Sziedeyna

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Sziedeyna
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Equilibrium

Beitrag von Sziedeyna »

Sziedeyna fühlte sich von einer explosionsartigen Wucht getroffen, die sie zu Boden warf. Der Lichtblitz ließ sie kurzzeitig erblinden und der Knall ließ ein Fiepsen in ihren Ohren zurück. Sie brauchte eine Weile, um sich wieder zu berappeln. Sie saß auf dem Fußboden. Vor ihr lagen Glassplitter verteilt. Bei ihrem Versuch, wieder Orientierung zu gewinnen, hatte sie sich geschnitten, sodass etwas Blut an ihrer Hand herunterlief. Sie schaute zum Spiegel über der Kommode, der dort, wo er vor kurzem noch hing, nicht mehr war. Der Holzrahmen war zerfetzt und das Spiegelglas verteilte sich im ganzen Raum.

Noch immer wacklig auf den Beinen stand sie vorsichtig auf. Sie achtete darauf, sich nicht noch mehr an den Splittern zu schneiden. Einen hatte sie übersehen. Dieser stach ihr in den Fuß. Sie zog erschrocken den Fuß hoch und fluchte. Danach gelang es ihr, das Splitterlabyrinth erfolgreich zu verlassen. Sie zog sich ihre Pantoffeln an und holte den Besen aus der Ecke. Damit kehrte sie die Splitter erst einmal auf.

Danach erst beschäftigte sie sich mit ihrer Situation und sich selbst. Was war eben passiert? Da war sie im Spiegel. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Aber auch nicht sie. Es war nicht ihr Spiegelbild, was sie gesehen hatte, sondern eine Art Doppelgängerin. Eine von ihnen war Vampir, die andere Mensch. Und dann berührten sie sich an der Spiegelfläche und sie konnte sich nur noch an ein gleißend helles Licht und einen lauten Knall erinnern.

Jetzt wo sie darüber nachdachte, war ihr nicht mehr klar, wer sie dabei gewesen war und wer die andere Sziedeyna. War sie die Vampirin gewesen oder der Mensch? Lag es am sich zuvor beschleunigenden Wechsel zwischen den zwei Zuständen oder hatte es einen anderen Grund? Sie hatte irgendwie das Gefühl, dass das, was die letzten Wochen passiert war, nun ein Ende gefunden hatte. Als hätte alles auf diesen Moment zugesteuert.

Doch was war sie nun? Vampir oder Mensch? Im Spiegel konnte sie sich nun nicht mehr betrachten. Sie prüfte ihren Puls. Sie spürte etwas. Schwach aber vorhanden. Ungewöhnlich schwach. Ihre Hände und Arme hatten einen blassen Ton, dennoch nicht so blass, wie sie es bei sich als Vampirin in Erinnerung hatte. Aber auch nicht so rosig wie als Mensch. Das ließ sie grübeln. Konnte es sein? Konnte sie auf seltsame Weise beides sein? Mensch und Vampir?

Eine Probe aufs Exempel wusste sie noch: Sich dem Sonnenlicht aussetzen und schauen, was passiert. Sie blickte zu den Vorhängen vor dem Fenster. Es waren die normalen Vorhänge wie sie sie als Mensch kannte. Es kam nur wenig Licht hindurch, aber so viel, dass sie sehen konnte, dass draußen Tag war. Vorsichtig näherte sie sich ihnen und schob ihre rechte Hand zwischen Vorhang und Fensterscheibe, wo das Sonnenlicht hinschien. Es schien zu gehen... sie ließ die Hand im Licht verweilen, doch dann spürte sie doch etwas. Sie zog die Hand schnell zurück und begutachtete sie. Sie war ganz rot und fühlte sich wund an. Der Zustand verschlechterte sich im Nachhinein weiter. Es juckte und brannte. Quaddeln hatten sich inzwischen gebildet.

Es war nicht der totale Schock, mit der Sonne in Berührung zu kommen, wie das letzte Mal als Vampirin, als sie sich das Gesicht prompt schwer verbrannt hatte. Aber einfach in die Sonne gehen wie ein Mensch konnte sie so auch auf keinen Fall. Sie starb vielleicht nicht gleich, aber so in etwa stellte sie sich Folter vor. Jetzt war ihr endgültig klar, dass sie weder Fisch, noch Fleisch war. Irgendeine Chimäre aus Vampir und Mensch. Vielleicht war es das, was Knall und Blitz als Ergebnis der Berührung der beiden bewirkt hatten. Sie hatten beide Sziedeynas zu einer verschmolzen und damit auch ihre Eigenschaften, was sich einer Erklärung nach bisherigen Erkenntnissen der Wissenschaft komplett entziehen mochte.

Sie spürte nun, da sich alles etwas gesetzt hatte, auch leichten Hunger. Sowohl auf herkömmliche Nahrung wie auch auf... Blut. Beides war präsent, aber nicht mehr so vordergründig. Sie stellte sich Blut jetzt eher einfach lecker vor, wie einen Nachtisch. Sie hatte jetzt wohl viel an sich zu entdecken. Wie sie wirklich funktionierte und was sie wirklich brauchte. Wo nun ihre Stärken und Schwächen lagen. Und vor allem: Wo sie nun hingehörte.

Es war lange her, dass sie Speck mit Eiern gegessen hatte. Ihr häufigstes Frühstück vor diesen unglaublichen Ereignissen, die mit einem Traum begannen. Sie wartete bis zum späten Nachmittag und nutzte die Zeit für weitere Reflexion ihrer Situation. Zu dieser Zeit waren auf dem Marktplatz noch Händler, aber die Sonne stand nicht mehr so hoch am Himmel. Sie wollte schauen, ob sie wirklich bis zur Nacht warten musste, um das Haus sicher verlassen zu können, oder ob sie dies vielleicht auch etwas früher tun konnte. Sie begutachtete ihre Hand, die inzwischen fast vollständig geheilt war. Nur noch etwas Rötung war zu erkennen. Selbstregenerierung hatte sie also, bloß längst nicht so schnell und effektiv wie es bei ihr als vollständige Vampirin der Fall gewesen war.

Vorsichtig streckte sie nun wieder ihre Hand aus und hielt sie zwischen Vorhang und Fenster. Sie schien Recht zu behalten. Das Licht war nun nicht mehr intensiv genug, um ihr unmittelbar zu schaden. Zur Sicherheit entschied sie sich, den Mantel mit Kapuze anzuziehen, bevor sie rausging. Aber sie wollte bei diesem Gang zum Markt auch herausfinden, wo ihre Grenze lag. Auf dem Weg zum Markt zog sie daher immer wieder kurz die Kapuze nach hinten. Es schien ihr nicht zu schaden. Also war es wirklich vor allem die Mittagssonne, die für sie problematisch war.

Am Markt angekommen, erblickte sie sogleich den Händler, bei dem sie vor kurzem noch die Blutwürste gekauft hatte. Der Gedanke an die Würste war verlockend, aber sie entschied sich dennoch für den Speck und ein paar Eier. Die Interaktion mit dem Händler verlief ganz normal. Sie schien in der Stadt nicht weiter aufzufallen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht mehr zerrissen. Als hätte die Welt nie vorgehabt, sie ganz auf die eine oder andere Seite fallen zu lassen.

Eines war ihr jedoch aufgefallen. Es war, als spürte sie etwas bei der Interaktion mit dem Händler. So als hatte sie diffus Gefühle wahrnehmen können. Als der Händler sie erblickte, erfasste sie der Hauch einer freudigen Stimmung, als hatte sie spüren können, dass der Händler sich über eine weitere Kundin gefreut hatte. Hatte sie hier auch eine besondere Fähigkeit, die zwar nicht so potent wie bei einem normalen Vampir war, jedoch über das, was ein Mensch wahrnehmen konnte, hinausging?

