfreundschaft der Leute und insbesondere Ronas Anteilnahme hatten sie etwas getröstet. Aber sie wusste auch, dass es noch ein langer Weg war, die Geschehnisse wirklich hinter sich zu lassen.

Tagsüber, als Sziedeyna eigentlich schlief, wachte sie immer wieder nach Luft schnappend auf. Hailey kam ihr stets zur Hilfe, wenn sie dies bemerkte, und beruhigte sie wieder. "Es war nur ein Traum, du bist hier sicher. Alles wird gut." Sziedeynas Zustand verbesserte sich auch nach mehreren Tagen kaum. Aber sie war froh, hier immerhin nicht ganz allein zu sein mit sich und ihren Erinnerungen. Sie war dankbar und hielt ihren Zustand, soweit sie konnte, stoisch aus.

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Entführung

von Sziedeyna » 11 Okt 2025, 04:25

Sziedeyna nach der Fusion: Ein Psychogramm
Zwei Sziedeynas. Eine war inzwischen Vampirin geworden. Die andere ist Mensch geblieben. Jetzt waren sie eins, und doch nicht. In einem Kopf existierten beide, ineinander verwoben, aber dennoch nicht ganz zu einer Einheit verschmolzen. Beide Sziedeynas hatten ganz anders mit der Schuld umzugehen. Während die Menschliche davon befreit war, geschah dies auf Kosten der Vampirischen, die nicht zuletzt deswegen auch den Vampirkuss als eine Art Absolution empfangen hatte. Diese beiden Lebensrealitäten waren jetzt in einen gemeinsamen Raum gezwungen worden. Sie waren wie Zwillinge, die sich lange nicht gesehen und sich daher in unterschiedliche Richtungen entwickelt, aber gleichzeitig so viel gemeinsam hatten.

In Sziedeyna entstand ein Wir aus den beiden Ichs in den Wochen und Monaten nach der Fusion. Sie hielten Zwiesprache, tauschten sich aus, unbewusst wie bewusst. Manchmal fand der Dialog eher im Hintergrund statt, auch in Träumen. Manchmal aber sprachen sie auch direkt miteinander und das war für sie eine außergewöhnliche Erfahrung. Die Fusion manifestierte sich eher im Austausch zweier Wesen, in einer Art zwillinghafter Verbundenheit, als in einer vollen Verschmelzung zu einer Einzelidentät. So war es Sziedeyna auch noch möglich, klar zu trennen zwischen den Erinnerungen der einen und der anderen.

Manchmal passierte es, da rutschte Sziedeyna im Gespräch mit anderen ein "wir" heraus. Manchmal fing sie es noch sofort wieder ein wie in "wi...ich". Und manchmal merkte sie gar nicht, wenn sie von "wir" sprach. Die meiste Zeit nutzte sie jedoch die Ich-Form, auch weil oft eine Sziedeyna gerade im Vordergrund war und den Impuls gab.
Sziedeynas Zustand als Halbvampirin war für sie inzwischen zur Normalität geworden. Die regelmäßigen Besuche bei Ancanagar in ihrem Turm gaben ihrem Leben zudem Struktur. Ancanagar hatte sie als ihr Kind angenommen. Die vampirische Blutsverbindung, die sie zweifelsfrei stark bei Sziedeyna spürte, war sicherlich maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass sich beide überhaupt so annähern konnten. Sziedeyna fühlte sich bei Ancanagar wohl, die ihr durch ihre bloße Präsenz ein Gefühl von Geborgenheit gab. Bei ihr war Sziedeyna wie ausgewechselt. Sonst eher zurückhaltend und stets unterkühlt wirkend, konnte Sziedeyna sich selbst nicht ganz erklären, warum sie in Ancanagars Gegenwart so aufblühte. Eines hatte sie sich geschworen: Sie würde alles tun, um Ancanagar nicht wieder zu verlieren. Diese zweite Chance sah sie als Wink des Schicksals, die sie heiligte. Zu groß war vor über einem Jahr der Schmerz ihres abrupten Verlustes gewesen. Sziedeynas Gefühle gegenüber Ananagar gingen tief. Was dabei die vampirische Verbindung war und was darüber hinaus ging, vermochte sie nicht zu sagen.

Sziedeyna war wieder auf dem Weg von Britain zu Ancanagars Turm nordwestlich des Schwarzsteingebirges. Der Mond stand hoch am Himmel und die Sterne wurden nur von wenigen Wolken verdeckt. Da knackte es plötzlich im Unterholz. Sziedeyna dachte zunächst an ein Tier und ging weiter. Aber als ein weiteres Knacken von der anderen Seite an ihr Ohr drang, wurde sie hellhörig. Sie blieb stehen und musterte aufmerksam den Wald, der sich links und rechts des Weges von ihr befand. Da begannen sich plötzlich mehrere Gestalten aus dem Dickicht zu schälen und sie zu umzingeln. Nun wusste sie, dass dies ein Anschlag auf sie war. Die Gestalten zogen Waffen und richteten sie von allen Seiten auf Sziedeyna, die sich unsicher umblickte und drehte, ohne einen klaren Angriffsvektor zu finden, um dieser Situation zu entkommen.

Dann kam aus dem Wald eine weitere Gestalt hinzu. Sie trug eine Robe und hielt einen Stab mit einem filigran verzierten und geschmückten Totenschädel an dessen oberem Ende. Sie riss den Stab in die Höhe und begann etwas mit sonorer Stimme zu murmeln. Die Worte wurden lauter und Sziedeyna spürte nur, wie ihr schwarz vor Augen wurde.

Als sie wieder ihr Bewusstsein erlangte, merkte sie zuerst, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war in senkrechter Lage durch Metallschellen an Füßen und Händen, sowie an der Taille auf hölzernen Balken in Kreuzform fixiert. Angst stieg in ihr auf. Sie musterte den Raum, in dem sie allein war. Es schien so etwas wie ein Labor zu sein. Mehrere Tische und Schränke, ein Seziertisch. Es hing chirurgisches Besteck an den Wänden, alchimistische Gebräue köchelten, die dem Raum einen chemischen Gestank verliehen. Es gab keine Fenster. Sziedeyna fühlte sich wie begraben. Sie ahnte, dass ihr hier nichts Gutes blühen würde. Aber sie wusste nicht, wer sie entführt hatte und aus welchem Grund. Was wollten sie von ihr? Was hatte sie zu befürchten?

Eine Weile in diesem Zustand gefangen öffnete sich irgendwann die schwere schwarze Holztür des Labors. Die Holztür erinnerte sie an etwas. Konnte es sein? Und ja, dann bestätigte sich ihr Verdacht. Ein vollbärtiger Mann betrat den Raum, den sie nur zu gut kannte: Thalkor von Schwarzbrunn. Ihr erster Auftraggeber, für den sie schon viele Jahre Aufträge erledigt hatte und zu dem sie auch in den letzten Wochen in ihrer halbvampirischen Form immer wieder Kontakt gehabt hatte.

Sziedeyna schaute ihn ungläubig an. "Thalkor...?" Der Mann betrachtete sie kühl. "Es ist nichts Persönliches, Mädchen. Aber was aus dir geworden ist, muss untersucht werden, verstehst du? Du glaubst doch nicht, dass mir das verborgen geblieben ist." In Sziedeyna stieg Panik empor. Sie wusste, dass Thalkor ein Schwarzmagier und Nekromant war, auch wenn er es ihr nie direkt verraten hatte. Aber die Reagenzien, die sie ihm immer wieder besorgen sollte, sprachen für sich. Und dass er offenbar über große magische Fähigkeiten verfügte, hatte sie auch daran gemerkt, dass er sich immer völlig unbemerkt hinter ihr manifestieren konnte, auch noch als sie ihre vampirischen Sinne durch die Fusion erhalten hatte.

Sie fragte ihn unsicher: "Was habt ihr mit mir vor?" Sie ruckte an den Fesseln und schaute sich suchend im Raum um, ohne Wirkung. Die Fesseln konnten offenbar ohne Probleme einen Vampir halten. Dann schaute sie ihn wieder an. Thalkor fuhr unbeeindruckt fort: "Nun, du bist etwas Besonderes. Warst es nicht immer, aber jetzt bist du es. Warum?" Seine Augen funkelten sie an. Sziedeyna fand in ihrem Zustand kaum klare Gedanken, aber brachte dann doch eine Antwort zustande, die sie eher stammelte: "Ich... weiß nicht, es... ist einfach passiert... Erst waren wir zwei... dann eine."

Thalkor hörte ihr interessiert zu. "Zwei? Dann eine? Sprich weiter!" Sein Tonfall wurde fordernder und verlor die vorige Ruhe. Sziedeyna fuhr fort: "Vampirin und Mensch, nun sind wir eins... so schätze ich." Sie schaute ihn an, als ob sie ihm gerade ihr tiefstes Geheimnis offenbart hätte und sich dadurch nun besonders verwundbar gemacht hatte. Aber sie hatte eine Ahnung, dass er ihr eh keine Wahl lassen würde, wenn sie sich zierte.

"Lebend und tot...", entfuhr es Thalkor, der sie musternd betrachtete und dabei seinen pechschwarzen Bart massierte. "Du bist eine Anomalie, ist dir das eigentlich klar? So etwas wie dich dürfte es eigentlich gar nicht geben. Aber dass es dich gibt, das ist eine Sensation. Und eine, die ich exklusiv erforschen und den bestmöglichen Nutzen daraus ziehen werde. Wie gesagt, ist nicht persönlich. Du warst immer sehr nützlich für mich, aber jetzt wirst du mir auf ganz neue Weise nützen."

In Sziedeyna machte sich Entsetzen breit. Sie brachte nur ein paar Worte hervor: "Was habt..." Thalkor fuhr ihr ins Wort: "Ich werde dich sezieren, werde dir dein Geheimnis entlocken und ich sage dir gleich, du wirst es wahrscheinlich nicht überleben." Sziedeyna hatte noch nie dieses Gefühl verspürt, das seine Worte in ihr auslösten. Blanke Todesangst. Thalkor sprach weiter: "Ich werde mir überlegen, was ich genau mit dir anstelle. Bis später." Da verschwand er so schnell wie er gekommen war. Die schwarze Tür fiel wieder ins Schloss und Sziedeyna blieb mit dem Geschehenen allein zurück.

Was hatte er mit ihr vor? Was würde er ihr antun? Die Gedanken rasten in ihr. Ihr Herz schlug als wollte es aus ihrer Brust springen. Sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, aber es war nur das Gefühl. Sie blieb bei Bewusstsein, mit diesen quälenden Gedanken, was ihr einstiger Auftraggeber sich wohl für sie ausgedacht hatte. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Keine Chance. Dieser Cocktail aus Todesangst, Panik und körperlicher Überreaktion entfachte einen inneren Sturm, der sie zu verschlingen drohte.

Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging, aber irgendwann ging die schwarze Tür wieder auf und Thalkor kam zurück. Diesmal schloss er die Tür hinter sich, was für sie eine gewisse Endgültigkeit der Situation transportierte. Sie hob den Kopf bei dem Geräusch und schaute Thalkor an. Dieser wandte sich aber von ihr ab und ging zu einem Loch in der Wand. Er pfiff einmal gekonnt in das Loch hinein, da erhellte sich das Loch kurze Zeit später und ein Lichtstrahl trat aus. Dann zog Thalkor eine Apparatur heran und positionierte sie zwischen Sziedeyna und dem Loch. Darauf befanden sich in Höhe des Lochs mehrere Linsen. Er sprach zu ihr: "Siehst du das hier?", und zeigte auf das helle Loch, "das ist Sonnenlicht. Und mit Hilfe dieser Linsen werde ich es bündeln und auf dich lenken, ganz gezielt, da wo ich es hinhaben will. Mal sehen wie du darauf reagierst." In Sziedeyna zog sich alles zusammen. Sonnenlicht war inzwischen für sie zu einer tödlichen Gefahr geworden. Ihr ganzer Lebensrhythmus richtete sich danach, diesem Licht zu entgehen. Sie musste stets aufpassen, früh genug vor der Morgensonne wieder einen Unterschlupf gefunden zu haben. Und jetzt wollte dieser Mann sie damit malträtieren.

Sziedeyna verschluckte sich fast bei den Worten: "Das ist... Folter." Thalkor entgegnete lediglich kühl: "Das ist Forschung. Dafür muss es Opfer geben. Und lass es dir ein Trost sein, du dienst vielleicht einer großen Sache." Sziedeyna schaute ihn nur ungläubig an, in ihrem Blick eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Angst.

Dann begann der Mann damit, die Linsen auszurichten und den Strahl gezielt mit einer Hand zu lenken. Zuerst traf er damit auf Sziedeynas linke Hand. Es begann sofort laut zu zischen und Sziedeyna schrie vor Schmerz. Als Thalkor den Strahl von ihr nahm, kam Sziedeynas verbrannte Hand zum Vorschein. Blasen hatten sich gebildet, das rohe Fleisch war stellenweise zu sehen. Es qualmte. Thalkor betrachtete die Reaktion eher genüsslich und kommentierte: "Aha! Das Sonnenlicht schadet dir also doch. Interessant. Wollen wir mal weitersehen. Ah, ich habe eine Idee!" Sziedeyna wusste nicht, was gerade schlimmer für sie war, der vorhandene Schmerz oder die Angst davor, was noch auf sie zukommen würde.

Thalkor bündelte den Strahl mit Hilfe seiner Apparatur noch enger und zielte nun auf ihr linkes Auge. Sziedeyna zog den Kopf reflexartig zur Seite. "Na! Daran hätte ich auch denken können, einen Augenblick", entfuhr es Thalkor. Er ging zu einem der Schränke und holte einen Lederriemen mit Schnalle hervor und fixierte Sziedeynas Kopf damit. Sziedeyna schrie ihm voller Verzweiflung laut ins Ohr: "Nein, bitte nicht!" Thalkor wich zurück und sagte: "Au! Das war laut. Moment." Er ging zu einer Schublade, zog ein Tuch heraus. Dann ging er wieder zu Sziedeyna. "So, du machst jetzt einmal den Mund auf." Sziedeyna rührte sich nicht. "Muss ich dich erst zwingen? Es hat doch eh keinen Zweck." Daraufhin öffnete Sziedeyna langsam und resigniert den Mund, in den Thalkor dann das Tuch stopfte. "Sodala, jetzt können wir weitermachen."

