Sziedeyna nach der Fusion: Ein Psychogramm
Zwei Sziedeynas. Eine war inzwischen Vampirin geworden. Die andere ist Mensch geblieben. Jetzt waren sie eins, und doch nicht. In einem Kopf existierten beide, ineinander verwoben, aber dennoch nicht ganz zu einer Einheit verschmolzen. Beide Sziedeynas hatten ganz anders mit der Schuld umzugehen. Während die Menschliche davon befreit war, geschah dies auf Kosten der Vampirischen, die nicht zuletzt deswegen auch den Vampirkuss als eine Art Absolution empfangen hatte. Diese beiden Lebensrealitäten waren jetzt in einen gemeinsamen Raum gezwungen worden. Sie waren wie Zwillinge, die sich lange nicht gesehen und sich daher in unterschiedliche Richtungen entwickelt, aber gleichzeitig so viel gemeinsam hatten.
In Sziedeyna entstand ein Wir aus den beiden Ichs in den Wochen und Monaten nach der Fusion. Sie hielten Zwiesprache, tauschten sich aus, unbewusst wie bewusst. Manchmal fand der Dialog eher im Hintergrund statt, auch in Träumen. Manchmal aber sprachen sie auch direkt miteinander und das war für sie eine außergewöhnliche Erfahrung. Die Fusion manifestierte sich eher im Austausch zweier Wesen, in einer Art zwillinghafter Verbundenheit, als in einer vollen Verschmelzung zu einer Einzelidentät. So war es Sziedeyna auch noch möglich, klar zu trennen zwischen den Erinnerungen der einen und der anderen.
Manchmal passierte es, da rutschte Sziedeyna im Gespräch mit anderen ein "wir" heraus. Manchmal fing sie es noch sofort wieder ein wie in "wi...ich". Und manchmal merkte sie gar nicht, wenn sie von "wir" sprach. Die meiste Zeit nutzte sie jedoch die Ich-Form, auch weil oft eine Sziedeyna gerade im Vordergrund war und den Impuls gab.
Sziedeynas Zustand als Halbvampirin war für sie inzwischen zur Normalität geworden. Die regelmäßigen Besuche bei Ancanagar in ihrem Turm gaben ihrem Leben zudem Struktur. Ancanagar hatte sie als ihr Kind angenommen. Die vampirische Blutsverbindung, die sie zweifelsfrei stark bei Sziedeyna spürte, war sicherlich maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass sich beide überhaupt so annähern konnten. Sziedeyna fühlte sich bei Ancanagar wohl, die ihr durch ihre bloße Präsenz ein Gefühl von Geborgenheit gab. Bei ihr war Sziedeyna wie ausgewechselt. Sonst eher zurückhaltend und stets unterkühlt wirkend, konnte Sziedeyna sich selbst nicht ganz erklären, warum sie in Ancanagars Gegenwart so aufblühte. Eines hatte sie sich geschworen: Sie würde alles tun, um Ancanagar nicht wieder zu verlieren. Diese zweite Chance sah sie als Wink des Schicksals, die sie heiligte. Zu groß war vor über einem Jahr der Schmerz ihres abrupten Verlustes gewesen. Sziedeynas Gefühle gegenüber Ananagar gingen tief. Was dabei die vampirische Verbindung war und was darüber hinaus ging, vermochte sie nicht zu sagen.
Sziedeyna war wieder auf dem Weg von Britain zu Ancanagars Turm nordwestlich des Schwarzsteingebirges. Der Mond stand hoch am Himmel und die Sterne wurden nur von wenigen Wolken verdeckt. Da knackte es plötzlich im Unterholz. Sziedeyna dachte zunächst an ein Tier und ging weiter. Aber als ein weiteres Knacken von der anderen Seite an ihr Ohr drang, wurde sie hellhörig. Sie blieb stehen und musterte aufmerksam den Wald, der sich links und rechts des Weges von ihr befand. Da begannen sich plötzlich mehrere Gestalten aus dem Dickicht zu schälen und sie zu umzingeln. Nun wusste sie, dass dies ein Anschlag auf sie war. Die Gestalten zogen Waffen und richteten sie von allen Seiten auf Sziedeyna, die sich unsicher umblickte und drehte, ohne einen klaren Angriffsvektor zu finden, um dieser Situation zu entkommen.