Sziedeyna fragte sich nun, ob sie nicht nur Emotionen spüren, sondern diese auch beeinflussen konnte. Sie sah einen kleinen Jungen auf einer Bank sitzen, der vermutlich auf jemanden wartete. Sie setzte sich daneben. Der Junge lächelte ihr zu und sie zurück. Vom Jungen ging ein Gefühl von kindlicher Unschuld aus. Jetzt begann ihr Experiment: Sie versuchte, dem Jungen über schiere Gedankenkraft Angst zu machen. Sein Blick veränderte sich. Sie spürte Unsicherheit in ihm aufsteigen und er schaute sie mit einem seltsamen Blick an. Danach fing er an zu weinen und lief davon. Sie hatte das nicht unbedingt gewollt, aber gerade war ihr nichts anderes eingefallen und er würde sich sicherlich bald davon erholt haben. Sie wusste jetzt jedenfalls, dass sie gewisse Kräfte besaß, wenn auch nicht auf dem Niveau ihres früheren Vampirdaseins.

Für sie stand jetzt fest: Sie schien eine schwächere Form eines Vampirs zu sein. Ihre Schwächen fielen dadurch geringer aus. Sie war nicht ganz so empfindlich gegenüber Sonnenlicht. Am späten Nachmittag konnte sie bereits der Sonne standhalten. Mittags jedoch war es ihr unmöglich, ohne Schutzmaßnahmen vor die Tür zu gehen. Ihre Stärken fielen ebenfalls geringer aus als bei einem Normalen Vampir. Sie konnte ihre Verletzungen regenerieren, aber viel langsamer. Sie konnte Emotionen diffus wahrnehmen und beeinflussen, aber sicher niemanden in Trance versetzen oder ihn gar ganz psychisch kontrollieren.

Auf eigenartige Weise fühlte sie sich jedoch jetzt irgendwie ganz. So als hätte die kosmische Ordnung immer schon danach gestrebt, dass sie so ist, wie sie nun ist. Nicht ganz Vampir, aber auch nicht mehr ganz Mensch.

So ging sie mit einem zufriedenen Gefühl nach Hause, lagerte den Speck und die Eier im Keller ein und briet sich endlich wieder ihren geliebten Speck mit Eiern. Das war nun ihr letzter Test: Vertrug sie das Essen? Ja, sie konnte es essen, aber irgendwie schmeckte es etwas fade. Etwas fehlte. War etwas mit dem Essen nicht in Ordnung? Nein, der Speck sah gut aus und roch normal. Die Eier waren ebenfalls frisch und so wie man es erwartet. Lag es an ihr? Vielleicht war es das Ergebnis der Fusion. Vampire aßen keine herkömmliche Nahrung mehr. Sie tranken ausschließlich Blut. Deswegen hatte sich ihr Geschmacksempfinden gegenüber herkömmlicher Nahrung möglicherweise abgeschwächt.

Blut... den Gedanken daran empfand Sziedeyna schon als schön. Aber sie war diesmal bestimmt nicht gierig genug, um Dummheiten dafür anzustellen. Sie wollte sich etwas überlegen, wie sie an Blut kommen konnte, ohne dass es für sie ein Risiko darstellte und wieder unschuldige Personen dafür sterben mussten. Bis dahin hielt sie es mit Speck und Eiern aus, auch wenn diese nicht mehr so schmeckten wie früher.

Ins Bett ging Sziedeyna von nun an am frühen Morgen, bevor die Sonne ihre Kraft entfalten würde. Sie schlief dann, und ja, sie schlief tatsächlich und hatte auch Träume, bis nachmittags und begann den Tag außer Haus am späten Nachmittag bis frühen Abend, sodass ihr die Sonne nicht mehr schadete.

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Re: Sziedeyna

Beitrag von Sziedeyna »

Sziedeynas Fusion war ein hochkomplexer Prozess, der sich zwar von jetzt auf gleich mit einem lauten Knallblitz vollzogen hatte, aber die Integration beider Persönlichkeiten war damit nicht direkt abgeschlossen. Es war zuerst wie ein Wechsel. Sie hatte Glück, dass ihre Leben so ähnlich waren, sonst wäre sie wahrscheinlich verrückt geworden oder hätte gedacht, sie wäre es. Mal dominierte die vampirische Sziedeyna, mal die menschliche. Vor allem Erinnerungen waren zunächst nebulös oder sehr selektiv, inwieweit sie sich zeigten. Beispielsweise konnte es bei lieber verdrängten schmerzhaften Erinnerungen länger dauern, bis sie wieder in Sziedeynas Bewusstsein drangen.

Doch jetzt erinnerte sich Sziedeyna an etwas, das zuletzt ihre vampirische Version in größtes Leid gestürzt hatte: Ancanagars Tod. Aber als der Schmerz des als unendlich empfundenen Verlusts zurückkehren wollte, stieß die Erinnerung der menschlichen Version dazu und verriet Sziedeyna, dass es in dieser Welt eine lebendige Ancanagar gab, oder besser gesagt, eine Ancanagar, die noch existierte und nicht vernichtet war.

Diese verzögerte Fusion ihrer Gedanken ließ Sziedeyna aufschrecken. Mit weit geöffneten Augen rief sie:

"Wo ist sie?!"

Sie saß dabei auf dem Boden in ihrem kleinen Haus. Ihr fielen dann zwei Orte ein, an denen sie nach Ancanagar suchen konnte: Sie konnte den Turm nordwestlich des Schwarzsteingebirges aufsuchen, in der ihr vampirisches Selbst sie einst getroffen hatte und wo sie selbst zur Vampirin gemacht worden war, kurz bevor ihr Ancanagar wieder schmerzlich entrissen worden war. Der andere Ort mochte Baretis Taverne auf Moonglow gewesen sein, wo ihr menschliches Selbst ihr begegnet war, noch ganz ohne ein Wissen, wer bzw. was sie eigentlich war.

Aber wie würde Ancanagar, diese Ancanagar, auf sie reagieren? Sie würde sich nur an die menschliche Sziedeyna erinnern und der bisherige Kontakte hatte nicht viel hergemacht. Was würde passieren, wenn Sziedeyna vor ihr stand und die Erinnerungen aus der Paralellwelt sie überfluteten, während Ancanagar vielleicht nichts mit ihr zu tun haben wollte? Diese Gedanken verunsicherten Sziedeyna sehr und hielten sie eine Weile in ihrem Kopf gefangen.

Aber sie wusste, dass sie es versuchen musste, egal, was am Ende daraus würde. Sie entschied sich für den Turm. Er hatte einfach mehr emotionale Bedeutung für sie. Und dort wäre sie auch ungestört mit ihr, anders als in der belebten Taverne. Es musste auch nicht jeder mitbekommen. Es wäre zwar der sicherere Ort gewesen, aber Sziedeyna wollte das Risiko eingehen. Den Turm empfand sie plötzlich wie ein zweites Zuhause, auch wenn dort vielleicht im Extremfall der Tod auf sie wartete. Sie dachte an das weiche Bett, in dem sie und Ancanagar so schöne Momente miteinander verbracht hatten.

Und so machte sie sich bald auf den Weg, mit Angst und Hoffnung im Herzen.