Sziedeyna starrte ihn nur mit weit geöffneten Augen an. "Ah, du machst das schon ganz richtig", sagte Thalkor und schmunzelte. Danach ging er wieder zur Apparatur und zielte mit dem gebündelten Strahl jetzt auf Sziedeynas linkes Auge, die ihm nun nicht mehr entgehen konnte. Gedämpft drang ihr Schreien durch das Tuch in ihrem Mund, während der Strahl auf ihrem Auge verweilte und sich allmählich durch den gesamten Schädel bohrte, bis er hinten wieder austrat. Wo eben noch ein Auge war, war nun nur noch ein Loch. Es roch verbrannt und kurz bevor Sziedeynas Schädel in Flammen aufzugehen drohte, stoppte Thalkor den Strahl. Sziedeyna war nicht mehr ansprechbar, der Schock zu groß, die Schmerzen unvorstellbar. "So, jetzt warten wir mal ab", sprach Thalkor eher zu sich selbst.

Während der Schwarzmagier Sziedeynas Loch im Schädel genau beobachtete, wurde er Zeuge ihrer vampirischen Regenerationsfähigkeit. Ganz langsam wuchs das Loch wieder zu und ein neuer Augapfel formierte sich in der Höhle. Sziedeyna kam allmählich wieder zu Bewusstsein. Thalkor wirkte amüsiert. "Formidabel! Anscheinend ganz die Vampirin. Keine besonderen Resistenzen gegenüber Sonnenlicht. Beinahe wärst du mir abgeraucht." Er schmunzelte ihr zu und notierte etwas in sein Notizbuch. Dann widmete er sich wieder Sziedeyna. "Dann wollen wir uns mal deine menschliche Seite vornehmen. Die ist hier noch am Interessantesten, da bin ich sicher", sprach er in einem für die Situation völlig unangemessen heiteren Tonfall.

Thalkor trat an Sziedeyna heran und beugte sich mit seinem Ohr zu ihrer Brust. "Ah, ich höre es. Bup, bup. Und so schnell. Wie im Galopp." Er ging wieder zu einer Schublade und musterte kurz den Inhalt. Daraufhin nahm er einen Dolch heraus und ging damit wieder zu Sziedeyna. "Was passiert, wenn dein Herz zum Stillstand kommt?", fragte er sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Er legte sein Ohr wieder an ihre Brust. "Oh, noch schneller als eben." Dann trat er einen Schritt zurück, setzte die Dolchspitze auf ihrem Brustkorb ab und schob die Spitze langsam bis zum Anschlag in Sziedeynas Herz. Wieder dämpfte das Tuch in ihrem Mund den gequälten Schrei, der aus ihr hervorging. Sziedeyna merkte, wie ihr Blutkreislauf langsam zum Stillstand kam. Es fühlte sich an wie Ersticken, wie etwas, das ihr langsam aber sicher das Leben nahm. Und sie verlor das Bewusstsein.

Thalkor zog den Dolch wieder heraus und wartete ab, die leblose Sziedeyna betrachtend. Nach einer Weile regte sich in Sziedeyna wieder etwas. Tief nach Luft schnappend kam sie abrupt wieder ins Leben zurück. Thalkor reagierte prompt: "Ich bin begeistert! Faszinierend. Wenn meine Theorie stimmt..." Er ging nun wieder mit dem Ohr an Sziedeynas Brust und lauschte. "Bup, bup. Da ist es wieder." Sziedeyna starrte nur noch resigniert mit leeren Augen an ihm vorbei. "Aber was wenn...", murmelte Thalkor dann vor sich hin, und fuhr fort: "Was wenn die vampirische Regeneration versagt? Das wird die letzte Prüfung. Und ich muss dir leider sagen, Mädchen, das wird weh tun." Sziedeyna reagierte kaum noch. Sie war innerlich gebrochen, auch wenn ihr Körper wieder intakt war und Thalkors Behandlung keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte.

"Ich muss dir jetzt so lange weh tun, bis du nicht mehr regenerierst. Das Blut muss verbraucht sein, verstanden?" Sziedeyna regte sich nicht. Thalkor griff wieder zum Dolch und rammte ihn ihr ins Herz. Sie starb, kam wieder zurück, und das wiederholte Thalkor ein Dutzend Male, bis Sziedeyna über kein Blut mehr verfügte, das die Heilung einleiten konnte.

Nachdem sich auch nach einer Weile nichts bei Sziedeyna regte, beschloss der Schwarzmagier, ihr ein paar Stunden zu geben, um dann zu schauen, ob noch etwas passierte. Um aber über alle Veränderungen umgehend informiert zu werden, während er sich Wichtigerem widmete, stellte er eine Wache ab, die Sziedeyna genau beobachten sollte.
Der Moment eines Todes
Als Thalkor Sziedeynas Herz ein letztes Mal stoppte bevor es für immer stillstand, befand sich Sziedeyna nicht nur in einem physischen Ausnahmezustand. Innerlich kämpfte die Vampirische ums Überleben ihrer menschlichen Schwester. Ein Dutzend Male hatte sie ihr nun während Thalkors Folterung das Leben gerettet, aber dann schwand ihr die Kraft. "Ich... kann nicht." "Ich sterbe!" "Nein, geh nicht!" Und dann war auf einmal eine Sziedeyna weg und nur die Vampirische blieb. Voller Verzweiflung über den Verlust ihres Zwillings brach für Sziedeyna alles zusammen, was sogar die bisherigen körperlichen Qualen überschattete. Plötzlich war es ruhig in ihr. Der innere Dialog war Schweigen gewichen. Sie hatten sich erst vergleichsweise kurz gekannt, aber sie waren sich so nah gekommen, als ob sie schon ihr ganzes Leben zusammen erlebt hatten.

Tiefer Schmerz überfiel sie, als sie regungslos in diesem todesähnlichen Zustand verharrte. Nach außen war sie tot. Aber innerlich war es in ihr wie der Morgen nach einem schweren Sturm. Thalkors Taten hatten in ihr eine Trümmerlandschaft hinterlassen. Sie gab auf. Zu schwer der Schaden, der Verlust.

Zwei Stunden vergingen. Sziedeyna wusste nicht mehr, ob sie überhaupt noch existierte, da sie sämtliche sinnliche Verbindung zur Außenwelt gekappt hatte. Sie hätte nicht mehr gemerkt, wenn man sie in Feuer oder in Eiswasser geworfen hätte. Jeder würde sie in diesem Moment für tot gehalten haben.

Doch dann merkte die verbliebene Vampirische plötzlich etwas. Sie... erinnerte sich. Langsam strömten die Erinnerungen der ausgelöschten Menschlichen in sie hinein. Diffus, aber auf Dauer raumfüllend, spürte sie wie die Menschliche Teil von ihr wurde, oder genauer gesagt, der Abdruck ihrer einstigen Existenz. Sie behielt also etwas von ihr, nein, sie wurde zu ihr, aber blieb dabei auch sie selbst. Jetzt kam die Fusion zur Vollendung. Die Erinnerungen zweier Leben wurden jetzt eins. Wer war Sziedeyna nun? Beide, nun untrennbar, undifferenzierbar, eine Identität.

Somit war die ehemals Menschliche nicht ganz gestorben, nur transformiert. Genau so transformiert wie die, die schon ein Jahr Vampirin gewesen war. Ob diese tot war oder "lebte", das war Auslegungssache. Tatsache war aber, dass sie beide fortexistierten. Nur die Zwiesprache zwischen ihnen wich einem inneren Monolog.

Sziedeynas Natur hatte sich nun zu einer reinen Vampirin ohne lebenden Anteil gewandelt. Dies machte sie immun gegen die Folterung ihres Herzens, auf dessen Schlagen sie nun nicht länger angewiesen war. Sie war nun stärker als vorher. Dadurch fasste sie neuen Mut und lenkte ihre Sinne nun wieder nach außen.
Die Wache saß vor ihr und empfand offenbar große Langeweile, der Leiche zuzuschauen. Er gähnte ein paar Mal, bis sich endlich etwas in Sziedeynas totem Leib regte. Sie öffnete die Augen, hob langsam den Kopf, und sah den Wachmann, der ihr gerade keine Aufmerksamkeit schenkte, sondern mehr mit seinem Ärmel beschäftigt war, an dem er Essensreste entdeckt hatte, und erneut gähnte.

Sziedeyna war verändert. Ihr lebendiger Anteil war für immer verloren gegangen. Sie war keine Halbvampirin mehr. Ihr untoter Anteil hatte sie in den letzten Stunden komplett übernommen und in diesem Sterbeprozess einen Rest Energie aus dem lebenden Anteil gezogen. Ohne wirklich bewusst zu planen, reagierte hier ihr Instinkt. Sie sah ihre wohl einzige Chance gekommen. Sie hatte sich eigentlich schon der ausweglosen Lage hingegeben. Die grausamen Misshandlungen hatten sie gebrochen. Aber jetzt regte sich in ihr auf einmal eine ungeahnte Kraft. Sie wollte... überleben.

Sziedeynas Gedanken fokussierten sich auf den Kopf des Mannes, umtasteten ihn, bis sie schließlich in seine eindrangen. Der Mann schaute dann zu ihr, begriff aber gar nicht, was mit ihm passierte. Sziedeyna konzentrierte all ihre Gedanken darauf, ihm diesen einen Gedanken einzupflanzen, der aus nur drei Worten bestand: "Mach. Mich. Los." Da wirkte der Mann plötzlich wie in Trance, bewegte sich zu Sziedeyna hin und löste nach und nach ihre Fesseln. Als er sie befreit hatte, ließ Sziedeyna keine unnötige Zeit verstreichen. Sie zog sich das Tuch aus dem Mund, packte den Mann mit ihrer letzten Kraft und trieb ihre ausgefahrenen Eckzähne in seinen Hals. In einem Wirbel aus Schmerz, Hass und Trauma ließ sie nicht wieder von ihm ab, ehe sie den letzten Tropfen Blut aus ihm heraus und in sich hinein gesaugt hatte. Mit neuer Kraft betankt ging sie zur schweren schwarzen Tür, öffnete sie mit Leichtigkeit und entkam dem Labor, das für sie zu einem Folterkeller geworden war.

Auf dem Weg nach oben begegnete ihr niemand. Draußen war inzwischen die Abenddämmerung hereingebrochen. Sziedeyna hätte einfach fliehen können, aber etwas in ihr wollte Rache. Thalkor hatte ihr unendliches Leid angetan und wenn sie jetzt einfach floh, würde dieser Albtraum von Mann, der einst ihr zuverlässiger Auftraggeber gewesen war und dem sie ihre Kriegerkarriere verdankte, weiterhin in der Welt existieren und sie wahrscheinlich weiter jagen, nur um sie weiteren Experimenten zu unterziehen. Dazu konnte sie es nicht kommen lassen. Nahezu lautlos huschte sie durch das Gebäude und befand sich nach kurzer Zeit im ersten Stock vor dem Raum, in dem sie Thalkor mit ihren vampirischen Sinnen erspürte. Denn trotz seiner Abscheulichkeit war er am Ende doch nur ein Mensch. Sie klopfte an die Tür. Thalkor antwortete mit ruhiger Stimme über sein Notizbuch gebeugt mit einer Schreibfeder in der Hand: "Was gibt es? Ist etwas mit ihr passiert?" Sziedeyna blieb stumm.

Nach kurzer Zeit hörte Sziedeyna Thalkor vom Stuhl aufstehen und zur Tür gehen. Als er sie öffnete, geschah alles blitzschnell, sodass sogar ein Magier wie er keine Chance hatte. Sziedeyna stieß mit ihrer ganzen Kraft die Tür auf, Thalkor taumelte zurück und knallte gegen ein Bücherregal. Sofort sprang ihm Sziedeyna nach und drückte ihn zu Boden. Der Magier war nicht in der Lage, zu reagieren. Und Sziedeyna gab ihm auch keine Gelegenheit mehr dazu. Mit dem Blick ihres Folterers konfrontiert stieg in ihr eine gnadenlose Wut auf und ihr Gesicht wurde zu einer hasserfüllten Fratze. Sie packte seinen Kopf mit beiden Händen und schlug ihn immer wieder gegen die Kante des Bücherregals, die sich mit der Zeit immer mehr in Blut tränkte. Auch als der Schädelknochen des Magiers bereits knackend nachgab, machte Sziedeyna noch eine Weile weiter, bis sie endlich zum Stillstand kam. Da lag er nun, Thalkor von Schwarzbrunn, tot, endlich tot.

Als die leeren Augen sie noch immer anzustarren schienen, wendete sie den Blick ab, verharrte aber zunächst noch in ihrer Position. Sie brauchte einen Moment, um aus diesem akuten mentalen Ausnahmezustand wieder rauszukommen. Dann richtete Sziedeyna sich langsam auf und verließ kurz darauf das Haus ohne weitere Zwischenfälle. Das restliche Wachpersonal, das in einem anderen Raum im Erdgeschoss offenbar alkoholisiert und laut Karten spielte, beachtete sie nicht weiter. Sie waren nur Erfüllungsgehilfen und ihren Auftrag hatten sie nun verloren, das würden sie früher oder später merken.

Sziedeyna rannte los. Nur weg von diesem Ort. Irgendwann kam sie zum Stehen. Erst jetzt konnten ihre Gedanken nach den Geschehnissen etwas aufholen. Erst jetzt konnte sie sich damit beschäftigen, was ihr passiert und was aus ihr geworden war. Ihr lebender Anteil war verloren, ausgelöscht, weil ein skrupelloser Mann in ihr lediglich Experimentiermaterial gesehen hatte. Wie fühlte sie sich jetzt? Es war ihr irgendwie vertraut, zumindest teilweise. Sziedeyna fühlte sich an ihre Zeit als Vampirin in der Parallelwelt vor der Fusion erinnert. Aber da war mehr. Jetzt war auch der geistige Abdruck der vor kurzem noch lebenden Sziedeyna Teil ihrer nun vollständigen Vampirnatur geworden. Nun war auch der zweite Teil ihrer Seele aus ihr gewichen und zurück blieb ein Wesen, das sich erneut finden musste.