Dann kam aus dem Wald eine weitere Gestalt hinzu. Sie trug eine Robe und hielt einen Stab mit einem filigran verzierten und geschmückten Totenschädel an dessen oberem Ende. Sie riss den Stab in die Höhe und begann etwas mit sonorer Stimme zu murmeln. Die Worte wurden lauter und Sziedeyna spürte nur, wie ihr schwarz vor Augen wurde.
Als sie wieder ihr Bewusstsein erlangte, merkte sie zuerst, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war in senkrechter Lage durch Metallschellen an Füßen und Händen, sowie an der Taille auf hölzernen Balken in Kreuzform fixiert. Angst stieg in ihr auf. Sie musterte den Raum, in dem sie allein war. Es schien so etwas wie ein Labor zu sein. Mehrere Tische und Schränke, ein Seziertisch. Es hing chirurgisches Besteck an den Wänden, alchimistische Gebräue köchelten, die dem Raum einen chemischen Gestank verliehen. Es gab keine Fenster. Sziedeyna fühlte sich wie begraben. Sie ahnte, dass ihr hier nichts Gutes blühen würde. Aber sie wusste nicht, wer sie entführt hatte und aus welchem Grund. Was wollten sie von ihr? Was hatte sie zu befürchten?
Eine Weile in diesem Zustand gefangen öffnete sich irgendwann die schwere schwarze Holztür des Labors. Die Holztür erinnerte sie an etwas. Konnte es sein? Und ja, dann bestätigte sich ihr Verdacht. Ein vollbärtiger Mann betrat den Raum, den sie nur zu gut kannte: Thalkor von Schwarzbrunn. Ihr erster Auftraggeber, für den sie schon viele Jahre Aufträge erledigt hatte und zu dem sie auch in den letzten Wochen in ihrer halbvampirischen Form immer wieder Kontakt gehabt hatte.
Sziedeyna schaute ihn ungläubig an. "Thalkor...?" Der Mann betrachtete sie kühl. "Es ist nichts Persönliches, Mädchen. Aber was aus dir geworden ist, muss untersucht werden, verstehst du? Du glaubst doch nicht, dass mir das verborgen geblieben ist." In Sziedeyna stieg Panik empor. Sie wusste, dass Thalkor ein Schwarzmagier und Nekromant war, auch wenn er es ihr nie direkt verraten hatte. Aber die Reagenzien, die sie ihm immer wieder besorgen sollte, sprachen für sich. Und dass er offenbar über große magische Fähigkeiten verfügte, hatte sie auch daran gemerkt, dass er sich immer völlig unbemerkt hinter ihr manifestieren konnte, auch noch als sie ihre vampirischen Sinne durch die Fusion erhalten hatte.
Sie fragte ihn unsicher: "Was habt ihr mit mir vor?" Sie ruckte an den Fesseln und schaute sich suchend im Raum um, ohne Wirkung. Die Fesseln konnten offenbar ohne Probleme einen Vampir halten. Dann schaute sie ihn wieder an. Thalkor fuhr unbeeindruckt fort: "Nun, du bist etwas Besonderes. Warst es nicht immer, aber jetzt bist du es. Warum?" Seine Augen funkelten sie an. Sziedeyna fand in ihrem Zustand kaum klare Gedanken, aber brachte dann doch eine Antwort zustande, die sie eher stammelte: "Ich... weiß nicht, es... ist einfach passiert... Erst waren wir zwei... dann eine."
Thalkor hörte ihr interessiert zu. "Zwei? Dann eine? Sprich weiter!" Sein Tonfall wurde fordernder und verlor die vorige Ruhe. Sziedeyna fuhr fort: "Vampirin und Mensch, nun sind wir eins... so schätze ich." Sie schaute ihn an, als ob sie ihm gerade ihr tiefstes Geheimnis offenbart hätte und sich dadurch nun besonders verwundbar gemacht hatte. Aber sie hatte eine Ahnung, dass er ihr eh keine Wahl lassen würde, wenn sie sich zierte.