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Entführung

Beitrag von Sziedeyna »

Sziedeyna nach der Fusion: Ein Psychogramm
Zwei Sziedeynas. Eine war inzwischen Vampirin geworden. Die andere ist Mensch geblieben. Jetzt waren sie eins, und doch nicht. In einem Kopf existierten beide, ineinander verwoben, aber dennoch nicht ganz zu einer Einheit verschmolzen. Beide Sziedeynas hatten ganz anders mit der Schuld umzugehen. Während die Menschliche davon befreit war, geschah dies auf Kosten der Vampirischen, die nicht zuletzt deswegen auch den Vampirkuss als eine Art Absolution empfangen hatte. Diese beiden Lebensrealitäten waren jetzt in einen gemeinsamen Raum gezwungen worden. Sie waren wie Zwillinge, die sich lange nicht gesehen und sich daher in unterschiedliche Richtungen entwickelt, aber gleichzeitig so viel gemeinsam hatten.

In Sziedeyna entstand ein Wir aus den beiden Ichs in den Wochen und Monaten nach der Fusion. Sie hielten Zwiesprache, tauschten sich aus, unbewusst wie bewusst. Manchmal fand der Dialog eher im Hintergrund statt, auch in Träumen. Manchmal aber sprachen sie auch direkt miteinander und das war für sie eine außergewöhnliche Erfahrung. Die Fusion manifestierte sich eher im Austausch zweier Wesen, in einer Art zwillinghafter Verbundenheit, als in einer vollen Verschmelzung zu einer Einzelidentät. So war es Sziedeyna auch noch möglich, klar zu trennen zwischen den Erinnerungen der einen und der anderen.

Manchmal passierte es, da rutschte Sziedeyna im Gespräch mit anderen ein "wir" heraus. Manchmal fing sie es noch sofort wieder ein wie in "wi...ich". Und manchmal merkte sie gar nicht, wenn sie von "wir" sprach. Die meiste Zeit nutzte sie jedoch die Ich-Form, auch weil oft eine Sziedeyna gerade im Vordergrund war und den Impuls gab.
Sziedeynas Zustand als Halbvampirin war für sie inzwischen zur Normalität geworden. Die regelmäßigen Besuche bei Ancanagar in ihrem Turm gaben ihrem Leben zudem Struktur. Ancanagar hatte sie als ihr Kind angenommen. Die vampirische Blutsverbindung, die sie zweifelsfrei stark bei Sziedeyna spürte, war sicherlich maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass sich beide überhaupt so annähern konnten. Sziedeyna fühlte sich bei Ancanagar wohl, die ihr durch ihre bloße Präsenz ein Gefühl von Geborgenheit gab. Bei ihr war Sziedeyna wie ausgewechselt. Sonst eher zurückhaltend und stets unterkühlt wirkend, konnte Sziedeyna sich selbst nicht ganz erklären, warum sie in Ancanagars Gegenwart so aufblühte. Eines hatte sie sich geschworen: Sie würde alles tun, um Ancanagar nicht wieder zu verlieren. Diese zweite Chance sah sie als Wink des Schicksals, die sie heiligte. Zu groß war vor über einem Jahr der Schmerz ihres abrupten Verlustes gewesen. Sziedeynas Gefühle gegenüber Ananagar gingen tief. Was dabei die vampirische Verbindung war und was darüber hinaus ging, vermochte sie nicht zu sagen.

Sziedeyna war wieder auf dem Weg von Britain zu Ancanagars Turm nordwestlich des Schwarzsteingebirges. Der Mond stand hoch am Himmel und die Sterne wurden nur von wenigen Wolken verdeckt. Da knackte es plötzlich im Unterholz. Sziedeyna dachte zunächst an ein Tier und ging weiter. Aber als ein weiteres Knacken von der anderen Seite an ihr Ohr drang, wurde sie hellhörig. Sie blieb stehen und musterte aufmerksam den Wald, der sich links und rechts des Weges von ihr befand. Da begannen sich plötzlich mehrere Gestalten aus dem Dickicht zu schälen und sie zu umzingeln. Nun wusste sie, dass dies ein Anschlag auf sie war. Die Gestalten zogen Waffen und richteten sie von allen Seiten auf Sziedeyna, die sich unsicher umblickte und drehte, ohne einen klaren Angriffsvektor zu finden, um dieser Situation zu entkommen.

Dann kam aus dem Wald eine weitere Gestalt hinzu. Sie trug eine Robe und hielt einen Stab mit einem filigran verzierten und geschmückten Totenschädel an dessen oberem Ende. Sie riss den Stab in die Höhe und begann etwas mit sonorer Stimme zu murmeln. Die Worte wurden lauter und Sziedeyna spürte nur, wie ihr schwarz vor Augen wurde.

Als sie wieder ihr Bewusstsein erlangte, merkte sie zuerst, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war in senkrechter Lage durch Metallschellen an Füßen und Händen, sowie an der Taille auf hölzernen Balken in Kreuzform fixiert. Angst stieg in ihr auf. Sie musterte den Raum, in dem sie allein war. Es schien so etwas wie ein Labor zu sein. Mehrere Tische und Schränke, ein Seziertisch. Es hing chirurgisches Besteck an den Wänden, alchimistische Gebräue köchelten, die dem Raum einen chemischen Gestank verliehen. Es gab keine Fenster. Sziedeyna fühlte sich wie begraben. Sie ahnte, dass ihr hier nichts Gutes blühen würde. Aber sie wusste nicht, wer sie entführt hatte und aus welchem Grund. Was wollten sie von ihr? Was hatte sie zu befürchten?

Eine Weile in diesem Zustand gefangen öffnete sich irgendwann die schwere schwarze Holztür des Labors. Die Holztür erinnerte sie an etwas. Konnte es sein? Und ja, dann bestätigte sich ihr Verdacht. Ein vollbärtiger Mann betrat den Raum, den sie nur zu gut kannte: Thalkor von Schwarzbrunn. Ihr erster Auftraggeber, für den sie schon viele Jahre Aufträge erledigt hatte und zu dem sie auch in den letzten Wochen in ihrer halbvampirischen Form immer wieder Kontakt gehabt hatte.

Sziedeyna schaute ihn ungläubig an. "Thalkor...?" Der Mann betrachtete sie kühl. "Es ist nichts Persönliches, Mädchen. Aber was aus dir geworden ist, muss untersucht werden, verstehst du? Du glaubst doch nicht, dass mir das verborgen geblieben ist." In Sziedeyna stieg Panik empor. Sie wusste, dass Thalkor ein Schwarzmagier und Nekromant war, auch wenn er es ihr nie direkt verraten hatte. Aber die Reagenzien, die sie ihm immer wieder besorgen sollte, sprachen für sich. Und dass er offenbar über große magische Fähigkeiten verfügte, hatte sie auch daran gemerkt, dass er sich immer völlig unbemerkt hinter ihr manifestieren konnte, auch noch als sie ihre vampirischen Sinne durch die Fusion erhalten hatte.

Sie fragte ihn unsicher: "Was habt ihr mit mir vor?" Sie ruckte an den Fesseln und schaute sich suchend im Raum um, ohne Wirkung. Die Fesseln konnten offenbar ohne Probleme einen Vampir halten. Dann schaute sie ihn wieder an. Thalkor fuhr unbeeindruckt fort: "Nun, du bist etwas Besonderes. Warst es nicht immer, aber jetzt bist du es. Warum?" Seine Augen funkelten sie an. Sziedeyna fand in ihrem Zustand kaum klare Gedanken, aber brachte dann doch eine Antwort zustande, die sie eher stammelte: "Ich... weiß nicht, es... ist einfach passiert... Erst waren wir zwei... dann eine."

Thalkor hörte ihr interessiert zu. "Zwei? Dann eine? Sprich weiter!" Sein Tonfall wurde fordernder und verlor die vorige Ruhe. Sziedeyna fuhr fort: "Vampirin und Mensch, nun sind wir eins... so schätze ich." Sie schaute ihn an, als ob sie ihm gerade ihr tiefstes Geheimnis offenbart hätte und sich dadurch nun besonders verwundbar gemacht hatte. Aber sie hatte eine Ahnung, dass er ihr eh keine Wahl lassen würde, wenn sie sich zierte.