Re: Sziedeyna

von Sziedeyna » 08 Aug 2025, 23:03

Sziedeynas Fusion war ein hochkomplexer Prozess, der sich zwar von jetzt auf gleich mit einem lauten Knallblitz vollzogen hatte, aber die Integration beider Persönlichkeiten war damit nicht direkt abgeschlossen. Es war zuerst wie ein Wechsel. Sie hatte Glück, dass ihre Leben so ähnlich waren, sonst wäre sie wahrscheinlich verrückt geworden oder hätte gedacht, sie wäre es. Mal dominierte die vampirische Sziedeyna, mal die menschliche. Vor allem Erinnerungen waren zunächst nebulös oder sehr selektiv, inwieweit sie sich zeigten. Beispielsweise konnte es bei lieber verdrängten schmerzhaften Erinnerungen länger dauern, bis sie wieder in Sziedeynas Bewusstsein drangen.

Doch jetzt erinnerte sich Sziedeyna an etwas, das zuletzt ihre vampirische Version in größtes Leid gestürzt hatte: Ancanagars Tod. Aber als der Schmerz des als unendlich empfundenen Verlusts zurückkehren wollte, stieß die Erinnerung der menschlichen Version dazu und verriet Sziedeyna, dass es in dieser Welt eine lebendige Ancanagar gab, oder besser gesagt, eine Ancanagar, die noch existierte und nicht vernichtet war.

Diese verzögerte Fusion ihrer Gedanken ließ Sziedeyna aufschrecken. Mit weit geöffneten Augen rief sie:

"Wo ist sie?!"

Sie saß dabei auf dem Boden in ihrem kleinen Haus. Ihr fielen dann zwei Orte ein, an denen sie nach Ancanagar suchen konnte: Sie konnte den Turm nordwestlich des Schwarzsteingebirges aufsuchen, in der ihr vampirisches Selbst sie einst getroffen hatte und wo sie selbst zur Vampirin gemacht worden war, kurz bevor ihr Ancanagar wieder schmerzlich entrissen worden war. Der andere Ort mochte Baretis Taverne auf Moonglow gewesen sein, wo ihr menschliches Selbst ihr begegnet war, noch ganz ohne ein Wissen, wer bzw. was sie eigentlich war.

Aber wie würde Ancanagar, diese Ancanagar, auf sie reagieren? Sie würde sich nur an die menschliche Sziedeyna erinnern und der bisherige Kontakte hatte nicht viel hergemacht. Was würde passieren, wenn Sziedeyna vor ihr stand und die Erinnerungen aus der Paralellwelt sie überfluteten, während Ancanagar vielleicht nichts mit ihr zu tun haben wollte? Diese Gedanken verunsicherten Sziedeyna sehr und hielten sie eine Weile in ihrem Kopf gefangen.

Aber sie wusste, dass sie es versuchen musste, egal, was am Ende daraus würde. Sie entschied sich für den Turm. Er hatte einfach mehr emotionale Bedeutung für sie. Und dort wäre sie auch ungestört mit ihr, anders als in der belebten Taverne. Es musste auch nicht jeder mitbekommen. Es wäre zwar der sicherere Ort gewesen, aber Sziedeyna wollte das Risiko eingehen. Den Turm empfand sie plötzlich wie ein zweites Zuhause, auch wenn dort vielleicht im Extremfall der Tod auf sie wartete. Sie dachte an das weiche Bett, in dem sie und Ancanagar so schöne Momente miteinander verbracht hatten.

Und so machte sie sich bald auf den Weg, mit Angst und Hoffnung im Herzen.

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Equilibrium

von Sziedeyna » 06 Aug 2025, 22:22

Sziedeyna fühlte sich von einer explosionsartigen Wucht getroffen, die sie zu Boden warf. Der Lichtblitz ließ sie kurzzeitig erblinden und der Knall ließ ein Fiepsen in ihren Ohren zurück. Sie brauchte eine Weile, um sich wieder zu berappeln. Sie saß auf dem Fußboden. Vor ihr lagen Glassplitter verteilt. Bei ihrem Versuch, wieder Orientierung zu gewinnen, hatte sie sich geschnitten, sodass etwas Blut an ihrer Hand herunterlief. Sie schaute zum Spiegel über der Kommode, der dort, wo er vor kurzem noch hing, nicht mehr war. Der Holzrahmen war zerfetzt und das Spiegelglas verteilte sich im ganzen Raum.

Noch immer wacklig auf den Beinen stand sie vorsichtig auf. Sie achtete darauf, sich nicht noch mehr an den Splittern zu schneiden. Einen hatte sie übersehen. Dieser stach ihr in den Fuß. Sie zog erschrocken den Fuß hoch und fluchte. Danach gelang es ihr, das Splitterlabyrinth erfolgreich zu verlassen. Sie zog sich ihre Pantoffeln an und holte den Besen aus der Ecke. Damit kehrte sie die Splitter erst einmal auf.

Danach erst beschäftigte sie sich mit ihrer Situation und sich selbst. Was war eben passiert? Da war sie im Spiegel. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Aber auch nicht sie. Es war nicht ihr Spiegelbild, was sie gesehen hatte, sondern eine Art Doppelgängerin. Eine von ihnen war Vampir, die andere Mensch. Und dann berührten sie sich an der Spiegelfläche und sie konnte sich nur noch an ein gleißend helles Licht und einen lauten Knall erinnern.

Jetzt wo sie darüber nachdachte, war ihr nicht mehr klar, wer sie dabei gewesen war und wer die andere Sziedeyna. War sie die Vampirin gewesen oder der Mensch? Lag es am sich zuvor beschleunigenden Wechsel zwischen den zwei Zuständen oder hatte es einen anderen Grund? Sie hatte irgendwie das Gefühl, dass das, was die letzten Wochen passiert war, nun ein Ende gefunden hatte. Als hätte alles auf diesen Moment zugesteuert.

Doch was war sie nun? Vampir oder Mensch? Im Spiegel konnte sie sich nun nicht mehr betrachten. Sie prüfte ihren Puls. Sie spürte etwas. Schwach aber vorhanden. Ungewöhnlich schwach. Ihre Hände und Arme hatten einen blassen Ton, dennoch nicht so blass, wie sie es bei sich als Vampirin in Erinnerung hatte. Aber auch nicht so rosig wie als Mensch. Das ließ sie grübeln. Konnte es sein? Konnte sie auf seltsame Weise beides sein? Mensch und Vampir?

Eine Probe aufs Exempel wusste sie noch: Sich dem Sonnenlicht aussetzen und schauen, was passiert. Sie blickte zu den Vorhängen vor dem Fenster. Es waren die normalen Vorhänge wie sie sie als Mensch kannte. Es kam nur wenig Licht hindurch, aber so viel, dass sie sehen konnte, dass draußen Tag war. Vorsichtig näherte sie sich ihnen und schob ihre rechte Hand zwischen Vorhang und Fensterscheibe, wo das Sonnenlicht hinschien. Es schien zu gehen... sie ließ die Hand im Licht verweilen, doch dann spürte sie doch etwas. Sie zog die Hand schnell zurück und begutachtete sie. Sie war ganz rot und fühlte sich wund an. Der Zustand verschlechterte sich im Nachhinein weiter. Es juckte und brannte. Quaddeln hatten sich inzwischen gebildet.

Es war nicht der totale Schock, mit der Sonne in Berührung zu kommen, wie das letzte Mal als Vampirin, als sie sich das Gesicht prompt schwer verbrannt hatte. Aber einfach in die Sonne gehen wie ein Mensch konnte sie so auch auf keinen Fall. Sie starb vielleicht nicht gleich, aber so in etwa stellte sie sich Folter vor. Jetzt war ihr endgültig klar, dass sie weder Fisch, noch Fleisch war. Irgendeine Chimäre aus Vampir und Mensch. Vielleicht war es das, was Knall und Blitz als Ergebnis der Berührung der beiden bewirkt hatten. Sie hatten beide Sziedeynas zu einer verschmolzen und damit auch ihre Eigenschaften, was sich einer Erklärung nach bisherigen Erkenntnissen der Wissenschaft komplett entziehen mochte.

Sie spürte nun, da sich alles etwas gesetzt hatte, auch leichten Hunger. Sowohl auf herkömmliche Nahrung wie auch auf... Blut. Beides war präsent, aber nicht mehr so vordergründig. Sie stellte sich Blut jetzt eher einfach lecker vor, wie einen Nachtisch. Sie hatte jetzt wohl viel an sich zu entdecken. Wie sie wirklich funktionierte und was sie wirklich brauchte. Wo nun ihre Stärken und Schwächen lagen. Und vor allem: Wo sie nun hingehörte.

Es war lange her, dass sie Speck mit Eiern gegessen hatte. Ihr häufigstes Frühstück vor diesen unglaublichen Ereignissen, die mit einem Traum begannen. Sie wartete bis zum späten Nachmittag und nutzte die Zeit für weitere Reflexion ihrer Situation. Zu dieser Zeit waren auf dem Marktplatz noch Händler, aber die Sonne stand nicht mehr so hoch am Himmel. Sie wollte schauen, ob sie wirklich bis zur Nacht warten musste, um das Haus sicher verlassen zu können, oder ob sie dies vielleicht auch etwas früher tun konnte. Sie begutachtete ihre Hand, die inzwischen fast vollständig geheilt war. Nur noch etwas Rötung war zu erkennen. Selbstregenerierung hatte sie also, bloß längst nicht so schnell und effektiv wie es bei ihr als vollständige Vampirin der Fall gewesen war.

Vorsichtig streckte sie nun wieder ihre Hand aus und hielt sie zwischen Vorhang und Fenster. Sie schien Recht zu behalten. Das Licht war nun nicht mehr intensiv genug, um ihr unmittelbar zu schaden. Zur Sicherheit entschied sie sich, den Mantel mit Kapuze anzuziehen, bevor sie rausging. Aber sie wollte bei diesem Gang zum Markt auch herausfinden, wo ihre Grenze lag. Auf dem Weg zum Markt zog sie daher immer wieder kurz die Kapuze nach hinten. Es schien ihr nicht zu schaden. Also war es wirklich vor allem die Mittagssonne, die für sie problematisch war.

Am Markt angekommen, erblickte sie sogleich den Händler, bei dem sie vor kurzem noch die Blutwürste gekauft hatte. Der Gedanke an die Würste war verlockend, aber sie entschied sich dennoch für den Speck und ein paar Eier. Die Interaktion mit dem Händler verlief ganz normal. Sie schien in der Stadt nicht weiter aufzufallen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht mehr zerrissen. Als hätte die Welt nie vorgehabt, sie ganz auf die eine oder andere Seite fallen zu lassen.

Eines war ihr jedoch aufgefallen. Es war, als spürte sie etwas bei der Interaktion mit dem Händler. So als hatte sie diffus Gefühle wahrnehmen können. Als der Händler sie erblickte, erfasste sie der Hauch einer freudigen Stimmung, als hatte sie spüren können, dass der Händler sich über eine weitere Kundin gefreut hatte. Hatte sie hier auch eine besondere Fähigkeit, die zwar nicht so potent wie bei einem normalen Vampir war, jedoch über das, was ein Mensch wahrnehmen konnte, hinausging?

Sziedeyna fragte sich nun, ob sie nicht nur Emotionen spüren, sondern diese auch beeinflussen konnte. Sie sah einen kleinen Jungen auf einer Bank sitzen, der vermutlich auf jemanden wartete. Sie setzte sich daneben. Der Junge lächelte ihr zu und sie zurück. Vom Jungen ging ein Gefühl von kindlicher Unschuld aus. Jetzt begann ihr Experiment: Sie versuchte, dem Jungen über schiere Gedankenkraft Angst zu machen. Sein Blick veränderte sich. Sie spürte Unsicherheit in ihm aufsteigen und er schaute sie mit einem seltsamen Blick an. Danach fing er an zu weinen und lief davon. Sie hatte das nicht unbedingt gewollt, aber gerade war ihr nichts anderes eingefallen und er würde sich sicherlich bald davon erholt haben. Sie wusste jetzt jedenfalls, dass sie gewisse Kräfte besaß, wenn auch nicht auf dem Niveau ihres früheren Vampirdaseins.

Für sie stand jetzt fest: Sie schien eine schwächere Form eines Vampirs zu sein. Ihre Schwächen fielen dadurch geringer aus. Sie war nicht ganz so empfindlich gegenüber Sonnenlicht. Am späten Nachmittag konnte sie bereits der Sonne standhalten. Mittags jedoch war es ihr unmöglich, ohne Schutzmaßnahmen vor die Tür zu gehen. Ihre Stärken fielen ebenfalls geringer aus als bei einem Normalen Vampir. Sie konnte ihre Verletzungen regenerieren, aber viel langsamer. Sie konnte Emotionen diffus wahrnehmen und beeinflussen, aber sicher niemanden in Trance versetzen oder ihn gar ganz psychisch kontrollieren.

Auf eigenartige Weise fühlte sie sich jedoch jetzt irgendwie ganz. So als hätte die kosmische Ordnung immer schon danach gestrebt, dass sie so ist, wie sie nun ist. Nicht ganz Vampir, aber auch nicht mehr ganz Mensch.

So ging sie mit einem zufriedenen Gefühl nach Hause, lagerte den Speck und die Eier im Keller ein und briet sich endlich wieder ihren geliebten Speck mit Eiern. Das war nun ihr letzter Test: Vertrug sie das Essen? Ja, sie konnte es essen, aber irgendwie schmeckte es etwas fade. Etwas fehlte. War etwas mit dem Essen nicht in Ordnung? Nein, der Speck sah gut aus und roch normal. Die Eier waren ebenfalls frisch und so wie man es erwartet. Lag es an ihr? Vielleicht war es das Ergebnis der Fusion. Vampire aßen keine herkömmliche Nahrung mehr. Sie tranken ausschließlich Blut. Deswegen hatte sich ihr Geschmacksempfinden gegenüber herkömmlicher Nahrung möglicherweise abgeschwächt.

Blut... den Gedanken daran empfand Sziedeyna schon als schön. Aber sie war diesmal bestimmt nicht gierig genug, um Dummheiten dafür anzustellen. Sie wollte sich etwas überlegen, wie sie an Blut kommen konnte, ohne dass es für sie ein Risiko darstellte und wieder unschuldige Personen dafür sterben mussten. Bis dahin hielt sie es mit Speck und Eiern aus, auch wenn diese nicht mehr so schmeckten wie früher.