"Lebend und tot...", entfuhr es Thalkor, der sie musternd betrachtete und dabei seinen pechschwarzen Bart massierte. "Du bist eine Anomalie, ist dir das eigentlich klar? So etwas wie dich dürfte es eigentlich gar nicht geben. Aber dass es dich gibt, das ist eine Sensation. Und eine, die ich exklusiv erforschen und den bestmöglichen Nutzen daraus ziehen werde. Wie gesagt, ist nicht persönlich. Du warst immer sehr nützlich für mich, aber jetzt wirst du mir auf ganz neue Weise nützen."
In Sziedeyna machte sich Entsetzen breit. Sie brachte nur ein paar Worte hervor: "Was habt..." Thalkor fuhr ihr ins Wort: "Ich werde dich sezieren, werde dir dein Geheimnis entlocken und ich sage dir gleich, du wirst es wahrscheinlich nicht überleben." Sziedeyna hatte noch nie dieses Gefühl verspürt, das seine Worte in ihr auslösten. Blanke Todesangst. Thalkor sprach weiter: "Ich werde mir überlegen, was ich genau mit dir anstelle. Bis später." Da verschwand er so schnell wie er gekommen war. Die schwarze Tür fiel wieder ins Schloss und Sziedeyna blieb mit dem Geschehenen allein zurück.
Was hatte er mit ihr vor? Was würde er ihr antun? Die Gedanken rasten in ihr. Ihr Herz schlug als wollte es aus ihrer Brust springen. Sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, aber es war nur das Gefühl. Sie blieb bei Bewusstsein, mit diesen quälenden Gedanken, was ihr einstiger Auftraggeber sich wohl für sie ausgedacht hatte. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Keine Chance. Dieser Cocktail aus Todesangst, Panik und körperlicher Überreaktion entfachte einen inneren Sturm, der sie zu verschlingen drohte.
Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging, aber irgendwann ging die schwarze Tür wieder auf und Thalkor kam zurück. Diesmal schloss er die Tür hinter sich, was für sie eine gewisse Endgültigkeit der Situation transportierte. Sie hob den Kopf bei dem Geräusch und schaute Thalkor an. Dieser wandte sich aber von ihr ab und ging zu einem Loch in der Wand. Er pfiff einmal gekonnt in das Loch hinein, da erhellte sich das Loch kurze Zeit später und ein Lichtstrahl trat aus. Dann zog Thalkor eine Apparatur heran und positionierte sie zwischen Sziedeyna und dem Loch. Darauf befanden sich in Höhe des Lochs mehrere Linsen. Er sprach zu ihr: "Siehst du das hier?", und zeigte auf das helle Loch, "das ist Sonnenlicht. Und mit Hilfe dieser Linsen werde ich es bündeln und auf dich lenken, ganz gezielt, da wo ich es hinhaben will. Mal sehen wie du darauf reagierst." In Sziedeyna zog sich alles zusammen. Sonnenlicht war inzwischen für sie zu einer tödlichen Gefahr geworden. Ihr ganzer Lebensrhythmus richtete sich danach, diesem Licht zu entgehen. Sie musste stets aufpassen, früh genug vor der Morgensonne wieder einen Unterschlupf gefunden zu haben. Und jetzt wollte dieser Mann sie damit malträtieren.
Sziedeyna verschluckte sich fast bei den Worten: "Das ist... Folter." Thalkor entgegnete lediglich kühl: "Das ist Forschung. Dafür muss es Opfer geben. Und lass es dir ein Trost sein, du dienst vielleicht einer großen Sache." Sziedeyna schaute ihn nur ungläubig an, in ihrem Blick eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Angst.