"Lebend und tot...", entfuhr es Thalkor, der sie musternd betrachtete und dabei seinen pechschwarzen Bart massierte. "Du bist eine Anomalie, ist dir das eigentlich klar? So etwas wie dich dürfte es eigentlich gar nicht geben. Aber dass es dich gibt, das ist eine Sensation. Und eine, die ich exklusiv erforschen und den bestmöglichen Nutzen daraus ziehen werde. Wie gesagt, ist nicht persönlich. Du warst immer sehr nützlich für mich, aber jetzt wirst du mir auf ganz neue Weise nützen."

In Sziedeyna machte sich Entsetzen breit. Sie brachte nur ein paar Worte hervor: "Was habt..." Thalkor fuhr ihr ins Wort: "Ich werde dich sezieren, werde dir dein Geheimnis entlocken und ich sage dir gleich, du wirst es wahrscheinlich nicht überleben." Sziedeyna hatte noch nie dieses Gefühl verspürt, das seine Worte in ihr auslösten. Blanke Todesangst. Thalkor sprach weiter: "Ich werde mir überlegen, was ich genau mit dir anstelle. Bis später." Da verschwand er so schnell wie er gekommen war. Die schwarze Tür fiel wieder ins Schloss und Sziedeyna blieb mit dem Geschehenen allein zurück.

Was hatte er mit ihr vor? Was würde er ihr antun? Die Gedanken rasten in ihr. Ihr Herz schlug als wollte es aus ihrer Brust springen. Sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, aber es war nur das Gefühl. Sie blieb bei Bewusstsein, mit diesen quälenden Gedanken, was ihr einstiger Auftraggeber sich wohl für sie ausgedacht hatte. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Keine Chance. Dieser Cocktail aus Todesangst, Panik und körperlicher Überreaktion entfachte einen inneren Sturm, der sie zu verschlingen drohte.

Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging, aber irgendwann ging die schwarze Tür wieder auf und Thalkor kam zurück. Diesmal schloss er die Tür hinter sich, was für sie eine gewisse Endgültigkeit der Situation transportierte. Sie hob den Kopf bei dem Geräusch und schaute Thalkor an. Dieser wandte sich aber von ihr ab und ging zu einem Loch in der Wand. Er pfiff einmal gekonnt in das Loch hinein, da erhellte sich das Loch kurze Zeit später und ein Lichtstrahl trat aus. Dann zog Thalkor eine Apparatur heran und positionierte sie zwischen Sziedeyna und dem Loch. Darauf befanden sich in Höhe des Lochs mehrere Linsen. Er sprach zu ihr: "Siehst du das hier?", und zeigte auf das helle Loch, "das ist Sonnenlicht. Und mit Hilfe dieser Linsen werde ich es bündeln und auf dich lenken, ganz gezielt, da wo ich es hinhaben will. Mal sehen wie du darauf reagierst." In Sziedeyna zog sich alles zusammen. Sonnenlicht war inzwischen für sie zu einer tödlichen Gefahr geworden. Ihr ganzer Lebensrhythmus richtete sich danach, diesem Licht zu entgehen. Sie musste stets aufpassen, früh genug vor der Morgensonne wieder einen Unterschlupf gefunden zu haben. Und jetzt wollte dieser Mann sie damit malträtieren.

Sziedeyna verschluckte sich fast bei den Worten: "Das ist... Folter." Thalkor entgegnete lediglich kühl: "Das ist Forschung. Dafür muss es Opfer geben. Und lass es dir ein Trost sein, du dienst vielleicht einer großen Sache." Sziedeyna schaute ihn nur ungläubig an, in ihrem Blick eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Angst.

Dann begann der Mann damit, die Linsen auszurichten und den Strahl gezielt mit einer Hand zu lenken. Zuerst traf er damit auf Sziedeynas linke Hand. Es begann sofort laut zu zischen und Sziedeyna schrie vor Schmerz. Als Thalkor den Strahl von ihr nahm, kam Sziedeynas verbrannte Hand zum Vorschein. Blasen hatten sich gebildet, das rohe Fleisch war stellenweise zu sehen. Es qualmte. Thalkor betrachtete die Reaktion eher genüsslich und kommentierte: "Aha! Das Sonnenlicht schadet dir also doch. Interessant. Wollen wir mal weitersehen. Ah, ich habe eine Idee!" Sziedeyna wusste nicht, was gerade schlimmer für sie war, der vorhandene Schmerz oder die Angst davor, was noch auf sie zukommen würde.

Thalkor bündelte den Strahl mit Hilfe seiner Apparatur noch enger und zielte nun auf ihr linkes Auge. Sziedeyna zog den Kopf reflexartig zur Seite. "Na! Daran hätte ich auch denken können, einen Augenblick", entfuhr es Thalkor. Er ging zu einem der Schränke und holte einen Lederriemen mit Schnalle hervor und fixierte Sziedeynas Kopf damit. Sziedeyna schrie ihm voller Verzweiflung laut ins Ohr: "Nein, bitte nicht!" Thalkor wich zurück und sagte: "Au! Das war laut. Moment." Er ging zu einer Schublade, zog ein Tuch heraus. Dann ging er wieder zu Sziedeyna. "So, du machst jetzt einmal den Mund auf." Sziedeyna rührte sich nicht. "Muss ich dich erst zwingen? Es hat doch eh keinen Zweck." Daraufhin öffnete Sziedeyna langsam und resigniert den Mund, in den Thalkor dann das Tuch stopfte. "Sodala, jetzt können wir weitermachen."

Sziedeyna starrte ihn nur mit weit geöffneten Augen an. "Ah, du machst das schon ganz richtig", sagte Thalkor und schmunzelte. Danach ging er wieder zur Apparatur und zielte mit dem gebündelten Strahl jetzt auf Sziedeynas linkes Auge, die ihm nun nicht mehr entgehen konnte. Gedämpft drang ihr Schreien durch das Tuch in ihrem Mund, während der Strahl auf ihrem Auge verweilte und sich allmählich durch den gesamten Schädel bohrte, bis er hinten wieder austrat. Wo eben noch ein Auge war, war nun nur noch ein Loch. Es roch verbrannt und kurz bevor Sziedeynas Schädel in Flammen aufzugehen drohte, stoppte Thalkor den Strahl. Sziedeyna war nicht mehr ansprechbar, der Schock zu groß, die Schmerzen unvorstellbar. "So, jetzt warten wir mal ab", sprach Thalkor eher zu sich selbst.

Während der Schwarzmagier Sziedeynas Loch im Schädel genau beobachtete, wurde er Zeuge ihrer vampirischen Regenerationsfähigkeit. Ganz langsam wuchs das Loch wieder zu und ein neuer Augapfel formierte sich in der Höhle. Sziedeyna kam allmählich wieder zu Bewusstsein. Thalkor wirkte amüsiert. "Formidabel! Anscheinend ganz die Vampirin. Keine besonderen Resistenzen gegenüber Sonnenlicht. Beinahe wärst du mir abgeraucht." Er schmunzelte ihr zu und notierte etwas in sein Notizbuch. Dann widmete er sich wieder Sziedeyna. "Dann wollen wir uns mal deine menschliche Seite vornehmen. Die ist hier noch am Interessantesten, da bin ich sicher", sprach er in einem für die Situation völlig unangemessen heiteren Tonfall.