Ins Bett ging Sziedeyna von nun an am frühen Morgen, bevor die Sonne ihre Kraft entfalten würde. Sie schlief dann, und ja, sie schlief tatsächlich und hatte auch Träume, bis nachmittags und begann den Tag außer Haus am späten Nachmittag bis frühen Abend, sodass ihr die Sonne nicht mehr schadete.

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Das Pendel

von Sziedeyna » 06 Aug 2025, 22:22

Sziedeynas anfänglicher Rausch war inzwischen verflogen. Allmählich machte sich in ihr wieder der Hunger breit. Ihre Gedanken hatten sich für eine Weile nicht um Blut gedreht. Jetzt stellte sie sich wieder die Frage, wie sie an welches kommen konnte, möglichst ohne wieder eine Leiche entsorgen zu müssen. Sie seufzte. Ihr wurde in der Nüchternheit klar, was ihr Zustand in Zukunft für sie bedeutete. Unsterblichkeit. Aber zu welchem Preis?

Diese Gedanken nahmen sich jetzt mehr und mehr Raum in ihrem Kopf. Nachdem sowohl die völlige Aushungerung als auch der Rausch nach der Blutmahlzeit verflogen waren, reflektierte sie zum ersten Mal ihre Situation richtig. Gerade als Vampir erwacht war es der Hunger gewesen, der ihre Gedanken auf eine einzige Sache fokussiert hatte. Danach hatte der Rausch ihr jede Notwendigkeit genommen, über ihre Situation nachzudenken.

Alles hatte mit ihren Träumen angefangen, die immer mehr ihr Leben bestimmt hatten, und am Ende sah sie sich plötzlich in einer anderen Welt wieder und war zu dem Ebenbild aus ihrem Traum geworden. Niemand hatte sie gefragt, ob sie das auch wollte. Eigentlich hatte sie mit dem Wunsch, ein Vampir zu werden, längst abgeschlossen. Ihr wurde klar, dass das alles keine Dauerzustände sein konnten und sie sich immer wieder an diesem Punkt befinden würde, an dem ihr ihre Existenz vor Augen geführt wurde.

Diese Gedanken ließen sie in ein Loch fallen. Woraus sollte ihr Leben künftig bestehen? Sollte alles, wofür sie lebte, darin bestehen, sich die nächste Blutmahlzeit einzuverleiben – gegebenenfalls unter hohen Risiken? Sie fühlte sich wie eine Drogenabhängige in einem Moment der Klarheit. Bloß, dass sie keine Aussicht darauf hatte, von dieser Droge loszukommen, da sie notwendig für ihre Existenz war. Und so breitete sich in ihr ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Leere aus, das sie in den nächsten Tagen auch nicht verlor.

***

Sziedeynas anfängliche Euphorie wich allmählich einer Gewöhnung an den Alltag. Die Bienen und Schmetterlinge oder die Wärme der Sonne nahm sie jetzt nicht mehr so wahr wie zuletzt noch an ihrem ersten Ausflug als Mensch. Sie brauchte Geld. Also musste sie arbeiten. Nur wusste sie überhaupt nicht, was ihr Gegenstück zuletzt gemacht hatte. Zu welchen Auftraggebern hatte sie Kontakt gehabt? Welche Aufträge waren noch offen? Es fiel ihr daher schwer, wieder in ihr altes Leben vor der Vampirwandlung zurückzufinden.

Sie klapperte Anschlagsbretter ab, aber es war kein Auftrag für sie dabei. Sie beschloss, ihren ehemaligen Auftraggebern einen Besuch abzustatten und sich dabei möglichst nicht anmerken zu lassen, dass sie sie eigentlich seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Einer hatte tatsächlich einen Auftrag für sie, den sie bereitwillig und voller Erleichterung annahm. Es war das Übliche: Irgendein Schwarzmagier benötigte wieder Reagenzien für seine Experimente. Sie hatte endlich den Fuß wieder in der Tür. Normalität schien einzukehren.

Eines Morgens jedoch wachte sie schweißgebadet auf. Ein Albtraum. Darin war sie wieder die Vampirin, die sie bis vor kurzem noch gewesen war. Träume waren offenbar ein Nebeneffekt ihrer zurückgewonnenen Menschlichkeit. Aber dieser Traum machte ihr Angst. Was, wenn es kein bloßer Traum war, sondern eine Erinnerung daran, dass sie vielleicht genauso unverrücks wieder zu dieser Kreatur werden konnte, wie sie sich plötzlich in der Haut eines Menschen wiedergefunden hatte? Was, wenn diese Rückverwandlung nicht endgültig war? Was, wenn sie wieder in diesen elenden Zustand zurückkehren musste, der für sie die reinste Qual gewesen war? Sie hoffte Gegenteiliges, aber bei diesem einen Traum blieb es nicht.

***

Und dann passierte es. Genauso plötzlich wie das Mal zuvor. Sziedeyna wachte wie aus einem Traum auf und spürte sogleich, dass sie kein Vampir mehr war. Sie blickte sich um, und der veränderte Raum bestätigte ihr dies. Keine schweren Vorhänge. Ihr Schlafrock hatte wieder das sachte Beige statt dem intensiven Weinrot. Aber anstatt sich über die wundersame Wendung zu freuen, stieg Unbehagen in ihr auf.

Sie war skeptisch. Was sie zuletzt als endgültiges Schicksal begriffen hatte, war nun, durch den erneuten Wechsel, grundsätzlich infrage gestellt worden. So konnte es nicht weitergehen. Würde sie die nächste Nacht wieder Vampir sein? Sie musste dem, was mit ihr passierte, endlich auf den Grund gehen. Aber sie wusste nicht, wo sie überhaupt anfangen sollte. Die Geschehnisse schienen sich in einem viel größeren Rahmen abzuspielen, als für sie greifbar war.

***

Und dann geschah es. Genauso plötzlich wie das Mal zuvor. Sziedeyna wachte nicht aus ihrem Traum auf, sondern war zu ihrem Traum geworden – der Vampirin. Was sie sofort merkte, da sie den Zustand inzwischen kannte und er in so barschem Kontrast zu ihrem menschlichen Lebendigfühlen stand, das sie zuletzt wieder wertzuschätzen gelernt hatte.

Sofort brach in ihr ein Gefühl von Ausweglosigkeit aus. Wie konnte ihr das Schicksal so einen Streich spielen? Als hatte es ihr grausam mit einem kleinen Appetithappen vor Augen führen wollen, was sie doch nicht mehr haben sollte. So fühlte es sich für sie an. Aber sie fragte sich nun auch, ob sie vielleicht morgen doch wieder als Mensch aufwachen würde. Diese Ungewissheit konnte sie nicht länger akzeptieren. Sie musste dem, was mit ihr geschah, endlich auf den Grund gehen. Selbst ihren Hunger schien dieses Gedankenkarussell vorübergehend zu überdecken.

***

Es war wieder passiert. Sie hatte keinen Herzschlag mehr und spürte den Hunger nach Blut. Die Abstände zwischen den Wechseln schienen sich zu verringern. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als hätte sich etwas in ihrem Augenwinkel bewegt. Sie schaute hin. Da hing ihr Spiegel an der Wand. War es Einbildung? Da konnte doch nichts gewesen sein.

Sie stand trotzdem auf, stellte sich vor den Spiegel und schaute hinein. Da sah sie etwas!

***

Es war erneut geschehen. Sie spürte ihr Herz pochen nach dem Aufwachen. Als Allererstes ging sie zum Spiegel an der Wand, um sich zu sehen. Es verlangte sie innerlich nach dieser eindeutigen Bestätigung. Da war aber nichts. Der Spiegel war... leer. Sie zweifelte an ihrem Verstand, wandte sich ab und rieb sich die Augen. Was war nur los?

Sie versuchte es nochmals. Und als sie diesmal in den Spiegel schaute, sah sie jemanden!

***

Als sich beide erblickten, begriffen sie gleichzeitig: Es war nicht ihr eigenes Spiegelbild, das sie sahen – es war ihr Gegenstück. Vampirin und Mensch blickten einander wie erstarrt in die Augen, als könnten sie ihren Blicken nicht trauen. Ein Sog schien von der spiegelnden Fläche auszugehen, und beide verspürten wie in Trance den Drang, das Bild zu berühren.

Sie streckten eine Hand aus – langsam, fast zögerlich – und berührten gleichzeitig die Oberfläche.

Da vollzog sich etwas Unglaubliches.

Ein einziger, greller Lichtblitz – ein Knall, der kaum länger als ein Herzschlag andauerte – und beide Sziedeynas verschmolzen zu einer.

Weder vollständig Mensch, noch ganz Vampir – und doch beides irgendwie.

Damit stand das Pendel still. Ein kosmischer Ausgleich hatte stattgefunden.

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Ein anderes Erwachen

von Sziedeyna » 06 Aug 2025, 22:21

Sziedeyna wachte auf. Sie ... wachte ... auf. Sie spürte, wie die Müdigkeit noch in ihren Gliedern steckte, und sie verspürte den Impuls, sich etwas zu recken und zu strecken. Ein Gähnen überkam sie. Das war ... neu. Oder alt. Je nachdem, wie man es betrachtet. Sie hatte nicht einfach von jetzt auf gleich die Augen geöffnet und war voll da, wie das zuletzt bei ihr stets der Fall gewesen war. Sie fühlte sich ... menschlich?

Zuerst fuhr sie mit ihrer Zunge über die Eckzähne und versuchte sie auszufahren, aber nichts passierte. Sie fasste sich ans Handgelenk – und sie spürte ... einen Puls. Ihre Haut war rosiger. Und vor allem ... sie verspürte diesen Hunger nicht mehr. Sie konnte es kaum glauben, aber alles sprach dafür, dass sie wieder ein Mensch war. Ein Mensch! Ein ganz normaler Mensch ohne diesen elenden Hunger, den sie sich nicht zugestanden hatte und deswegen Höllenqualen gelitten hatte. Aber all das war jetzt weg. Sie fühlte sich ... friedlich.

Sie schaute sich im Raum um und bemerkte, dass es zwar ihr Raum zu sein schien, jedoch anders. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren durch leichte ersetzt worden, die mehr Licht durchließen. Und jetzt wollte sie es wissen! Sie zog den Vorhang zur Seite, und die Sonne fiel in ihr Gesicht. Sie wollte zuerst instinktiv zurückschrecken, merkte aber sofort, dass ihr die Sonne nichts anhaben wollte. Sie war ... warm ... und freundlich. Sie war wirklich ein Mensch.

Das muss ein Wunder gewesen sein, dachte sie zu sich selbst. Ein Wunder, das einem das Leben kein zweites Mal schenkt.

Einst war sie wie besessen davon gewesen, ein Vampir zu werden. Und als sie dies endlich geschafft hatte, durch einen puren Zufall, indem sie Ancanagars Turm gefunden hatte, war ihr Glück nur von äußerst kurzer Dauer gewesen. Nach der Rache an Kaimond für Ancanagars Tod war nur noch innere Leere übrig und sie hatte sogar die Lust verloren, Blut zu trinken. Ihr zunächst so vielversprechendes unsterbliches Leben war zu einer Falle geworden, in der sie nur noch vor sich hin vegetiert war. Aber jetzt hatte sie diese zweite Chance bekommen.

Ihre Gedanken hatten sich die letzten Wochen intensiv um ein Leben als Mensch gedreht. Sie hielt krampfhaft an der Vorstellung fest, wie ihr Leben als Mensch wäre, und flüchtete sich in diese Fantasie. Doch diese Fantasie war nun Wirklichkeit geworden. Wie und warum, das wusste sie nicht. Aber es war am Ende auch egal. Hauptsache war, dass sie wieder leben konnte. Wirklich leben.

Sie blickte zur Tür und sah einen Mantel daneben hängen. Das war nicht der Mantel, den sie kannte. Er war leichter, unscheinbarer. Ein Alltagsgegenstand zum Schutz vor Witterung. Sie fragte sich, wer vor ihr hier gewohnt haben mochte. Vieles war so ähnlich und auch ... vertraut. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie kannte den Mantel eigentlich. Es war ihrer – vor der Wandlung. Nicht alles war exakt gleich, aber sie erkannte das Muster. Niemand anderes außer ihr oder einer Art Zwilling konnte hier gewohnt haben.

Hatte sie mit diesem Zwilling die Plätze getauscht? Vielleicht waren ihre intensiven Fantasien nicht bloß das, überkam sie ein Gedanke. Vielleicht steckte mehr dahinter. Das wäre nicht ganz unplausibel, dachte sie, in Anbetracht der aktuellen Ereignisse, von denen die Leute berichtet hatten, denen sie des Nachts heimlich gelauscht hatte – nicht weil sie ihr Blut hatte trinken wollen, sondern weil sie Gesellschaft gesucht hatte. Menschliche Gesellschaft, von der sie dennoch fundamental getrennt war. Durch den Verlust Ancanagars hatte sie sich als das einsamste Wesen auf der Welt gefühlt und irgendwann begonnen, ihrer menschlichen Existenz hinterherzutrauern. So hatte sich neben dem körperlichen Hunger noch dieser emotionale Hunger dazu gesellt.

Aber jetzt war alles anders. Sie musterte ihre neue alte Garderobe und zog sich an. Das gab ihr ein Gefühl, fast wie in eine alte Haut zu schlüpfen. Doch fühlte sie sich anders als früher. Ein innerer Frieden war hinzugekommen, der ihr vor der Wandlung fehlte und der sie überhaupt erst dazu getrieben hatte, die Unsterblichkeit zu suchen.

Passend für den Tag gekleidet schritt sie zur Tür und öffnete sie langsam. Da öffnete sich vor ihren Augen eine ganze Welt. Eine bekannte und dennoch neue Welt. Sie trat vor die Tür und schloss sie behutsam hinter sich. Nun stand sie da, auf der kleinen Treppe, ging sie hinunter und drehte sich noch einmal um. Sie konnte es immer noch kaum fassen. Sie bemerkte, dass da ein kleiner Stein im Mauerwerk der Treppe fehlte.