Dann begann der Mann damit, die Linsen auszurichten und den Strahl gezielt mit einer Hand zu lenken. Zuerst traf er damit auf Sziedeynas linke Hand. Es begann sofort laut zu zischen und Sziedeyna schrie vor Schmerz. Als Thalkor den Strahl von ihr nahm, kam Sziedeynas verbrannte Hand zum Vorschein. Blasen hatten sich gebildet, das rohe Fleisch war stellenweise zu sehen. Es qualmte. Thalkor betrachtete die Reaktion eher genüsslich und kommentierte: "Aha! Das Sonnenlicht schadet dir also doch. Interessant. Wollen wir mal weitersehen. Ah, ich habe eine Idee!" Sziedeyna wusste nicht, was gerade schlimmer für sie war, der vorhandene Schmerz oder die Angst davor, was noch auf sie zukommen würde.
Thalkor bündelte den Strahl mit Hilfe seiner Apparatur noch enger und zielte nun auf ihr linkes Auge. Sziedeyna zog den Kopf reflexartig zur Seite. "Na! Daran hätte ich auch denken können, einen Augenblick", entfuhr es Thalkor. Er ging zu einem der Schränke und holte einen Lederriemen mit Schnalle hervor und fixierte Sziedeynas Kopf damit. Sziedeyna schrie ihm voller Verzweiflung laut ins Ohr: "Nein, bitte nicht!" Thalkor wich zurück und sagte: "Au! Das war laut. Moment." Er ging zu einer Schublade, zog ein Tuch heraus. Dann ging er wieder zu Sziedeyna. "So, du machst jetzt einmal den Mund auf." Sziedeyna rührte sich nicht. "Muss ich dich erst zwingen? Es hat doch eh keinen Zweck." Daraufhin öffnete Sziedeyna langsam und resigniert den Mund, in den Thalkor dann das Tuch stopfte. "Sodala, jetzt können wir weitermachen."
Sziedeyna starrte ihn nur mit weit geöffneten Augen an. "Ah, du machst das schon ganz richtig", sagte Thalkor und schmunzelte. Danach ging er wieder zur Apparatur und zielte mit dem gebündelten Strahl jetzt auf Sziedeynas linkes Auge, die ihm nun nicht mehr entgehen konnte. Gedämpft drang ihr Schreien durch das Tuch in ihrem Mund, während der Strahl auf ihrem Auge verweilte und sich allmählich durch den gesamten Schädel bohrte, bis er hinten wieder austrat. Wo eben noch ein Auge war, war nun nur noch ein Loch. Es roch verbrannt und kurz bevor Sziedeynas Schädel in Flammen aufzugehen drohte, stoppte Thalkor den Strahl. Sziedeyna war nicht mehr ansprechbar, der Schock zu groß, die Schmerzen unvorstellbar. "So, jetzt warten wir mal ab", sprach Thalkor eher zu sich selbst.
Während der Schwarzmagier Sziedeynas Loch im Schädel genau beobachtete, wurde er Zeuge ihrer vampirischen Regenerationsfähigkeit. Ganz langsam wuchs das Loch wieder zu und ein neuer Augapfel formierte sich in der Höhle. Sziedeyna kam allmählich wieder zu Bewusstsein. Thalkor wirkte amüsiert. "Formidabel! Anscheinend ganz die Vampirin. Keine besonderen Resistenzen gegenüber Sonnenlicht. Beinahe wärst du mir abgeraucht." Er schmunzelte ihr zu und notierte etwas in sein Notizbuch. Dann widmete er sich wieder Sziedeyna. "Dann wollen wir uns mal deine menschliche Seite vornehmen. Die ist hier noch am Interessantesten, da bin ich sicher", sprach er in einem für die Situation völlig unangemessen heiteren Tonfall.