Thalkor trat an Sziedeyna heran und beugte sich mit seinem Ohr zu ihrer Brust. "Ah, ich höre es. Bup, bup. Und so schnell. Wie im Galopp." Er ging wieder zu einer Schublade und musterte kurz den Inhalt. Daraufhin nahm er einen Dolch heraus und ging damit wieder zu Sziedeyna. "Was passiert, wenn dein Herz zum Stillstand kommt?", fragte er sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Er legte sein Ohr wieder an ihre Brust. "Oh, noch schneller als eben." Dann trat er einen Schritt zurück, setzte die Dolchspitze auf ihrem Brustkorb ab und schob die Spitze langsam bis zum Anschlag in Sziedeynas Herz. Wieder dämpfte das Tuch in ihrem Mund den gequälten Schrei, der aus ihr hervorging. Sziedeyna merkte, wie ihr Blutkreislauf langsam zum Stillstand kam. Es fühlte sich an wie Ersticken, wie etwas, das ihr langsam aber sicher das Leben nahm. Und sie verlor das Bewusstsein.

Thalkor zog den Dolch wieder heraus und wartete ab, die leblose Sziedeyna betrachtend. Nach einer Weile regte sich in Sziedeyna wieder etwas. Tief nach Luft schnappend kam sie abrupt wieder ins Leben zurück. Thalkor reagierte prompt: "Ich bin begeistert! Faszinierend. Wenn meine Theorie stimmt..." Er ging nun wieder mit dem Ohr an Sziedeynas Brust und lauschte. "Bup, bup. Da ist es wieder." Sziedeyna starrte nur noch resigniert mit leeren Augen an ihm vorbei. "Aber was wenn...", murmelte Thalkor dann vor sich hin, und fuhr fort: "Was wenn die vampirische Regeneration versagt? Das wird die letzte Prüfung. Und ich muss dir leider sagen, Mädchen, das wird weh tun." Sziedeyna reagierte kaum noch. Sie war innerlich gebrochen, auch wenn ihr Körper wieder intakt war und Thalkors Behandlung keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte.

"Ich muss dir jetzt so lange weh tun, bis du nicht mehr regenerierst. Das Blut muss verbraucht sein, verstanden?" Sziedeyna regte sich nicht. Thalkor griff wieder zum Dolch und rammte ihn ihr ins Herz. Sie starb, kam wieder zurück, und das wiederholte Thalkor ein Dutzend Male, bis Sziedeyna über kein Blut mehr verfügte, das die Heilung einleiten konnte.

Nachdem sich auch nach einer Weile nichts bei Sziedeyna regte, beschloss der Schwarzmagier, ihr ein paar Stunden zu geben, um dann zu schauen, ob noch etwas passierte. Um aber über alle Veränderungen umgehend informiert zu werden, während er sich Wichtigerem widmete, stellte er eine Wache ab, die Sziedeyna genau beobachten sollte.
Der Moment eines Todes
Als Thalkor Sziedeynas Herz ein letztes Mal stoppte bevor es für immer stillstand, befand sich Sziedeyna nicht nur in einem physischen Ausnahmezustand. Innerlich kämpfte die Vampirische ums Überleben ihrer menschlichen Schwester. Ein Dutzend Male hatte sie ihr nun während Thalkors Folterung das Leben gerettet, aber dann schwand ihr die Kraft. "Ich... kann nicht." "Ich sterbe!" "Nein, geh nicht!" Und dann war auf einmal eine Sziedeyna weg und nur die Vampirische blieb. Voller Verzweiflung über den Verlust ihres Zwillings brach für Sziedeyna alles zusammen, was sogar die bisherigen körperlichen Qualen überschattete. Plötzlich war es ruhig in ihr. Der innere Dialog war Schweigen gewichen. Sie hatten sich erst vergleichsweise kurz gekannt, aber sie waren sich so nah gekommen, als ob sie schon ihr ganzes Leben zusammen erlebt hatten.

Tiefer Schmerz überfiel sie, als sie regungslos in diesem todesähnlichen Zustand verharrte. Nach außen war sie tot. Aber innerlich war es in ihr wie der Morgen nach einem schweren Sturm. Thalkors Taten hatten in ihr eine Trümmerlandschaft hinterlassen. Sie gab auf. Zu schwer der Schaden, der Verlust.

Zwei Stunden vergingen. Sziedeyna wusste nicht mehr, ob sie überhaupt noch existierte, da sie sämtliche sinnliche Verbindung zur Außenwelt gekappt hatte. Sie hätte nicht mehr gemerkt, wenn man sie in Feuer oder in Eiswasser geworfen hätte. Jeder würde sie in diesem Moment für tot gehalten haben.

Doch dann merkte die verbliebene Vampirische plötzlich etwas. Sie... erinnerte sich. Langsam strömten die Erinnerungen der ausgelöschten Menschlichen in sie hinein. Diffus, aber auf Dauer raumfüllend, spürte sie wie die Menschliche Teil von ihr wurde, oder genauer gesagt, der Abdruck ihrer einstigen Existenz. Sie behielt also etwas von ihr, nein, sie wurde zu ihr, aber blieb dabei auch sie selbst. Jetzt kam die Fusion zur Vollendung. Die Erinnerungen zweier Leben wurden jetzt eins. Wer war Sziedeyna nun? Beide, nun untrennbar, undifferenzierbar, eine Identität.

Somit war die ehemals Menschliche nicht ganz gestorben, nur transformiert. Genau so transformiert wie die, die schon ein Jahr Vampirin gewesen war. Ob diese tot war oder "lebte", das war Auslegungssache. Tatsache war aber, dass sie beide fortexistierten. Nur die Zwiesprache zwischen ihnen wich einem inneren Monolog.

Sziedeynas Natur hatte sich nun zu einer reinen Vampirin ohne lebenden Anteil gewandelt. Dies machte sie immun gegen die Folterung ihres Herzens, auf dessen Schlagen sie nun nicht länger angewiesen war. Sie war nun stärker als vorher. Dadurch fasste sie neuen Mut und lenkte ihre Sinne nun wieder nach außen.
Die Wache saß vor ihr und empfand offenbar große Langeweile, der Leiche zuzuschauen. Er gähnte ein paar Mal, bis sich endlich etwas in Sziedeynas totem Leib regte. Sie öffnete die Augen, hob langsam den Kopf, und sah den Wachmann, der ihr gerade keine Aufmerksamkeit schenkte, sondern mehr mit seinem Ärmel beschäftigt war, an dem er Essensreste entdeckt hatte, und erneut gähnte.

Sziedeyna war verändert. Ihr lebendiger Anteil war für immer verloren gegangen. Sie war keine Halbvampirin mehr. Ihr untoter Anteil hatte sie in den letzten Stunden komplett übernommen und in diesem Sterbeprozess einen Rest Energie aus dem lebenden Anteil gezogen. Ohne wirklich bewusst zu planen, reagierte hier ihr Instinkt. Sie sah ihre wohl einzige Chance gekommen. Sie hatte sich eigentlich schon der ausweglosen Lage hingegeben. Die grausamen Misshandlungen hatten sie gebrochen. Aber jetzt regte sich in ihr auf einmal eine ungeahnte Kraft. Sie wollte... überleben.