Hmm, kleine Unterschiede, dachte sie. Es war nicht nur sie selbst, die sich verändert hatte, sondern auch ihre Welt. Aber nicht zu sehr, um sich nicht grundsätzlich unvertraut zu fühlen.

So ging sie los, die warme Sonne im Gesicht. Sziedeynas erster Tag unter der Sonne seit rund einem Jahr. Nachdem sie vor die Tür ihres kleinen Hauses getreten war, fühlte sie eine Euphorie in sich aufsteigen, mit der sie längst nicht mehr gerechnet hatte. Die Hoffnungslosigkeit, die noch gestern jede Faser ihres Körpers chronisch durchzogen hatte, wich einer neuen Lebensbejahung – einer, die sie so überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben spürte.

Sie labte sich an der Wärme, die die Sonne auf ihr Gesicht und ihren Körper legte. Es fühlte sich fast an, als würde sie mit Energie aufgeladen. Sie war ganz im Moment. Sie spürte den Wind sanft durch ihre Haare streichen, hörte den Vögeln beim Singen zu, beobachtete Bienen und Schmetterlinge – und liebte in diesem Augenblick einfach alles, was um sie herum geschah. Es waren banale Dinge. Aber es waren auch Dinge, die für ein Jahr lang völlig unerreichbar gewesen waren.

Sie hatte den Vampirfluch verloren. Oder besser gesagt: Sie war in einer anderen Welt aufgewacht, in einem anderen Körper, der dennoch ihrer war. Ein Wunder – unmöglich eigentlich. Kein Vampir wagte je, davon zu träumen. Und doch war es geschehen. Sie hatte alle Erinnerungen behalten. Sie war sie selbst. Wieder sie selbst.

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Erwachen

von Sziedeyna » 06 Aug 2025, 22:21

Die Ereignisse in diesem Beitrag passieren in einer Parallelwelt.

Und wieder wachte Sziedeyna plötzlich aus dem Schlaf auf. Die tägliche Routine mit den Blutwürsten am Morgen war inzwischen zur Gewohnheit geworden. Aber etwas war anders. Sie war weder schweißgebadet, noch war jener Traum präsent, der sie inzwischen regelmäßig aus dem Schlaf hochschrecken ließ. Sie hatte einfach irgendwann die Augen geöffnet – und war einfach ... wach. Keine Müdigkeit, kein Verlangen, noch im Bett zu verweilen. Aber etwas, das sie inzwischen gewohnt war, war weiterhin da. Nein, es war viel mehr. Der Appetit auf die Blutwürste schien sich gewandelt zu haben. In ihr war in etwa der gleiche Hunger, aber viel stärker. Wenn sie jedoch an die Würste dachte, befiel sie fast so etwas wie Ekel. Sie stellte sich andere Lebensmittel vor und empfand bei allen das Gleiche. Etwas stieß sie ab.

Dennoch, eine Sache, die sie essen konnte, näherte sich ihren Gedanken gerade wie eine Schlange. Oder eher: etwas, das sie trinken konnte. Blut. Das war das Einzige, das sie nicht abstieß. Und sie spürte den Hunger mit jeder Minute mehr. Sie fühlte sich ausgehungert und leer. Jetzt fiel ihr auf, dass das genau das Gefühl war, das sie aus ihrem Traum kannte. Dieser grenzenlose Hunger und das mit der Verweigerung verbundene Leiden.

Aber wie konnte das sein? Sie war doch gerade aufgewacht. Jetzt schaute sie an sich herab. Sie trug nicht das, was sie vor dem Schlafengehen angezogen hatte. Ihr beiger Schlafrock war jetzt weinrot – und wesentlich aufwändiger hergestellt. Und ihre Hände ... sie waren seltsam blass. Sie musterte den Rest von sich selbst – und vom Raum. Jetzt fiel ihr auch auf, dass ihr Zimmer anders aussah. Es war stockdunkel – und dennoch sah sie alles.

"Ich bin sie …", sprach sie verblüfft laut zu sich selbst.

Nachdem sie endlich begriffen hatte, was los war, spürte sie ihren Hunger wieder mehr. Es fühlte sich an, als wäre sie mit Bleigewichten beschwert. Ihre Gedanken waren gedämpft, eine innere Leere pochte in ihr, und ein Gefühl von Schwindel befiel sie periodisch.

"Jetzt bin ich sie." Sie schaute sich ungläubig um.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Der Moment überforderte sie. Noch ein paar Minuten saß sie da – und stand dann langsam auf. Die Fenster waren von innen mit lichtdichten, schweren Vorhängen zugezogen. Ohne großartig darüber nachzudenken, ging sie zu einem Fenster und zog den Vorhang etwas zur Seite. Das Licht des Tages traf sie ins Gesicht – und sofort bereute sie die Tat. Ein stechender Schmerz im Gesicht, verbunden mit einem leichten Zischen, ließ sie zurücktaumeln, wodurch der Vorhang wieder zurückfiel und das Licht wieder aussperrte.

Orientierungslos für einen Moment kam sie wieder zur Besinnung – und merkte erst jetzt die vollen Konsequenzen dessen, was mit ihr passiert war. Und der Hunger … dieser Hunger. Ihr Gesicht schmerzte weiterhin. Vorsichtig tastete sie es mit den Fingern ab und merkte, dass sich Blasen gebildet hatten und sich an einigen Stellen das Fleisch zeigte.

"Heilt das bei Vampiren nicht sofort wieder?", fragte sie sich irritiert und mit verzerrtem Gesichtsausdruck.

Ihre ganze Existenz wirkte auf sie wie eine einzige Last. Da kam ihr ein Gedanke: Vielleicht brauchte sie nur Blut. Nur Blut? Nur? In ihrem Traum hatte sich die andere Sziedeyna unter Schmerzen geweigert, welches zu trinken. Vielleicht sollte sie nicht denselben Fehler begehen – und es trotzdem tun. Aber wie ein kleiner Wurm bohrte sich der Gedanke in ihren Kopf, dass es bestimmt unendlich erleichternd wäre. Ob Blutwurst oder Blut ... nein, da war schon ein Unterschied.

Und woher wollte sie überhaupt Blut bekommen? Das verkaufte schließlich niemand als Getränk auf dem Marktplatz. Und dann hätte sie auch gar nicht rausgehen können, außer sie wollte auf dem Weg zu ihrem Ziel unter der Sonne verdampfen. Verdammt! Das war ein echtes Problem. Und bei dem Gedanken an das Blut eines Tieres kam ihr auch nicht ansatzweise derselbe Appetit auf wie beim Gedanken an Menschenblut.

"Menschenblut." Bei dem Gedanken stieg eine Wärme in ihr empor.

"Aber woher Menschenblut?" Und wie viel? Musste sie jemanden dafür töten? Das ... hätte Konsequenzen. Darüber hatte sie sich früher, als sie davon träumte, den Kuss zu empfangen, nie wirklich Gedanken gemacht. Sie hatte jetzt echt ein Problem – und musste eine Lösung finden. Durch den Traum hatte sie zu schätzen gelernt, dass sie dieses Schicksal verschont hatte, obwohl sie sich einmal so sehr danach gesehnt hatte. Und jetzt das.

Sie fragte sich, ob sie vielleicht mit etwas Glück morgen wieder als Mensch in ihrem gewohnten Bett aufwachen würde. Das war aktuell ihre einzige Hoffnung. Aber falls nicht, musste sie handeln. Ihre Gedanken begannen zu rasen. Und dann kam ihr die Idee, die ihr ohne den Nebel im Kopf eigentlich auch hätte viel schneller kommen können. Sie musste sich nur noch etwas gedulden. Und der Rest ... der würde sich schon ergeben.

So saß sie dann einige Stunden fast regungslos auf dem Boden – und sehnte den Sonnenuntergang herbei. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, aber dann war es endlich so weit. Erst wurde es langsam immer dunkler, während sich die Sonne stetig weiter senkte – und dann war sie verschwunden, dieser helle Ball, der ihr Verderben gewesen wäre. Nun blickte sie zum ersten Mal seit ihrer schweren Verbrennung wieder aus dem Fenster. Diesmal kein Schock – nur der Mond, der ihr wohlgesonnen zu sein schien.

Sie schlich langsam zur Haustür, neben der ein Mantel hing, in dem sie ihre Gestalt gut verbergen konnte – besonders in der Nacht. Sie zog ihn an und wollte die Tür öffnen. Allerdings war sie verschlossen. Nachvollziehbar – sollte doch sicher kein ungebetener Gast die bei Tage schlafende Vampirin wecken. Doch der Schlüssel steckte in der Tür, so war es leicht, sie zu öffnen.

Der erste Schritt nach draußen kam Sziedeyna unheimlich vor. Es war ihr Haus – und es war der Ort, an dem ihr Haus stand. Aber dennoch sahen einige Dinge anders aus. Nicht grundsätzlich – aber im Detail. Zum Beispiel fehlte dieser eine Stein nicht im Mauerwerk der Treppe. Sie schloss die Tür hinter sich und steckte den Schlüssel ein.

Nun musste sie nur noch – der Gedanke ging ihr nicht ganz leicht durch den Kopf – ein ... Opfer finden. Aber wie wollte sie das überhaupt anstellen? Von hinten anschleichen, bewusstlos schlagen und dann ... anbeißen und ... saugen? Sie wusste ja gar nicht, wie das geht. Und was, wenn ihr der Angriff nicht gelang und das Opfer Alarm schlug? Dieses Risiko war enorm. Vielleicht musste sie die Umstände möglichst zu ihren Gunsten wählen. Vielleicht eine einsame Seele, entfernt von der Stadt.

Und dann auch die Frage: Wie viel sollte sie überhaupt trinken? Und konnte sie das Opfer überhaupt am Leben lassen? So völlig allein auf sich gestellt fühlte sich Sziedeyna nun völlig überfordert. Sie wollte schließlich leben – und nicht für einen kurzen Höhenflug mit dem Leben bezahlen.

"Leben?", dachte sie, lebte sie überhaupt? Vampire waren doch Untote, das wusste sie eigentlich. Sie fühlte ihren Puls. Nichts. Dann eine Hand aufs Herz. Wieder nichts. Ja, sie musste tatsächlich tot sein. Beziehungsweise: untot. Sie wunderte sich ein wenig über die eher nüchterne Erkenntnis. Jetzt hatte sie eine Idee: Sie konnte vielleicht erst einmal nur prüfen, wie sie auf einen Passanten wirkte – in der Hoffnung, dass sie irgendetwas spürte, was ihr weiterhelfen konnte.

Sie musste nicht den Erstbesten anfallen wie ein tollwütiger Hund. Nein, eher vorsichtig umschleichen wie eine Raubkatze. Dieser Gedanke fühlte sich plötzlich ganz natürlich an. Erwachten da in ihr bereits gewisse Instinkte?

Also ging sie leise durch die Straßen, in der Hoffnung, dass Menschen ihren Weg kreuzten. Um diese Zeit war nicht viel los. Das war einerseits gut, andererseits auch schlecht – wenn das hieß, dass sie niemanden fand.

Doch dann geschah es. Erst das Geräusch von Schritten, dann ein schwacher Schatten, der hinter einer Ecke auftauchte. Sie konnte sehen, als ob es taghell wäre. Es war ein Mann mittleren Alters, der beim Gehen etwas schwankte. Wahrscheinlich auf dem Heimweg von einer Schänke. Sie ließ ihn zunächst an sich vorbeigehen. Als nichts passierte, rief sie ihm leise hinterher:

"Entschuldigt, gnädiger Herr."

Der Mann blieb stehen und drehte sich abrupt um. Sziedeyna fuhr fort:

"Ich bin fremd in der Stadt und habe mich verirrt. Könnt ihr mir den Weg erklären, wie ich zum Stadtzentrum finde?"

Ihre Augen fixierten dabei die seinen – und sie versuchte, irgendein Gefühl in diesen Blick zu legen. Da spürte sie etwas. Tatsächlich regte sich in ihr irgendeine Kraft. Der Mann setzte zunächst zu einer Antwort an, verstummte dann aber abrupt. Sziedeyna hatte ihn offenbar in eine Art Trance versetzt. Aber was nun? Was machte sie damit? Der Mann stand wie eine Statue vor ihr und rührte sich nicht.

Sziedeyna näherte sich ihm und versuchte dabei, den Fokus nicht zu verlieren. Sie spürte nur – dachte nicht mehr. Da stand sie direkt vor ihm, und er stand vor ihr wie eine reife Frucht an einem Baum, die sie nur pflücken musste. Sie wendete den Blick kurz ab, um zu sehen, was passierte. Der Mann verharrte in seiner Haltung. Das sah Sziedeyna als Zeichen, dass ihre Wirkung auf ihn nicht gleich verschwand, sobald sie ihm nicht mehr in die Augen schaute.

Aber sie wollte kein Risiko eingehen. Zuerst berührte sie den Mann vorsichtig. So, dass es nicht unbedingt verdächtig wirkte, falls er doch plötzlich aus seinem Zustand erwachen sollte. Nichts passierte. Nun tastete sie vorsichtig seinen Hals ab. Er reagierte nicht. Sie schaute zur Sicherheit noch einmal in seine Augen – mit diesem Gefühl. Jetzt war es so weit. Sie musste die Chance nutzen.

Sie ertastete die Halsschlagader, die warm und lebendig pulsierte. Da regte sich etwas in ihr. Diese Lust, diese Gier. Sie bemerkte, wie sich in diesem Moment wie von selbst ihre Eckzähne ausfuhren. Sie setzte zum Biss an – da hörte sie etwas. Schritte. Eine weitere Person, die sich näherte. Sie musste improvisieren. Die Person kam schnell näher – sie musste jeden Moment um die Ecke biegen. Sziedeyna hatte blitzschnell einen Einfall: Sie umarmte den erstarrten Mann eng und küsste ihn auf den Mund, in der Hoffnung, der Neuankömmling würde beide für ein Liebespaar halten.

Dieser Plan ging auf. Sie hörte nur ein leises Schmunzeln, als der Fremde an ihr vorüberging. Als er weit genug entfernt war und seine Schritte verhallten, versuchte sie es erneut. Sie suchte die Schlagader, leckte sich einmal über die Eckzähne, um ein Gefühl für sie zu bekommen – und setzte dann zum Biss an.