Thalkor trat an Sziedeyna heran und beugte sich mit seinem Ohr zu ihrer Brust. "Ah, ich höre es. Bup, bup. Und so schnell. Wie im Galopp." Er ging wieder zu einer Schublade und musterte kurz den Inhalt. Daraufhin nahm er einen Dolch heraus und ging damit wieder zu Sziedeyna. "Was passiert, wenn dein Herz zum Stillstand kommt?", fragte er sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Er legte sein Ohr wieder an ihre Brust. "Oh, noch schneller als eben." Dann trat er einen Schritt zurück, setzte die Dolchspitze auf ihrem Brustkorb ab und schob die Spitze langsam bis zum Anschlag in Sziedeynas Herz. Wieder dämpfte das Tuch in ihrem Mund den gequälten Schrei, der aus ihr hervorging. Sziedeyna merkte, wie ihr Blutkreislauf langsam zum Stillstand kam. Es fühlte sich an wie Ersticken, wie etwas, das ihr langsam aber sicher das Leben nahm. Und sie verlor das Bewusstsein.
Thalkor zog den Dolch wieder heraus und wartete ab, die leblose Sziedeyna betrachtend. Nach einer Weile regte sich in Sziedeyna wieder etwas. Tief nach Luft schnappend kam sie abrupt wieder ins Leben zurück. Thalkor reagierte prompt: "Ich bin begeistert! Faszinierend. Wenn meine Theorie stimmt..." Er ging nun wieder mit dem Ohr an Sziedeynas Brust und lauschte. "Bup, bup. Da ist es wieder." Sziedeyna starrte nur noch resigniert mit leeren Augen an ihm vorbei. "Aber was wenn...", murmelte Thalkor dann vor sich hin, und fuhr fort: "Was wenn die vampirische Regeneration versagt? Das wird die letzte Prüfung. Und ich muss dir leider sagen, Mädchen, das wird weh tun." Sziedeyna reagierte kaum noch. Sie war innerlich gebrochen, auch wenn ihr Körper wieder intakt war und Thalkors Behandlung keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte.
"Ich muss dir jetzt so lange weh tun, bis du nicht mehr regenerierst. Das Blut muss verbraucht sein, verstanden?" Sziedeyna regte sich nicht. Thalkor griff wieder zum Dolch und rammte ihn ihr ins Herz. Sie starb, kam wieder zurück, und das wiederholte Thalkor ein Dutzend Male, bis Sziedeyna über kein Blut mehr verfügte, das die Heilung einleiten konnte.
Nachdem sich auch nach einer Weile nichts bei Sziedeyna regte, beschloss der Schwarzmagier, ihr ein paar Stunden zu geben, um dann zu schauen, ob noch etwas passierte. Um aber über alle Veränderungen umgehend informiert zu werden, während er sich Wichtigerem widmete, stellte er eine Wache ab, die Sziedeyna genau beobachten sollte.
Der Moment eines Todes
Als Thalkor Sziedeynas Herz ein letztes Mal stoppte bevor es für immer stillstand, befand sich Sziedeyna nicht nur in einem physischen Ausnahmezustand. Innerlich kämpfte die Vampirische ums Überleben ihrer menschlichen Schwester. Ein Dutzend Male hatte sie ihr nun während Thalkors Folterung das Leben gerettet, aber dann schwand ihr die Kraft. "Ich... kann nicht." "Ich sterbe!" "Nein, geh nicht!" Und dann war auf einmal eine Sziedeyna weg und nur die Vampirische blieb. Voller Verzweiflung über den Verlust ihres Zwillings brach für Sziedeyna alles zusammen, was sogar die bisherigen körperlichen Qualen überschattete. Plötzlich war es ruhig in ihr. Der innere Dialog war Schweigen gewichen. Sie hatten sich erst vergleichsweise kurz gekannt, aber sie waren sich so nah gekommen, als ob sie schon ihr ganzes Leben zusammen erlebt hatten.
Tiefer Schmerz überfiel sie, als sie regungslos in diesem todesähnlichen Zustand verharrte. Nach außen war sie tot. Aber innerlich war es in ihr wie der Morgen nach einem schweren Sturm. Thalkors Taten hatten in ihr eine Trümmerlandschaft hinterlassen. Sie gab auf. Zu schwer der Schaden, der Verlust.
Zwei Stunden vergingen. Sziedeyna wusste nicht mehr, ob sie überhaupt noch existierte, da sie sämtliche sinnliche Verbindung zur Außenwelt gekappt hatte. Sie hätte nicht mehr gemerkt, wenn man sie in Feuer oder in Eiswasser geworfen hätte. Jeder würde sie in diesem Moment für tot gehalten haben.