Sziedeynas Gedanken fokussierten sich auf den Kopf des Mannes, umtasteten ihn, bis sie schließlich in seine eindrangen. Der Mann schaute dann zu ihr, begriff aber gar nicht, was mit ihm passierte. Sziedeyna konzentrierte all ihre Gedanken darauf, ihm diesen einen Gedanken einzupflanzen, der aus nur drei Worten bestand: "Mach. Mich. Los." Da wirkte der Mann plötzlich wie in Trance, bewegte sich zu Sziedeyna hin und löste nach und nach ihre Fesseln. Als er sie befreit hatte, ließ Sziedeyna keine unnötige Zeit verstreichen. Sie zog sich das Tuch aus dem Mund, packte den Mann mit ihrer letzten Kraft und trieb ihre ausgefahrenen Eckzähne in seinen Hals. In einem Wirbel aus Schmerz, Hass und Trauma ließ sie nicht wieder von ihm ab, ehe sie den letzten Tropfen Blut aus ihm heraus und in sich hinein gesaugt hatte. Mit neuer Kraft betankt ging sie zur schweren schwarzen Tür, öffnete sie mit Leichtigkeit und entkam dem Labor, das für sie zu einem Folterkeller geworden war.

Auf dem Weg nach oben begegnete ihr niemand. Draußen war inzwischen die Abenddämmerung hereingebrochen. Sziedeyna hätte einfach fliehen können, aber etwas in ihr wollte Rache. Thalkor hatte ihr unendliches Leid angetan und wenn sie jetzt einfach floh, würde dieser Albtraum von Mann, der einst ihr zuverlässiger Auftraggeber gewesen war und dem sie ihre Kriegerkarriere verdankte, weiterhin in der Welt existieren und sie wahrscheinlich weiter jagen, nur um sie weiteren Experimenten zu unterziehen. Dazu konnte sie es nicht kommen lassen. Nahezu lautlos huschte sie durch das Gebäude und befand sich nach kurzer Zeit im ersten Stock vor dem Raum, in dem sie Thalkor mit ihren vampirischen Sinnen erspürte. Denn trotz seiner Abscheulichkeit war er am Ende doch nur ein Mensch. Sie klopfte an die Tür. Thalkor antwortete mit ruhiger Stimme über sein Notizbuch gebeugt mit einer Schreibfeder in der Hand: "Was gibt es? Ist etwas mit ihr passiert?" Sziedeyna blieb stumm.

Nach kurzer Zeit hörte Sziedeyna Thalkor vom Stuhl aufstehen und zur Tür gehen. Als er sie öffnete, geschah alles blitzschnell, sodass sogar ein Magier wie er keine Chance hatte. Sziedeyna stieß mit ihrer ganzen Kraft die Tür auf, Thalkor taumelte zurück und knallte gegen ein Bücherregal. Sofort sprang ihm Sziedeyna nach und drückte ihn zu Boden. Der Magier war nicht in der Lage, zu reagieren. Und Sziedeyna gab ihm auch keine Gelegenheit mehr dazu. Mit dem Blick ihres Folterers konfrontiert stieg in ihr eine gnadenlose Wut auf und ihr Gesicht wurde zu einer hasserfüllten Fratze. Sie packte seinen Kopf mit beiden Händen und schlug ihn immer wieder gegen die Kante des Bücherregals, die sich mit der Zeit immer mehr in Blut tränkte. Auch als der Schädelknochen des Magiers bereits knackend nachgab, machte Sziedeyna noch eine Weile weiter, bis sie endlich zum Stillstand kam. Da lag er nun, Thalkor von Schwarzbrunn, tot, endlich tot.

Als die leeren Augen sie noch immer anzustarren schienen, wendete sie den Blick ab, verharrte aber zunächst noch in ihrer Position. Sie brauchte einen Moment, um aus diesem akuten mentalen Ausnahmezustand wieder rauszukommen. Dann richtete Sziedeyna sich langsam auf und verließ kurz darauf das Haus ohne weitere Zwischenfälle. Das restliche Wachpersonal, das in einem anderen Raum im Erdgeschoss offenbar alkoholisiert und laut Karten spielte, beachtete sie nicht weiter. Sie waren nur Erfüllungsgehilfen und ihren Auftrag hatten sie nun verloren, das würden sie früher oder später merken.

Sziedeyna rannte los. Nur weg von diesem Ort. Irgendwann kam sie zum Stehen. Erst jetzt konnten ihre Gedanken nach den Geschehnissen etwas aufholen. Erst jetzt konnte sie sich damit beschäftigen, was ihr passiert und was aus ihr geworden war. Ihr lebender Anteil war verloren, ausgelöscht, weil ein skrupelloser Mann in ihr lediglich Experimentiermaterial gesehen hatte. Wie fühlte sie sich jetzt? Es war ihr irgendwie vertraut, zumindest teilweise. Sziedeyna fühlte sich an ihre Zeit als Vampirin in der Parallelwelt vor der Fusion erinnert. Aber da war mehr. Jetzt war auch der geistige Abdruck der vor kurzem noch lebenden Sziedeyna Teil ihrer nun vollständigen Vampirnatur geworden. Nun war auch der zweite Teil ihrer Seele aus ihr gewichen und zurück blieb ein Wesen, das sich erneut finden musste.
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Sziedeyna
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Fahrendes Volk

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Irgendwann setzte sich Sziedeyna wieder in Bewegung und ging eher ohne Ziel los. Zur verirrt waren ihre Gedanken zu diesem Zeitpunkt. In einiger Ferne machte Sziedeyna nach einer Weile Lichter im Wald aus, die normale Augen wohl kaum wahrgenommen hätten. Sie ging darauf zu und fand bald ein Lager fahrenden Volks, das in einer Lichtung kampierte. Im Zentrum loderte ein großes Feuer, das umstellt war von mehreren verschiedenfarbigen Wagen. Sie blieb in einigem Abstand stehen und beobachtete das Lager. Stimmen drangen an ihr Ohr. Sie sah mehrere Personen, die sich unterhielten.

In ihrem Zustand war ihr nicht gerade nach Gesellschaft, allerdings auch nicht danach, mit ihren quälenden Gedanken allein zu sein. Nach der vollen Blutmahlzeit von vorhin war Hunger für sie gerade nichts, das ihre Gedanken beherrschte, und das würde auch noch eine Weile so bleiben. So wagte sie es und näherte sich. Als sie sich aus dem Schatten der Umgebung schälte, bemerkten die anwesenden Leute sie schnell. Ihre Blicke wandten sich Sziedeyna zu, skeptisch den Neuankömmling musternd, der zu einer ungewöhnlichen Zeit ihr Lager aufsuchte. Sziedeyna näherte sich ihnen und blieb dann einige Schritt vom Feuer entfernt stehen.

Als die Leute ihr seltsame Blicke zuwarfen, merkte sie erst, dass sie gar keine richtige Kleidung trug, sondern nur eine Art Nachthemd, das zudem durch die Experimente ziemlich mitgenommen aussah. Bei ihrer linken Brust war der Stoff völlig durchlöchert und blutüberströmt. Sziedeyna schaute an sich herunter und schämte sich in dem Moment. Dann hob sie den Blick wieder und schaute die Umstehenden an. Einer von ihnen durchbrach die Wortstille: "Brauchst du Hilfe?" Sziedeyna schaute dem Mann eine Weile in die Augen, bis sie lediglich ein sachtes Nicken zustande brachte.

Der Mann rief einer der anwesenden Frauen zu: "He, Hailey, du hast doch sicher für diese junge Dame etwas zum Anziehen, oder?" Die Frau musterte Sziedeyna und nickte ihm dann zu. "Klar, sie soll mal mitkommen." Hailey deutete Sziedeyna an, mit in ihren Wagen zu kommen und Sziedeyna folgte ihr langsam, noch immer nicht ganz geistig anwesend, als würde das Vergangene zu viel ihrer mentalen Kapazität beanspruchen.