In ihr regten sich tausend Gefühle. Sie war plötzlich wie im Rausch. Sie öffnete den Mund weit, legte die Eckzähne an die Ader und biss zu. Sie hatte es geschafft – und spürte das warme Blut in ihren Mund sprudeln. Sie schluckte gierig jede Füllung herunter. Dabei fühlte sie sich fast wie bei einem Orgasmus. Es war einfach fantastisch. Sie trank, und trank, und trank. Sie konnte nicht aufhören. Es war einfach zu schön. Sie trank immer weiter – bis sie satt war. Richtig satt.

Da ließ sie von ihrem Opfer ab. Erst dann merkte sie, was passiert war. Der leblose, verblasste Körper sank zu Boden.

"Verdammt!", dachte sie, genau das sollte nicht passieren.

Was nun? Zum Glück war die Straße noch immer menschenleer. Einerseits noch immer auf eine gewisse Weise betrunken, andererseits alarmiert, entschied sie instinktiv, dass die Leiche verschwinden musste. Wenn jemand sie fand – blutleer und mit Bissverletzung am Hals –, dann würde man früher oder später nach einem Vampir suchen. Das konnte gefährlich für sie werden.

Als sie den erschlafften Leichnam packen wollte zum Transport, merkte sie, wie leicht er sich anfühlte. War er so leicht, weil ihm das Blut fehlte – oder war sie stärker als gewohnt? Vielleicht traf beides zu. Also schulterte sie den Mann ohne Probleme und trug ihn, immer vorsichtig spähend, ob jemand kam, langsam Richtung Stadtrand.

Da sie sich in der Stadt auskannte, fiel ihr ein guter Ort ein, um die Leiche verschwinden zu lassen. Dort, wo die Kanalisation aus der Stadt floss. Da würden Ratten und anderes Getier die Leiche so schnell so verunstalten, dass niemand mehr erraten würde, auf welche Weise er umgekommen war. Ein Mann würde ihn wahrscheinlich für einen Trunkenbold halten, der in seinem Rausch in die stinkende Brühe gefallen und dort umgekommen war. Ein Unfall also. Diese Perspektive erleichterte sie – und so setzte sie den Plan ohne weitere Zwischenfälle um.

Danach ging sie mit kleinen Umwegen nach Hause, ging die kleine Treppe hoch, zog den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür, huschte hinein, schloss die Tür – und sank erstmal zu Boden.

Sie hatte es wirklich geschafft. Erstmal war sie satt. Richtig satt. Aber wie lange hielt das jetzt an? Und so konnte es nicht jedes Mal laufen. Es konnte nicht jedes Mal eine Leiche geben. Und jedes Mal konnte etwas passieren. Aber das war ein Problem für die zukünftige Sziedeyna. Jetzt wollte sie erstmal ihren kleinen Triumph sacken lassen.

Es war einfacher, als sie gedacht hatte. Auf die übernatürlichen Kräfte, die ein Opfer willenlos machten, hatte sie intuitiv Zugriff erlangt. Vielleicht lag es daran, dass ihr Körper – dieser Körper – schon Erfahrung mit derlei Vorgängen hatte und fast von selbst funktionierte.

In diesem Zustand der Entspannung fiel ihr auf, dass ihr Gesicht gar nicht mehr brannte. Sie tastete es mit den Fingern ab und bemerkte, dass es vollständig geheilt sein musste. Jetzt wurde ihr klar, warum das vorher nicht funktioniert hatte. Ihr fehlte die Energie in Form von Blut. Die Schwere, die sie zuvor wahrgenommen hatte, war auch verschwunden. So funktionierte das also. Sie sollte am besten nicht mehr in so einen ausgehungerten Zustand kommen, um es sich bei der Jagd nicht unnötig schwer zu machen.

Jetzt kam ihr auch plötzlich eine Frage in den Sinn. Wenn sie jetzt in der Haut ihres vampirischen Traum-Gegenstücks steckte, erging es diesem dann umgekehrt genauso? War die ausgehungerte Vampirin, die sich weigerte, Blut zu trinken, jetzt über das Wunder überrascht, von ihrem Fluch geheilt zu sein?

Fluch … ja, den hatte sie jetzt dafür. Und ja, sie hatte begriffen, dass es einer war – auch wenn sie es gerade nicht spürte, dank des vielen Bluts, das sie in sich trug. Sie musste sich immer wieder versorgen – und das brachte sie in Gefahr. Andernfalls erging es ihr wie ihrem Gegenstück – und das elendige Gefühl verfolgte sie seit den ersten Träumen irgendwann.

Aber warum weigerte sich ihr Gegenstück so vehement, zu trinken, während sie gerade ihre erste Mahlzeit zu sich genommen hatte? Irgendwas musste die beiden unterscheiden – nicht nur, wer von beiden Vampir war. Sziedeyna fühlte sich jetzt irgendwie schmutzig. Als hätte sie ein Tabu gebrochen – und dafür für immer etwas verloren.

Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, wie leicht ihr das alles eben gefallen war. Sziedeyna lebte vielleicht ein einfaches Leben, aber ihr Verstand machte immer wieder mal kleine Höhenflüge. In ihr kam die Frage auf, ob dieser Tausch vielleicht etwas geradegerückt hatte. Vielleicht waren sie vorher vertauscht – und jetzt sind beide am richtigen Ort. Ihr fiel es offenbar leichter, sich dem Vampirismus hinzugeben, und ihr Gegenstück, das darunter litt, wurde von dieser Qual erlöst.

Aber war das hier wirklich ihre Welt? Und wie sollte es weitergehen?

Sie hatte gar nicht bemerkt, wie bereits wieder der Tag anbrach. Doch als sie das tat, legte sie sich erst mal schlafen. Ihr letzter Gedanke war, dass sie irgendwie froh war, keine Blutwürste mehr essen zu müssen. Doch ob ihr neues Schicksal wirklich besser war?

So verließ sie das Bewusstsein – mit einem leisen Schmunzeln.

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Ein Jahr später

von Sziedeyna » 06 Aug 2025, 22:20

Sziedeyna wachte schweißgebadet auf. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, dass sie nur geträumt hatte. Aber dieser Traum beschäftigte sie, weil er sich so real angefühlt hatte. Es kam ihr fast vor, als hätte sie bis vor kurzem ein anderes Leben gelebt und wäre dann durch ihr plötzliches Erwachen wieder in ihr gewohntes zurückgeholt worden. Aber es fühlte sich eher an, als hätte man sie unter Wasser gehalten und erst kurz vor dem Ersticken wieder herausgezogen. Ein Druck lastete auf ihr. Ihr Herz pochte. Es ließ sie nicht los. Das kannte sie so nicht. Sie kannte es durchaus, von einem Albtraum aufzuwachen und eine Weile zu brauchen, um die initiale Verwirrung und Aufregung abzuschütteln. Aber irgendetwas war diesmal anders.

Sie setzte sich aufrecht auf die Bettkante, atmete tief durch und rieb sich die Wangen. Danach schaute sie, noch immer in Gedanken versunken, in ihrem Zimmer umher – als suchte sie etwas, das aber gar nicht physisch in diesem Raum präsent war.
Es war so real!

Jetzt begann sie, in einem etwas wacheren Zustand, angestrengt in ihrer Erinnerung an den Traum zu kramen. Etwas fiel ihr auf, und sie fixierte für einen Moment mit den Augen einen imaginären Punkt im Raum. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und stand dann auf.

Der Traum würde sie noch den restlichen Tag beschäftigen. Es vergingen ein paar Tage, bis es wieder passierte. Sie wachte erneut schweißgebadet auf und merkte sofort, was passiert war. Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie das letzte Mal ebenfalls ein seltsames Gefühl im Magen verspürt hatte – so wie diesmal auch. Damals verspürte sie seltsamen Appetit auf Fleisch, briet sich eine besonders große Portion Speck mit Eiern. Aber erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bereits vor dem Braten große Lust verspürt hatte, das Fleisch zu verzehren – ja, regelrecht zu verschlingen.

Oder war es das Fleisch?
War es nicht vielmehr der Saft darin?

Sie hatte das ignoriert, weil es ihr absurd vorkam – und sicherlich auch nicht gesund gewesen wäre. Aber jetzt war es wieder da, dieses Gefühl, diese Lust auf...

Sie hatte jedoch kein Fleisch mehr im Haus und musste zuerst den Markt besuchen. Da sie ansonsten eh nur noch etwas vertrocknetes Brot dahatte, beschloss sie, den Markt kurz darauf aufzusuchen.

Auf dem Marktplatz angekommen, schaute sie sich um. Da war ein Stand mit Fleisch- und Wurstwaren. Sie ging eiligen Schritts zum Stand und begutachtete das Warenangebot. Dort fiel ihr eine Wurst ins Auge, die sie früher immer ignoriert hatte, da sie sie nicht als besonders appetitlich empfunden hatte. Aber diesmal erschien es ihr, als würde diese rötlich-schwarze Wurst sie förmlich dazu aufrufen, sie zu essen.

Sie wies den Händler an, ihr drei dieser Würste einzupacken, die sie mit ein paar Münzen quittierte. Mit den Würsten in der Tasche machte sie sich direkt wieder auf den Weg nach Hause. Dort knallte sie die Würste auf den Tisch, schnitt die erste gierig an und biss direkt ab – fast wie ein Tier.

Sie hatte die halbe Wurst im Eiltempo heruntergeschlungen, da fiel ihr erst auf, was sie da eigentlich tat. Das ließ sie etwas über sich erschrecken.

Was mache ich hier eigentlich? dachte sie irritiert. Dieser seltsame Traum wieder...

Sie verfiel wieder ins Grübeln und Kramen. Dann schaute sie zu den Würsten. Die angeschnittene Wurst fixierte sie für einen Moment, hielt inne – als würde sie einen inneren Konflikt austragen, der nur für sie existierte. Dann schlang sie den Rest hinunter. Danach war ihr schlecht. Ihr Frühstück war also einfach eine ganze Blutwurst gewesen. Ihr kam das im Nachhinein absurd vor.

Sie war gleichzeitig seltsam erleichtert, dass sie noch zwei dieser Würste hatte. Sie kamen ihr wie kleine Schätze vor, die sie jetzt in den Keller brachte, damit sie nicht so schnell verdarben.

Es vergingen wieder ein paar Tage. Jeden Tag aß sie morgens eine Wurst und ging regelmäßig zu jenem Stand, um sich erneut einzudecken. Und wie es kommen musste, wachte sie wieder von diesem Traum auf, der sie anscheinend nicht loslassen wollte.

Aber sie war inzwischen mental vorbereitet und wollte den Traum – sobald sie wachen Verstands war – quasi wie eine Katze ihrer Beute auflauern und ihn zu packen kriegen. Sie spürte, dass dieser Traum irgendetwas von ihr wollte. Sie hatte früher nie mit wiederkehrenden Albträumen zu kämpfen gehabt. Sie wusste: Wenn man den gleichen Traum immer wieder träumt, dann wollte er einem etwas Wichtiges mitteilen.

Aber was?

Ihr Plan ging auf. Dieses „Packen des Traums“ hatte Erfolg. Sie konnte ihn jetzt besser greifen, und er verflüchtigte sich nicht so rapide wie zuvor.

In dem Traum fühlte sie sich wie sie selbst, nur anders. Im Traum – das fiel ihr jetzt auf – aß sie keine Würste, sondern... hatte ein unbändiges Verlangen nach... Blut. Aber sie trank es nicht. Und das war offenbar Teil der Problematik, die den Traum zu einem Albtraum machte. Sie schlussfolgerte, dass sich dieses Verlangen in ihrem Heißhunger auf Blutwurst äußerte. Zuerst war der Speck das Nächstbeste, was sie unmittelbar greifbar hatte. Der Fleischsaft war es eigentlich, den sie plötzlich so verlockend fand – aber sie entschied sich dann aus Vernunft fürs Braten. Und dann lockte sie dieses Gefühl auf den Markt, wo sie die Blutwürste entdeckte.

Sie merkte auch jetzt, wie ihre Gedanken – neben dem Traum – darum kreisten, in den Keller zu gehen und sich wieder eine Wurst zu holen. Ihre tägliche Dosis. Vorher fand sie keine Ruhe.

Sie bemerkte noch mehr, als sie darüber nachdachte, wie sie im Traum war. Sie war zwar sie, aber auch nicht. Oder eher: anders. Im Traum fühlte sie sich schwach und... ausgehungert. Sie belastete ein Gefühl der Verzweiflung, und sie bemerkte die Zerrissenheit zwischen etwas, das sie wollte – und sich gleichzeitig verbot. Ein inneres Verbot aus Überzeugung. Oder eher: aus einem verzweifelten Festhalten an etwas. Dieses Gefühl wurde irgendwann so unerträglich, dass sie davon aufwachte – und es in ihr nachhallte.

Sziedeyna fragte sich, ob sie vielleicht verrückt wurde. Sie führte sich ihre Besessenheit mit den Würsten vor Augen und wusste, wie absurd das eigentlich war.
Was war da mit mir los?
Was wollte mir dieser Traum sagen, der sich so real anfühlte?

Sie hatte Gerüchte aufgeschnappt über die jüngsten Ereignisse. Leute berichteten unter vorgehaltener Hand, dass mitunter seltsame Dinge passierten. Menschen änderten sich über Nacht. Vergaßen Dinge. Erinnern sich plötzlich an Dinge, die ihrem Umfeld gänzlich unbekannt waren. Einmal sogar hielt ein Mann eine fremde Frau für seine Ehefrau und musste von den Wachen abgeführt werden, weil sie Stein und Bein schwor, dass sie ihn nicht kannte.

Könnte so etwas auch mit mir passieren?

Diese Zeiten waren seltsam. Anfangs gab sie nichts auf dieses Gerede alter Waschweiber. Aber jetzt – da war sie sich nicht mehr so sicher. Diese Träume fühlten sich für sie nach mehr an als nur Träumen. Und dann war da ja noch dieser eigenartige Appetit auf Blutwurst.
Oder... war es eigentlich das Blut darin, was sie wirklich reizte?

Jetzt stellte sie sich bewusst diese Frage und dachte an Blut. Frisch, noch warm. Erst von Tieren. Dann von... Menschen.

Und da durchzuckte es sie. Blut... von Menschen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie leckte sich die Lippen. Dabei tastete ihre Zunge auch über ihre Eckzähne, die aber keine Besonderheiten aufwiesen. Sie atmete tief durch. Irgendwas war da mit ihr los.