Doch dann merkte die verbliebene Vampirische plötzlich etwas. Sie... erinnerte sich. Langsam strömten die Erinnerungen der ausgelöschten Menschlichen in sie hinein. Diffus, aber auf Dauer raumfüllend, spürte sie wie die Menschliche Teil von ihr wurde, oder genauer gesagt, der Abdruck ihrer einstigen Existenz. Sie behielt also etwas von ihr, nein, sie wurde zu ihr, aber blieb dabei auch sie selbst. Jetzt kam die Fusion zur Vollendung. Die Erinnerungen zweier Leben wurden jetzt eins. Wer war Sziedeyna nun? Beide, nun untrennbar, undifferenzierbar, eine Identität.
Somit war die ehemals Menschliche nicht ganz gestorben, nur transformiert. Genau so transformiert wie die, die schon ein Jahr Vampirin gewesen war. Ob diese tot war oder "lebte", das war Auslegungssache. Tatsache war aber, dass sie beide fortexistierten. Nur die Zwiesprache zwischen ihnen wich einem inneren Monolog.
Sziedeynas Natur hatte sich nun zu einer reinen Vampirin ohne lebenden Anteil gewandelt. Dies machte sie immun gegen die Folterung ihres Herzens, auf dessen Schlagen sie nun nicht länger angewiesen war. Sie war nun stärker als vorher. Dadurch fasste sie neuen Mut und lenkte ihre Sinne nun wieder nach außen.
Die Wache saß vor ihr und empfand offenbar große Langeweile, der Leiche zuzuschauen. Er gähnte ein paar Mal, bis sich endlich etwas in Sziedeynas totem Leib regte. Sie öffnete die Augen, hob langsam den Kopf, und sah den Wachmann, der ihr gerade keine Aufmerksamkeit schenkte, sondern mehr mit seinem Ärmel beschäftigt war, an dem er Essensreste entdeckt hatte, und erneut gähnte.
Sziedeyna war verändert. Ihr lebendiger Anteil war für immer verloren gegangen. Sie war keine Halbvampirin mehr. Ihr untoter Anteil hatte sie in den letzten Stunden komplett übernommen und in diesem Sterbeprozess einen Rest Energie aus dem lebenden Anteil gezogen. Ohne wirklich bewusst zu planen, reagierte hier ihr Instinkt. Sie sah ihre wohl einzige Chance gekommen. Sie hatte sich eigentlich schon der ausweglosen Lage hingegeben. Die grausamen Misshandlungen hatten sie gebrochen. Aber jetzt regte sich in ihr auf einmal eine ungeahnte Kraft. Sie wollte... überleben.
Sziedeynas Gedanken fokussierten sich auf den Kopf des Mannes, umtasteten ihn, bis sie schließlich in seine eindrangen. Der Mann schaute dann zu ihr, begriff aber gar nicht, was mit ihm passierte. Sziedeyna konzentrierte all ihre Gedanken darauf, ihm diesen einen Gedanken einzupflanzen, der aus nur drei Worten bestand: "Mach. Mich. Los." Da wirkte der Mann plötzlich wie in Trance, bewegte sich zu Sziedeyna hin und löste nach und nach ihre Fesseln. Als er sie befreit hatte, ließ Sziedeyna keine unnötige Zeit verstreichen. Sie zog sich das Tuch aus dem Mund, packte den Mann mit ihrer letzten Kraft und trieb ihre ausgefahrenen Eckzähne in seinen Hals. In einem Wirbel aus Schmerz, Hass und Trauma ließ sie nicht wieder von ihm ab, ehe sie den letzten Tropfen Blut aus ihm heraus und in sich hinein gesaugt hatte. Mit neuer Kraft betankt ging sie zur schweren schwarzen Tür, öffnete sie mit Leichtigkeit und entkam dem Labor, das für sie zu einem Folterkeller geworden war.