Im Wagen musterte die Frau Sziedeyna erneut und suchte ihr dann einen dunklen Rock und eine dazu passende ärmellose Bluse raus. Sie wollte ihr auch gerade eine warme Decke dazu geben, aber Sziedeyna winkte kaum merklich ab und sagte leise, kaum hörbar: "Mir... ist nicht kalt." Hailey wunderte sich etwas ob dieser Worte, legte die Decke aber dann beiseite. Sziedeyna zog sich vor ihr um und beide verließen kurz darauf wieder den Wagen und gingen zu den anderen ans Feuer. Hailey bot ihr einen Platz auf dem Baumstamm vor dem Feuer an und Sziedeyna setzte sich darauf, mit leeren Augen ins Feuer starrend.

Einer der Männer sagte schließlich: "Vielleicht sollte Rona sie sich mal ansehen. Mir scheint, ihr hat es nicht nur an Kleidern gemangelt. Was meint ihr?" Die anderen schauten sich gegenseitig an und nickten dann langsam. "Ja, vielleicht", sagte einer von ihnen. "He, wie heißt du eigentlich, Unbekannte mit den dunkelroten Haaren? Ich bin Geoffrey.", entfuhr es schließlich dem Mann, der schon Hailey nach Kleidern für Sziedeyna gefragt hatte. Sziedeyna brauchte einen Moment, um ihren Blick vom hypnotischen Tanz der knisternden Flammern zu lösen, und ihn auf Geoffrey zu richten. Sie zögerte noch kurz, aber brachte dann leise und gebrochen ihren Namen heraus: "Sziedeyna." Geoffrey fuhr fort: "Dann willkommen in unserem bescheidenen Heim, Sziedeyna. Wir helfen gerne jedem in Not. Und du siehst aus als ob du Hilfe gebrauchen könntest. Was ist denn mit dir passiert?"

Sziedeyna zuckte zusammen bei dieser Frage, da sie sie unweigerlich wieder direkt in ihre Erinnerungen zurückbrachte. Sie brachte kein Wort heraus. "Definitiv ein Fall für Rona", sagte Hailey. Sziedeyna schaute Hailey den Kopf langsam drehend an. Hailey führte weiter aus: "Ja, Rona, sie lebt in dem Wagen dort." Sie zeigte auf den grünen Wagen, in dessen Richtung Sziedeyna eh von ihrem Sitzplatz am Feuer schaute. "Sie kann dir bestimmt helfen. Sprich einfach mit ihr." Sziedeyna schaute wieder zu Hailey. Diese legte nach: "Du kannst jetzt zu ihr gehen, wenn du magst." Sziedeyna zögerte noch einen Moment, als wüsste sie nicht genau, was sie tun sollte. Wer war diese Rona und wie konnte sie ihr helfen?

Nach einer Weile stand Sziedeyna langsam auf und ging zum grünen Wagen. Sie schaute durch den Eingang, bevor sie die kleinen Leiterstufen hochging und schließlich im Wagen stand. Sie blickte sich um. Niemand da. Sie sah ein altes Bett, Bücherregale, eine Kommode mit Blumentopf, und einen gemütlichen Sessel mit einer... Kristallkugel daneben. Sziedeyna hatte von so etwas schon mal gehört. War Rona eine Wahrsagerin, eine Hellseherin? Gab es so etwas wirklich? Aber wo war sie denn überhaupt, diese Rona? Die anderen hatten doch gesagt, sie wäre da. Aber Sziedeyna sah niemanden. In dem Moment aber, als sich Sziedeyna gerade umgedreht hatte, um den Wagen wieder zu verlassen, sprach plötzlich eine sanfte Frauenstimme zu ihr: "Bleib hier, Kind. Du bist hier richtig." Sziedeyna erschrak. Schon wieder jemand, der einfach hinter ihr auftauchte, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie drehte sich abrupt um und erblickte in dem Sessel nun eine Frau, die Rona sein musste. Mit der Überraschung im Gesicht geschrieben fragte Sziedeyna leise: "Rona?" Die Frau antwortete mit sanfter Stimme. "Ja, manche nennen mich Rona. Du kannst das auch tun." Sziedeyna stutzte kurz und schaute sie nur an, nicht so recht wissend, was sie mit dieser Rona nun anfangen sollte.

"Komm her", Rona deutete ihr mit einer Geste an, sich ihr zu nähern, "ich möchte dich sehen." Sziedeyna folgte ihrer Aufforderung mit fragendem Blick. "Gib mir deine Hand." Sziedeyna zögerte. "Deine Hand, es tut nicht weh." Rona schmunzelte kurz. Sziedeyna schaute sie nur unsicher an, wohlwissend, dass die Kälte ihres Körpers ihre Natur verraten könnte. Aber gleichzeitig hatte sie auch ein seltsames Vertrauen zu dieser Frau. Sie hatte eine warme Ausstrahlung, die vielleicht mehr andeutete als man es bei einem gewöhnlichen Menschen erwarten würde. Also reichte Sziedeyna ihr langsam die Hand und Rona umfasste sie mit einem festen Griff. Sziedeyna und Rona zuckten fast gleichzeitig etwas zusammen, als hätte zwischen ihnen ein wortloser Austausch stattgefunden, dabei aber das Ergebnis noch nicht offenbart. Sziedeyna schaute Rona suchend in die Augen, ihre Reaktion beobachtend. Rona blickte ihr wiederum fest in die Augen und nickte kurz. "So ist das also", entfuhr es Rona.

Sziedeyna spürte, dass Rona nun um ihre wahre Natur wusste, hatte aber nicht das Gefühl, hier in Gefahr zu sein oder als solche gesehen zu werden. Sziedeynas Hand weiterhin fest haltend, der Druck war Sziedeyna etwas unangenehm, schloss Rona nun die Augen und konzentrierte sich, während sie ein paar für Sziedeyna unverständliche Silben murmelte. Sziedeyna spürte etwas in ihrem Inneren. Als wäre sie gerade nicht mehr allein mit sich in ihrem Geist. Aber die ruhige Ausstrahlung Ronas ließ Sziedeyna Rona gewähren. In ihrem Zustand sah Sziedeyna vielleicht eine gewisse Chance, dass Rona ihr Leid etwas lindern könnte. Als Rona tiefer in ihr Inneres vordrang, verfinsterte sich Ronas Miene zusehends. Ihre Hand drückte sie nun fester, bis Sziedeyna einen deutlichen Schmerz spürte. Aber sie hielt still und ließ Rona weiter tun, was sie tat.

Schließlich kniff Rona ihre Augen fest zusammen, dass sich ihre Stirn runzelte. Kurz nach dem Höhepunkt des schmerzhaften Drucks auf Sziedeynas Hand reduzierte sie den Druck abrupt wieder und öffnete schlagartig die Augen, welche sofort Sziedeynas Augen fixierten. "Kind, was hat man dir angetan!" Sziedeyna, die nun wusste, dass Rona alles gesehen haben musste, fing in diesem Moment bitterlich an zu weinen. Sie brach vor Rona auf die Knie und spürte, wie sich in ihr etwas Erleichterung breit machte, da sie nun nicht mehr mit dem Erlebten allein war. Rona wartete geduldig und hielt weiterhin Sziedeynas Hand, bis diese wieder aufhörte zu weinen und sich langsam wieder fasste. Sziedeyna blieb auf dem Boden vor Rona sitzen und schaute sie an. "Wer bist du?", fragte Sziedeyna sie dann überrascht. "Ich bin nur eine fahrende Frau, die Dinge sieht." Sziedeyna schaute sie weiter an, mit dieser Antwort nicht all zu viel anzufangen wissend. Dennoch nickte sie dann leicht, ohne den Drang zu verspüren, weiter nachzubohren.