Und da machte es plötzlich Klick. Sie öffnete den Mund und machte ein total überraschter Gesicht – als hätte sie plötzlich eine Wahnsinnsidee.

Und ja, Wahnsinnsidee im doppelten Sinne. War das die Idee des Wahnsinns?

Ihr fiel nämlich ein, wie sie als Jugendliche einen Plan hatte, den sie in den letzten Jahren eher verdrängt hatte. Ihr Leben hatte sich stark gewandelt, und ihr altes Leben schien überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Aber jetzt war es wieder präsent. Damals hatte sie ihre Eltern ermordet, weil sie besessen davon war, unsterblich zu werden. Und damals träumte sie davon, den Vampirkuss zu empfangen. Aber sie fand keinen Vampir.

Obwohl... das stimmte nicht ganz. Da gab es ein Ereignis, das sie nicht ganz einordnen konnte. Aber danach passierte... nichts. Und dann passierten ganz andere Dinge, die ihr Leben komplett durcheinanderwirbelten. Danach war dieses Gefühl, das sie damals angetrieben hatte, irgendwie verflogen. Heute lebte sie ein eher normales, langweiliges Leben. Eigentlich viel zu langweilig. Sie schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und kam so über die Runden. Ihr Leben fühlte sich leer und sinnlos an. Mit ihrer dunklen Vergangenheit hatte sie abgeschlossen. Dennoch war sie auch desillusioniert – und wusste eigentlich gar nicht, wofür sie lebte.

Und da stellte sie die These auf, dass der Traum vielleicht so etwas wie ein Blick in eine andere Wahrheit war – eine andere Welt, in der es sie auch gab, aber in der sich gewisse Dinge anders entwickelt hatten. So wie es aussah, war darin ihr Wunsch, den Vampirkuss zu empfangen, in Erfüllung gegangen. Aber glücklich hatte es sie offenbar überhaupt nicht gemacht. Wobei dieses Unglück anscheinend davon rührte, dass sie sich verweigerte, Blut zu trinken.

Warum nur? Warum trank ich nicht?
Und woran hielt ich dabei fest?

Jetzt verstand sie: Sie hielt an ihrer Menschlichkeit fest.
Ich war damals so leer und so dumm, dass ich mich dafür hergeben wollte, dachte sie zu sich.

Und jetzt stieg in ihr ein Gefühl von Mitleid hoch, das sie mit ihrem Traum-Ich fühlte.
Irgendwo da draußen... ist sie. Bin ich. Vielleicht. Und muss das durchmachen.

Mit leeren Augen nickte sie ein paar Mal gedankenverloren. Was sie gerade am meisten beschäftigte, war eine Erkenntnis:

Wenn da draußen die Menschen sich tatsächlich verändern, dann könnte das auch mit mir passieren.

Sie erinnerte sich an eine Erzählung, die sie vor einer Weile ein paar Gassen weiter aufgeschnappt hatte. Da war bei einem Mann plötzlich eine Narbe verschwunden, die er vor Jahren bekommen hatte.

Was also, wenn... ich vielleicht auch mehr zu dieser anderen Sziedeyna werde?
Und das vielleicht der wahre Grund für meinen seltsamen neuen Appetit ist?

Sie atmete erneut tief durch. Das machte ihr alles Unbehagen.

Und dann stattete sie dem Keller wieder einen Besuch ab...

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Rache

von Sziedeyna » 06 Aug 2025, 22:19

Bevor hier weitergelesen wird, bitte auch dieses Thema lesen: Die Vernichtung einer Vampirin - Blaugraue Flüsse in der Mündung der blutigen See

Alicia stand wie jeden Tag reglos vor dem bodentiefen Fenster im Erdgeschoss des Sanatoriums. Zu dieser Jahreszeit bot sich ein schöner Ausblick in den Garten. Ein ganzes Team an Gärtnern war damit betraut, den Garten stets gepflegt zu halten und voller Blütenpracht. Ob Alicia all das aber überhaupt wahrnahm, wusste niemand. Sie redete nicht und funktionierte eher nur als dass sie lebte. Sie war vor einigen Jahren in das Sanatorium gebracht worden. Seitdem gab es keine Fortschritte. Apathisch und fast wie ein Geist wirkte sie. Dünn und blass. Alles an ihr wirkte leblos. Sie lächelte nie, zeigte nie irgendeinen Affekt, so sehr es die Menschen um sie herum auch versuchten, aus ihr herauszukitzeln. Das hatte ihr den Spitznamen "Gespenst" eingebracht. Aber ob sie darum überhaupt wusste, konnte ebenso niemand sagen. Vielen war sie unheimlich, anderen Patienten wie auch dem Pflegepersonal.

Immer wenn sie besonders lange vor dem farblosen Glas stand, hatte sie zuvor wieder eine Episode erlebt. Niemand wusste, was in ihr wirklich geschah. Ob es Entwicklung gab, Fortschritte. Aber tatsächlich, in ihr tobte ein Krieg, der in so barschem Widerspruch zu ihrer äußeren Erscheinung stand. Dieser Krieg zerrüttete sie nun schon seit Jahren. Aspekte ihres wahren Lebens fanden sich in Fragmenten und Allegorien in ihrer inneren Kriegslandschaft wieder. In dieser Landschaft stand sie, war jemand anderes. Sie hatte ein Schwert und einen anderen Namen: Sziedeyna.

Maladaptives Tagträumen. So wurde es genannt. Aber bei ihr hatte es ein Ausmaß angenommen, dass sie selbst darin verschwand. Es war, als würde ihr Geist in einer anderen Welt verweilen, während ihr Körper in der wahren Welt nur noch über seine Grundfunktionen verfügte. Diese geistige Abwesenheit war es, die auf andere so unheimlich wirkte. Niemand wusste, wer da wirklich in diesem kleinen Kopf unter den langen schwarzen Haaren steckte. Sie hatte sich nie gezeigt. Sie bewachten eine Hülle.
Die Ereignisse in diesem Beitrag passieren in einer Parallelwelt.

Sziedeyna konnte es nicht begreifen. Sie saß da, einige Meter fortgeschleudert durch die Druckwelle, aber es war mehr als diese physische Wucht, das sie bewegungsunfähig machte. Sie musste mit ansehen, wie das Wesen, zu dem sie eine nie dagewesene Verbindung gefühlt hatte, einfach ausgelöscht wurde. Noch ein paar Stunden zuvor hatten sie gekuschelt, hat sie die Nähe förmlich in sich aufgesogen, als wäre ihr über Jahrzehnte entstandener innerer Eiskern endlich aufgetaut und durch Wärme und Geborgenheit ersetzt worden. Sie kannte Ancanagar nicht mal 24 Stunden, jedoch war dieser Kontakt an Intensität nicht zu überbieten gewesen. Es war eine Wiedergeburt. Eine Chance auf neues Leben in einer innerlich von schwerer Schuld geplagten Sziedeyna. Sie hatte so viele... Emotionen gehabt. Ihr kühles abgeklärtes Wesen war wie verwandelt. Sie war so vieles zugleich. Kind, das seine Mutter, Schwester, die ihre große Schwester gefunden hatte. Und auch eine Geliebte. Ancanagar war für Sziedeyna alles geworden. Alles, was sie zuletzt gewollt hatte, hatte sie nur wegen ihr gewollt. Da gab es nichts anderes mehr.

Und jetzt hatte er es ihr entrissen. Der Ordensmann namens Kaimond. Es war der erste Ausflug für Sziedeyna als Vampirin unter Ancanagars Fittichen gewesen. Eigentlich sollte Sziedeyna nur lernen, wie man sich in Gegenwart von Menschen verhält, sie gefügig macht, um von ihnen zu trinken, möglichst ohne Zwischenfälle. Aber alles kam anders. Der Mann an sich wäre nicht das Problem gewesen. Aber er hatte ein Artefakt an sich, das er wie ein Ass im Ärmel bei sich trug. Einen magischen Dolch, den er im entscheidenen Moment, als er eigentlich schon den beiden Vampirinnen unterlegen war, hervorholte und damit alle Macht auf sich bündelte. Er konnte nicht nur Geschöpfe des Untodes auf Abstand bringen, wie es mit Sziedeyna passiert war, sondern auch untotes Leben völlig auslöschen.

Als sich das makabre Schauspiel vollzog, war Sziedeyna wie versteinert. Ihre rasende Wut auf den Mann war blankem Entsetzen gewichen. Ein Rest Überlebenswille in ihr hatte jedoch verstanden, dass Ancanagar sich für sie geopfert hatte. Und so sehr sie in diesem Moment am liebsten mit ihr vergangen wäre, um wenigstens in diesem Ende für immer vereint zu bleiben, so sehr ruckte auch auf einmal die Erkenntnis an ihr: "Ich muss hier weg!" Vom vielen Blut, das sie kurz zuvor dem schrecklichen Widersacher noch durch seine Halsschlagadern geraubt hatte, als sie noch die Oberhand hatte, waren ihre Kräfte nun maximal ausgebildet. Aber sie nutzte sie nicht mehr, um ihn zu bekämpfen. Nein, sie wusste, dass sie dieser Kraft des Dolches nicht gewachsen war. Also floh sie. Und in einem Augenschlag war sie von der Bildfläche verschwunden und ließ den Mann allein mit dem leeren Kleid Ancanagars, in dem sich nur noch ein Haufen Asche befand.

Sziedeyna war zu keinem klaren Gedanken in der Lage. Sie lief nur, sie rannte, in übermenschlicher Geschwindigkeit. Durch die Gassen, durch die sie dem Mann einst gefolgt waren, bis zum Hafen Skara Braes. Sie sprang ins Wasser, schwamm wie ein Pinguin über die Wasseroberfläche und kam irgendwann wieder am Festland an. Dort rannte sie einfach weiter. Durch Wälder und Sümpfe, über Seen und Flüsse. Bis sie irgendwann Britain erreichte und wie eine Verrückte gewirkt haben musste für jeden, der sie unter dem Nachthimmel erspähen konnte. Bis sie ihr Haus erreicht hatte und mit einem dumpfen Türschlag wie in einem Schneckengehäuse verschwunden war.

Es war ein Instinkt, der sie nach Hause geführt hatte. Der einzige Ort, der ihr jetzt Sicherheit versprach. Sie saß nun da, auf dem Boden, allein. Starrte mit leeren Augen, die schon alle Tränen verweint hatten, vor sich hin. Fixierte nichts, als wäre da auch nichts mehr. So saß sie Stunden, Tage, Wochen da. Regungslos als wäre mit Ancanagar jeglicher Lebenswille aus ihr gefahren. Aber etwas gärte in ihr. Hass. Rache. Dieser Mann, der ihr alles genommen hatte, der würde büßen. Nicht einfach büßen. Sziedeyna verlor sich in Rachefantasien und was sie ihm antun würde. Hass, Hass, nichts als Hass war in ihr. Der Hass überlagerte die tiefe Trauer, die sie gleichzeitig in sich trug. Es war, als hätte ihr Wesen und ihr Überleben jener Nacht nur noch einen Verwendungszweck. Diesen Mann auszulöschen, koste es was es wolle. Ihr war egal, was mit ihr passieren würde. Es gab kein Leben danach für sie. So weit reichte ihr hyperfixierter Horizont nicht mehr. Ihre einzige Sorge war, dass sie es nicht vermasseln durfte.

Als sie ihren Plan innerlich ausgearbeitet hatte, kam wieder Leben in sie. Sie bewegte sich nach Wochen zum ersten Mal. Ihre Glieder knackten und ächzten. Das Blut war inzwischen längst verbraucht und sie brauchte dringend Neues. Vor allem musste sie in Topform sein für Kaimond. "Keine. Fehler." fuhr es verbal aus ihr heraus. Dies war auch das erste Mal, dass sie seit damals überhaupt den Mund öffnete. Der Hass nährte auch eine kalte Rationalität, die sich jetzt in ihr manifestierte. Sie musste es genau planen, diesen Mann studieren, sich zuvor andere als Opfer zur Übung suchen. All die Vorsicht, all der Wunsch, nicht unbedingt töten zu wollen für ihren Hunger, das war völlig verschwunden. Ihr war es völlig egal, mit wie vielen Leichen ihr Weg zur Rache gepflastert sein würde. Menschen hatten für sie jetzt keine Bedeutung mehr. Nichts hatte mehr Bedeutung, außer ihre Rache.

Ihr erstes Opfer suchte sie außerhalb von Britain auf einem Waldweg. Ein ahnungsloser Wanderer wählte diesen Weg zur falschen Tageszeit. Sie schlich sich von hinten an, nahezu lautlos, und befiel direkt und zielsicher seine Kehle. Er hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Sie saugte ihn komplett leer. Zurück blieb ein schlaffer blutleerer Sack, den sie etwas weiter im Wald entsorgte wie Müll. Sie trat ihn noch. In ihr war ein Gefühl erwacht, das sie bis dahin gar nicht kannte. Es war als wären ihre Opfer eine Art Substitut für ihre Rachegelüste.

Das nächste Opfer war eine jüngere Frau. Es war in der Stadt und die Frau musste auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen sein. Sziedeyna saß auf einer Mauer wie ein Geier, als sie die Schritte vernahm. Als die braunhaarige Frau ihr auf der Straße näher kam, kein Mensch sonst weit und breit, dachte sie für einen kurzen Moment, es wäre Ancanagar. Als sie jedoch erkannte, dass es nur irgendeine Frau war, packte sie eine Wut. Sie stellte sich vor sie hin und versperrte ihr den Weg. Die Frau zuckte zusammen, wusste beim Anblick der körperlich etwa gleich ausgeprägten Gestalt Sziedeynas jedoch nicht ganz, wie sie das einzuordnen hatte. Sziedeyna schaute sie für einige Augenblicke an, in der die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Dann durchfuhr sie ein Ruck und alles geschah lediglich in Sekundenbruchteilen. Ihr Gesicht wandelte sich zu einer Fratze, den Unterkiefer riss sie weit nach unten und es offenbarten sich in ihrem Schlund hungrige Eckzähne. Aber diesmal hatten sie es nicht zuerst auf den weichen und blutdurchpumpten Hals abgesehen. Sie biss der Frau ins Gesicht. Sie fraß regelrecht ihre Visage. Ehe das elende Opfer überhaupt reagieren konnte, durchtrennten Sziedeynas Reißzähne bereits die Halsschlagadern und zogen den Lebenssaft mit einer Kraft aus ihr heraus, dass lediglich ein venöses Vakuum übrig blieb. Sie steckte die leeren Überreste in einen Sack und entsorgte sie außerhalb der Stadt.