Auf dem Weg nach oben begegnete ihr niemand. Draußen war inzwischen die Abenddämmerung hereingebrochen. Sziedeyna hätte einfach fliehen können, aber etwas in ihr wollte Rache. Thalkor hatte ihr unendliches Leid angetan und wenn sie jetzt einfach floh, würde dieser Albtraum von Mann, der einst ihr zuverlässiger Auftraggeber gewesen war und dem sie ihre Kriegerkarriere verdankte, weiterhin in der Welt existieren und sie wahrscheinlich weiter jagen, nur um sie weiteren Experimenten zu unterziehen. Dazu konnte sie es nicht kommen lassen. Nahezu lautlos huschte sie durch das Gebäude und befand sich nach kurzer Zeit im ersten Stock vor dem Raum, in dem sie Thalkor mit ihren vampirischen Sinnen erspürte. Denn trotz seiner Abscheulichkeit war er am Ende doch nur ein Mensch. Sie klopfte an die Tür. Thalkor antwortete mit ruhiger Stimme über sein Notizbuch gebeugt mit einer Schreibfeder in der Hand: "Was gibt es? Ist etwas mit ihr passiert?" Sziedeyna blieb stumm.
Nach kurzer Zeit hörte Sziedeyna Thalkor vom Stuhl aufstehen und zur Tür gehen. Als er sie öffnete, geschah alles blitzschnell, sodass sogar ein Magier wie er keine Chance hatte. Sziedeyna stieß mit ihrer ganzen Kraft die Tür auf, Thalkor taumelte zurück und knallte gegen ein Bücherregal. Sofort sprang ihm Sziedeyna nach und drückte ihn zu Boden. Der Magier war nicht in der Lage, zu reagieren. Und Sziedeyna gab ihm auch keine Gelegenheit mehr dazu. Mit dem Blick ihres Folterers konfrontiert stieg in ihr eine gnadenlose Wut auf und ihr Gesicht wurde zu einer hasserfüllten Fratze. Sie packte seinen Kopf mit beiden Händen und schlug ihn immer wieder gegen die Kante des Bücherregals, die sich mit der Zeit immer mehr in Blut tränkte. Auch als der Schädelknochen des Magiers bereits knackend nachgab, machte Sziedeyna noch eine Weile weiter, bis sie endlich zum Stillstand kam. Da lag er nun, Thalkor von Schwarzbrunn, tot, endlich tot.
Als die leeren Augen sie noch immer anzustarren schienen, wendete sie den Blick ab, verharrte aber zunächst noch in ihrer Position. Sie brauchte einen Moment, um aus diesem akuten mentalen Ausnahmezustand wieder rauszukommen. Dann richtete Sziedeyna sich langsam auf und verließ kurz darauf das Haus ohne weitere Zwischenfälle. Das restliche Wachpersonal, das in einem anderen Raum im Erdgeschoss offenbar alkoholisiert und laut Karten spielte, beachtete sie nicht weiter. Sie waren nur Erfüllungsgehilfen und ihren Auftrag hatten sie nun verloren, das würden sie früher oder später merken.
Sziedeyna rannte los. Nur weg von diesem Ort. Irgendwann kam sie zum Stehen. Erst jetzt konnten ihre Gedanken nach den Geschehnissen etwas aufholen. Erst jetzt konnte sie sich damit beschäftigen, was ihr passiert und was aus ihr geworden war. Ihr lebender Anteil war verloren, ausgelöscht, weil ein skrupelloser Mann in ihr lediglich Experimentiermaterial gesehen hatte. Wie fühlte sie sich jetzt? Es war ihr irgendwie vertraut, zumindest teilweise. Sziedeyna fühlte sich an ihre Zeit als Vampirin in der Parallelwelt vor der Fusion erinnert. Aber da war mehr. Jetzt war auch der geistige Abdruck der vor kurzem noch lebenden Sziedeyna Teil ihrer nun vollständigen Vampirnatur geworden. Nun war auch der zweite Teil ihrer Seele aus ihr gewichen und zurück blieb ein Wesen, das sich erneut finden musste.