Rona ergriff wieder das Wort: "Mit viel mehr werde ich dir leider nicht helfen können. Ich habe dir etwas des Gewichts abgenommen, aber nur die Zeit kann deine Wunden wirklich heilen, junge Vampirin." Sziedeyna zuckte zusammen, als sie so direkt angesprochen wurde. "Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher." Eine kurze Pause entstand, während dieser Sziedeyna Rona prüfend anschaute. "Solange du dich zu benehmen weißt. Du weißt, was ich meine." Sziedeyna verstand und nickte ihr leicht zu. Dann fragte sie: "Kann ich etwas hierbleiben, bei euch?" Rona nickt ihr zu. "Aber natürlich, solange du willst." Sziedeyna lächelte, hatte sie hier doch so etwas wie einen kleinen sicheren Hafen gefunden. Aber dann stellte Sziedeyna ihr noch eine Frage: "Aber, was wenn...?" Rona schaute sie nun mit ernster Miene an und entgegnete: "Meine Worte waren doch eindeutig, oder nicht?" Sziedeyna nickte und schaute zu Boden. Rona fuhr fort: "Aber was du außerhalb unserer beschaulichen Lagerstätte machst, soll mich nicht interessieren." Sziedeyna nickte abermals. Rona schloss das Gespräch ab: "Dann geh nun, Kind, setz dich ans Feuer, wärme dich und lasse das Geschehene los. Nur so kannst du weitermachen." Sziedeyna stand langsam auf, ihre Hände lösten sich und in dem Moment war Rona plötzlich wieder verschwunden. Sziedeyna wunderte sich nicht mehr wirklich und verließ den grünen Wagen, ging zurück zum Feuer und setzte sich zu den anderen.

Geoffrey fragte sie sogleich: "Und? Hat Rona dir helfen können?" Sziedeyna schaute ihn an und überlegte kurz. "Glaube schon", entfuhr es ihr knapp. "Ich darf etwas hierbleiben." Geoffreys Miene hellte sich auf und er lächelte breit. "Dann herzlich willkommen bei uns. Sag Bescheid, wenn dir etwas fehlt." Sziedeynas Gesicht wies nun den Hauch eines Lächelns auf, das Dankbarkeit andeutete. Hailey mischte sich ein: "Du kannst bei mir schlafen." Sziedeyna wandte den Blick zu ihr und lächelte noch etwas mehr. "Danke für eure Gastfreundschaft", brachte sie leise hervor. "Ich hoffe es stört euch nicht, dass ich eher... nachtaktiv bin", legte Sziedeyna nach. "Soll vorkommen", sagte Geoffrey mit verschmitztem Lächeln und fuhr fort: "Du kannst für uns die Nachtwache übernehmen." Sziedeyna wirkte erleichtert und erwiederte in etwas festerem Tonfall: "Gerne. Nochmals danke für die Gastfreundschaft. Ich bringe mich gerne ein." Geoffrey, Hailey und die anderen warfen ihr ein warmes Lächeln zu und Sziedeyna fühlte sich in dieser illustren Truppe gut aufgehoben.

Sie war wie ein Rabe zwischen lauter bunten Vögeln, die sie nicht ganz einzuordnen wusste. Aber gehört hatte sie von solchen Leuten schon, die man fahrendes Volk nannte. In ihrer alten Heimat waren sie besonders häufig, aber dort schienen sie von der Bevölkerung nicht sonderlich gemocht zu werden, weshalb sie stets auf Abstand blieben. Welches Problem die Bevölkerung mit ihnen hatte, hatte Sziedeyna nie verstanden. Ihr schienen diese Menschen ein besseres Leben zu führen als die Leute in ihrem alten Dorf. Sie waren frei und unabhängig. Sie reisten durch das ganze Land und hatten sicherlich viele spannende Geschichten erlebt. So völlig anders als die Bewohner ihres Dorfes, aus dem sie stammte, die nur jeden Tag den immergleichen Routinen folgten.

Die Bewohner des Lagers legten sich bald schlafen, während Sziedeyna am Feuer sitzen blieb und wieder mit ihren Gedanken allein war. Sie hatte sich etwas beruhigt. Die Gastfreundschaft der Leute und insbesondere Ronas Anteilnahme hatten sie etwas getröstet. Aber sie wusste auch, dass es noch ein langer Weg war, die Geschehnisse wirklich hinter sich zu lassen.

Tagsüber, als Sziedeyna eigentlich schlief, wachte sie immer wieder nach Luft schnappend auf. Hailey kam ihr stets zur Hilfe, wenn sie dies bemerkte, und beruhigte sie wieder. "Es war nur ein Traum, du bist hier sicher. Alles wird gut." Sziedeynas Zustand verbesserte sich auch nach mehreren Tagen kaum. Aber sie war froh, hier immerhin nicht ganz allein zu sein mit sich und ihren Erinnerungen. Sie war dankbar und hielt ihren Zustand, soweit sie konnte, stoisch aus.

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Ein glücklicher Zufall

Beitrag von Sziedeyna »

Inzwischen war es die dritte Nacht, in der Sziedeyna wie besprochen im Lager des fahrenden Volkes die Nachtwache übernahm. Sie saß am Feuer und schaute den tänzelnden Flammenzungen zu. Sie hatten eine seltsame meditative Wirkung auf sie und das Verfolgen mit dem Blick lenkte sie etwas von ihren Erinnerungen ab. Da vernahm sie plötzlich ein unerwartetes Geräusch.

Blitzschnell lokalisierte sie die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie stand auf und verließ das Lager ins umliegende Dunkel dieser Richtung. Sie hörte wieder etwas. Ein leises kaum wahrnehmbares Knacken von Ästen, diesmal etwas näher. Ihre feinen Vampirsinne waren wie ein Frühwarnsysten. Sie konnte auch im Dunkel der Nacht alles erkennen als wäre es taghell. Da sah sie schließlich etwas, oder genauer gesagt, jemanden. Es war ein einzelner Mann, der sich in Richtung des Lagers bewegte und anhand der Körperhaltung eher den Eindruck erweckte, als wollte er lieber nicht entdeckt werden. Nach menschlichen Maßstäben beherrschte er die leise Fortbewegung. Aber für eine Vampirin war das dilettantisch. Sziedeyna versteckte sich und ließ die Dunkelheit für sich arbeiten. Der Mann passierte sie kurze Zeit später nichtsahnend und Sziedeyna folgte ihm unbemerkt zurück zum Lager.

Als der Mann das Lager erreichte, schaute er sich genau um. Er musterte Säcke und Kisten und begann dann, vorsichtig eine der Kisten zu öffnen, um hineinzuschauen. Es musste sich um einen Plünderer handeln. Niemand, der irgendeine Verbindung zum Lager hatte, würde sich so verhalten, da war sich Sziedeyna sicher. Sie schlich sich lautlos von hinten an, packte den neugierigen Mann und brach ihm mit einem hörbaren Knacken das Genick. Sie schleppte ihn einige Schritt außerhalb das Lagers, fuhr ihre Vampirzähne aus und trank sich an der frischen Leiche satt. Hinterher trug sie den schlaffen Leib noch etwas weiter bis zum nahegelegenen Sumpf und entsorgte den Mann dort. Leise blubbernd verschwand er nach kurzer Zeit spurlos unter der Wasseroberfläche.

"Was für in glücklicher Zufall", dachte sich Sziedeyna, die inzwischen schon wieder deutlich ihren Hunger gespürt hatte. Sie wollte sich an Ronas klare Worte halten, und niemandem aus dem Lager schaden. Schließlich haben sie sich so fürsorglich um sie gekümmert. Aber dieser Mann, der nichts Gutes im Schilde geführt hatte, der war ihr egal. Er konnte sterben. Und so ging sie mit einem zufriedenen Gefühl langsam wieder zum Lager zurück. Es betäubte auch ein wenig ihren inneren Schmerz. Die anderen sollten nie etwas von diesem Ereignis erfahren.
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