Eigentlich brauchte sie kein Blut mehr. Sie war regelrecht übersättigt. Aber es war mehr als bloßer Blutdurst, der sie hier antrieb. Sie wollte vernichten. Und mehr noch. Ihr drittes Opfer war ein Obdachloser, der am Rande der Kanalisation sein Lager hatte. Sie näherte sich ihm, als er sich schon zur Ruhe gebettet hatte unter einer alten mottenzerfressenen und vor Dreck starrenden Decke. Sie ging ganz ruhig zu ihm hin. Stand eine Weile da. Er schlief. Als in ihrem Kopf Szenarien abliefen, was sie mit ihm tun könnte, befiel sie ein diabolisches Lächeln, voller Verachtung und Tötungslust. Mit der Hand schlug sie ihn zielgerichtet bewusstlos und trug ihn weiter in die Gänge der Kanalisation. Dort legte sie ihn fast schon zärtlich ab und strich ihm übers schüttere Haar. So als sollte diese Milde nur den Kontrast zeichnen zu dem, was sie eigentlich mit ihm vorhatte. Dann schöpfte sie mit der Hand etwas der stinkenden Brühe, die zäh und gärig durch die Rinne floss, und spritzte sie ihm ins Gesicht. Als er nicht gleich aufwachte, wiederholte sie dies. Mehrmals. Dann schreckte der verwirrte Mann endlich auf. Weite Augen der Verwunderung starrten Sziedeyna an. Und ihre ungeduldige Mimik wich einem teuflischen Grinsen. "Na? Endlich aufgewacht?", entfuhr es ihr, nun wissend, dass ihr Spiel beginnen konnte. "Für dich habe ich mir was ganz Besonderes ausgedacht", fuhr sie fort. Der Mann, voller Panik, wollte sich aufrichten, aber Sziedeyna stoppte dieses Bestreben umgehend, indem sie ihn mit ihrem Fuß niederdrückte. "Na, wer wird denn hier gehen wollen? Hiergeblieben!" Der Mann rührte sich nicht mehr und brachte auch kein Wort mehr heraus, so sehr ließ ihn die Angst erstarren, als würde er begriffen haben, dass ihn hier etwas anderes angrinste als ein bloßer Mensch. Fast wie das Böse selbst, das sich ihm hier offenbarte.

"Dich werde ich langsam sterben lassen", sagte Sziedeyna ihm in kalten klaren Worten. Ihr Blick war jetzt völlig emotionslos. Doch nicht ganz, als lauere hinter dieser Maske noch etwas anderes. Sie beugte sich zu ihm hinab und sagte fast wie bei einem Gebet: "Mein Schmerz zu deinem Schmerz." Diese Worte wiederholte sie ein paar Mal mantraartig. Dann nahm sie ihre Hand und griff nach seinem linken Auge wie nach einer Frucht. Einfach so. Sie griff in die Höhle, zog den weißen Apfel heraus, bis es Peng sagte und nichts mehr das Sehorgan mit dem Schädel verband. Der Mann wollte zu einem schmerzverzerrten Schrei ansetzen, da hielt Sziedeyna mit der anderen Hand den Kiefer des Mannes fest und riss ihn mit einem brutalen Ruck aus der Verankerung. "Sei ruhig!", entfuhr es ihr. Ihr Opfer verlor das Bewusstsein, sei es vor Schmerz oder Entsetzen. "Verdammt!", rief Sziedeyna, "mach doch nicht schon jetzt schlapp!" Wütend nahm sie seinen Kopf und zerschlug den Schädel des Mannes auf dem Gestein der Kanalisation wie eine Vase aus Ton. Entstellt und entmenschlicht lag der reglose Leib da. Sie hatte nicht mal mehr das Bedürfnis, von ihm zu trinken.

Innerlich war sie aber nun bereit, ihre eigentliche Rache zu vollziehen. Sie war satt, sie hatte mit verschiedenen Opfern experimentiert und wollte nun nicht länger warten. Sie konnte nicht länger warten. Die kühle Rationalität übernahm wieder die Führung bei ihr. Sie wusste, wo der Mann in Skara Brae lebte. Also würde sie dort im Ort ein Zimmer mieten und erstmal seine Routinen studieren, von sicherer Distanz bei Nacht. Ein paar Nächte vergingen. Ihrem Blutdurst begegnete sie diesmal ganz anders als die grausamen Male davor. Sie hatte hier ein anderes Ziel vor Augen und so trank sie sich an einem betrunkenen Seemann satt und entsorgte das Opfer einfach in der Brandung. Keine Hass, keine Wut, kein Sadismus. All diese Qualitäten hob sie sich nun für Kaimond auf. Diese Energie sollte ihr die maximale Kraft verleihen, die wollte sie jetzt nicht mehr an irgendwelchen dahergelaufenen Opfern vergeuden.

Kaimond schien ein Mann mit Gewohnheiten zu sein. Sein Tagesablauf unterschied sich kaum von Nacht zu Nacht. Sziedeyna fiel vor allem auf, dass er den todbringenen Dolch nicht mehr bei sich zu haben schien. Denn dieses unheilvolle Artefakt war es am ehesten, das sie fürchtete. Sie hatte all die Macht mit ihren eigenen Augen bezeugt, die von diesem Ding ausging. Wenn sie ihn da sah, wie er allabendlich den Schlüssel in das rostige Schloss steckte, sah sie nur das Ziel ihrer Rache. Das war kein Mensch, das war eine Maus. Und sie die Katze. Und sie wollte mit der Maus spielen, ehe sie sie verschlingen wollte.

Aber sie ging es geschickt an, nicht zu übereilt. Skara Brae war kein Nest der Ordnung. Es war ein Ort voller zwielichtiger Gestalten. Und so fielen Sziedeyna beim Erkunden des Ortes bei Nacht immer wieder Menschen auf, die sie vielleicht für ihre Zwecke einspannen konnte. Da war dieses Mädchen in den zerschlissenen Hosen, das ihr besonders auffiel. "Sst!", warf Sziedeyna dem Mädchen eines Nachts zu. Es wandte sich unverrücks um und blickte in die dunkle Ecke, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien. "Sst! Hier." Sziedeyna trat etwas aus dem Dunkel und offenbarte sich dem Mädchen. Dieses betrachtete sie mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier. "Du könntest mir einen Gefallen tun, dann bekommst du das hier." Sziedeyna zeigte dem Mädchen eine Handvoll Goldmünzen. Mit derlei Geschäften vertraut entspannte sich die Haltung des Mädchens und sie fragte schlicht: "Was soll ich dafür tun?" Sziedeyna antwortete: "Mir einen Dietrich für das Ordenshaus der Gemeinschaft der Flamme anfertigen." Das Mädchen lachte verschmitzt und entgegnete: "Da wird es aber nicht mehr viel zu holen geben, aber bitte, in einer Nacht hast du deinen Schlüssel." Sziedeyna nickte ihr zu und daraufhin verschwanden beide.

In der folgenden Nacht trafen sie sich wieder und das Mädchen übergab ihr wie versprochen einen Schlüssel. Sziedeyna hielt sich ebenfalls an die Abmachung und übergab ihr die Münzen. Dabei blieb es. Sie sollte jetzt Zugriff auf das Gebäude haben, in dem Kaimond regelmäßig schlief. Sie ließ nichts anbrennen und probierte noch in dieser Nacht aus, ob der Schlüssel hielt, was das Mädchen ihr versprochen hatte. Zuvor hatte sie beobachtet, wie Kaimond wie üblich das Gebäude betrat und die Tür hinter sich schloss. Nicht viel später erlischte wie erwartet das Licht in einem bestimmten Raum. Das musste sein Schlafgemach gewesen sein. Sziedeyna wartete ab, bis die Straßen vor dem Eingang leer waren, schlich zur Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte um. Es funktionierte. Die Tür war auf. Diebische Freude überkam sie. Kaimond durfte friedlich schlummern und sie war in seinem Haus, mit ihm allein. Zur Sicherheit schloss sie die Tür von innen wieder ab und ließ den Schlüssel stecken. Niemand sollte von außen zur Hilfe eilen und ihren Plan durchkreuzen. Ihr eigener Fluchtweg? Unwichtig.

Sie zog ihre Stiefel aus und schlich in Strümpfen durch die dunkle Eingangshalle, in der sie dank ihrer Vampirkräfte alles taghell erkennen konnte. Sie trug nichts als leichten Stoff, um so beweglich und leise wie möglich zu sein. Durch die Strümpfe hinterließen ihre Schritte nichtmal mehr ein leichtes Patschen. Sie überlegte kurz, wo sich der Raum befinden musste, den sie von außen als sein Schlafgemach ausgemacht hatte. Wie eine stille Schlange bahnte sie sich durch die Windungen des Gebäudes. Ähnlich witterte sie ihre Beute, nur anstatt einer gespaltenen Zunge war es eher ihre Nase oder ihr vampirischer Instinkt, dem sie folgte. So fand sie den Raum ihrer Begierde auch bald und hörte ein leises Schnarchen hinter der angelehnten Eichentür. Sie schob sie minimal weiter auf, sodass sie gerade hindurchpasste. Sie wollte keine unnötigen Geräusche verursachen und Türen entfuhr schnell ein unerwartetes Quietschen oder Knarren. All das hatte sie bedacht bei ihrem Vorgehen. Und dann stand sie da. Vor ihm. Dieser Mann, den sie zuletzt wie ein nicht zu bändigendes Monstrum erlebt hatte, lag nun friedlich da. Sie beobachtete ihn eine Weile lang, als wollte sie den Moment der Antizipation genießen.

Kaimond drehte ihr den Rücken zu. Optimal. So konnte er sie auch nicht als Schatten aus dem Unterbewusstsein spüren. Sie fühlte sich sicher. Den Dolch fühlte sie auch nicht. Der hätte ihr wirklich Angst gemacht. Aber heute war hier nichts weiter als ein Mann, der jetzt sterben musste. Sie beugte sich langsam und vorsichtig über ihn, spürte wie ihre Eckzähne sich in ihrem Mund geschwind Raum nahmen und visierte seinen Hals an. Dieser Hals, in den sie schon einmal ihre Zähne versenkt hatte, bevor er diese verdammte Superwaffe zog. Aber jetzt hatte er sie nicht dabei. Sziedeyna schlug mit voller Kraft ihre Hauer in den Hals des Mannes und saugte mit einer sich nun explosionsartig entfesselten Kraft, dass ihm förmlich das Blut aus dem Hirn gezogen wurde. Er konnte sich nicht wehren. Weil sie eigentlich satt genug war, ließ sie aber rechtzeitig von ihm ab, um ihn nicht zu töten. Sie wollte ihn wehrlos haben und das war ihr gelungen.

Daraufhin floss wieder genug Blut in seinen Kopf und er kam zu Bewusstsein, aber so geschwächt, dass er kaum eine Silbe rausbrachte. Er ächzte und schaute erschrocken in Sziedeynas teuflischen Blick. Er war wie die Fliege in ihrem Netz und sie war dabei, ihn nach ihrem Biss einzuwickeln in ein Gespinst aus Qual. "Na? Hast du etwa geglaubt, du würdest damit davonkommen?" Sie grinste genüsslich. Aber sofort veränderte sich ihr Ausdruck und sie gab ihr wahres Gesicht preis. Hass. "Du wirst büßen, du wirst winseln, du elender Wicht!" Jetzt wich die hasserfüllte Fratze für einen Moment der noch tiefer liegenden Wahrheit: Trauer. Ihre Gesichtszüge flossen förmlich der Schwerkraft folgend dahin und offenbarten ein unendliches schwarzes Loch aus Schmerz und Verlust. Aber als würde der Hass ihre entgleiste Grimasse nun wieder notdürftig hochreißen, entfuhr ihr: "Du hast mir alles genommen, alles!" Sie wollte, dass er versteht. Dass er ihren Schmerz versteht. Dass er versteht, was er ihr angetan hat.

Schwach und kaum bei Bewusstsein blickte er sie nur leer an. Dann brachte er doch ein paar leise Silben heraus: "Du armes Mädchen." Sziedeyna taumelte innerlich ob dieser Worte. Was sagte er da? Das war nicht, was sie hören wollte. Ihre innere Festigkeit, die ihre Rachelust um ihren inneren Zustand aus Trauer, Wut und Hass wie ein Band um ein Reisigbündel geschnürt hatte, geriet ins Wanken. Für einen Moment war so etwas wie Hilflosigkeit in ihrem Blick auszumachen, die sie jedoch schnell wieder unter den gewohnten Emotionen begrub. "Was sagst du da?", brach es zornig aus ihr heraus. "Du wirst..." Das letzte Wort flachte seltsam im Affekt ab und übrig blieb ein leises "...büßen." Seine Worte wirkten wie eine Injektion Gift, immer mehr. Als würde in ihr nun ein innerer Kampf toben, mit dem sie nicht gerechnet hatte, ließ sie von ihrem ursprünglichen Plan ab. Mit leeren Augen schaute sie ihn nur an, schien seinem Blick kaum standhalten zu können und machte sich lethargisch wieder an seinem Hals zu schaffen, um ihm den Rest an Lebenskraft zu entziehen. Kurz darauf lag der leblose Körper ihrer einstigen Erznemesis nur noch wie eine weitere Bettdecke vor ihr.

Er hatte ihr den Triumph verwehrt. Einfach so. Mit so einfachen Worten, die aber so tief trafen. Sie hatte ihr Werk vollendet, aber nicht so wie gedacht. Sie wollte ihn winseln sehen, sie wollte mit ihm spielen. Sie wollte ihn das Leid spüren lassen, das er ihr zugefügt hatte. Aber jetzt war da nur innere Leere. Sie verließ den Raum mit hängenden Schultern, zog ihre Stiefel an wie eine Marionette, schloss die Tür auf und ging.

Soundtrack: https://youtu.be/tgpdEWoxbd4

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