von Jhea'kryna Ky'Alur » 21 Jul 2025, 22:36
Es war kein Erwachen. Es war auch kein Träumen. Es war das Erspüren eines Ortes, der nicht Raum war, sondern Zustand – nicht begrenzt durch Geometrie oder Temperatur, sondern durch das, was unausgesprochen zwischen Macht und Schuld, zwischen Göttin und Dienerin webt. Jhea’kryna öffnete die Augen, oder glaubte es zu tun, doch es gab keinen Horizont, keinen Boden, keine Decke. Stattdessen war da das Netz. Es spannte sich in alle Richtungen, über, unter, neben ihr, aus Fäden so dick wie Bäume, wie Gänge, wie Brücken – Spinnenweben, gewoben aus etwas, das nicht Seide war, sondern Erkenntnis, Erinnerung, Wille. Manche waren haarfein, andere groß genug, dass man auf ihnen stehen, gehen, kämpfen konnte. Der Blick verlor sich in der Tiefe, in der Höhe, in der Weite – und alles wirkte so uralt, so absichtsvoll, dass sich unwillkürlich die Frage in ihr regte, welches Wesen dies alles gesponnen hatte. Nicht nur die Göttin – etwas Tieferes. Etwas, das auch sie kannte, aber nie benannt hatte.
Sie stand. Ob sie es wollte oder nicht. Der Faden unter ihren Füßen gab nicht nach, sondern hielt sie mit einer Selbstverständlichkeit, die dem Körper befahl, zu vertrauen, auch wenn der Verstand schrie. Und so ging sie. Schritt für Schritt durch das Netz, das nicht vibrierte, nicht flüsterte, nicht warnte. Es wartete. Jeder Schritt war still, jeder Atemzug schwer. Jedes Auflehnen gegen die Leere führte zu einer neuen Verzweigung – als würde das Netz sie selbst neu weben.
Dann kam der Wandel. Kein Riss, kein Licht – nur ein Übergang, fließend wie ein Gedanke, der Form annimmt. Und plötzlich war sie in Elashinn. Nicht ihr Elashinn, das sie kannte, sondern in einem verzerrten Schatten davon. Die Gänge waren enger, die Wände feuchter, die Luft schwer. Die Stadt war da – aber sie war gegen sie. Die Blicke, die ihr zugeworfen wurden, waren nicht ehrfürchtig, nicht unterwürfig, nicht einmal ängstlich.
Sie waren verächtlich.
Ein Zischen erhob sich. Ein Spucken. Stimmen begannen, Worte zu formen, die ihr galten, doch nicht als Titel, sondern als Schande: „Betrügerin.“ – „Verlorene.“ – „Nichts bist du, keine Ilharess, nur Hülle, nur Fleisch, das Lloth längst ausgespuckt hat.“
Etwas traf sie am Kopf. Sie blutete. Stürzte. Sie versuchte, sich aufzurichten. Sie versuchte, zu sprechen. Ihr eigener Name lag auf der Zunge wie ein Bann, der die Ordnung zurückbringen sollte – doch nichts kam. Kein Glanz. Kein Echo. Kein Gewicht.
Der Dreck traf sie wie Rufe. Faulige Substanz, brennender Staub, kalte Spucke. Ihre Haut spannte sich. Ihr Herz nicht. Denn sie verstand: Das war nicht Demütigung. Das war Spiegel. Das war das Netz, das ihr zeigte, wie es wäre, wenn sie nicht mehr Teil davon war. Keine Feinde, keine Rebellion – nur Gleichgültigkeit, die sich in Hass wandelte, weil sie einst wichtig gewesen war. Jetzt war sie es nicht.
Und dann stand sie vor dem Qu’ellar.
Es war da, wie es immer war, doch es trug die Spuren einer Welt, in der nichts mehr bejaht wurde, sondern nur noch geduldet – verzerrt, dunkler, breiter, toter, als habe das Qu’ellar selbst vergessen, wozu es einst erbaut worden war. Die Türen standen offen, nicht als Einladung, sondern weil niemand mehr da war, der sie verschloss. Keine Wache, kein Diener, keine Priesterin, die niederkniete, sobald der Schatten der Ilharess die Schwelle berührte. Niemand hielt sie auf. Niemand sah sie. Nur die Leere erwartete sie, und sie trat ein wie eine Fremde an einem Ort, den sie einst geformt hatte.
Der Thronsaal lag vor ihr wie ein gespiegeltes Echo – er war da, doch ohne Stimme, ohne Zentrum. Kein Stab. Kein Netzbanner. Kein Zeichen von ihr. Nur der Raum selbst. Und inmitten dieses Schweigens standen drei Gestalten, die sich langsam erhoben, als hätte man sie mit dem Stein vernäht, als seien sie nicht gekommen, sondern immer schon hier gewesen. Drei Versionen ihrer selbst. Drei Möglichkeiten, drei Irrwege. Drei Spiegel, von denen nur einer zerspringen durfte.
Die erste war jung – zu jung, zu rein, zu offen. In ihren Augen lag das flackernde Licht jener Ideale, die in der Dunkelheit nicht überleben, weil sie nie für sie geschaffen wurden. Ihre Haltung war aufrecht, aber weich. Ihre Hände waren sauber, ihre Robe schlicht, ohne Rang, ohne Furcht. Keine Intrige, keine List, kein Verrat hatte sie je gestreift. Es war ein Blick, der nicht verstand, was Schuld war – nur Sehnsucht, zart und gefährlich. Die Sehnsucht nach einem Drow-Reich, das nie existiert hatte, das Lloth nie gewollt hatte. Ein Blick, der in der wahren Tiefe nie überlebt hätte.
Die zweite war gekrümmt, nicht alt, aber gebrochen, als hätte das Netz sie zu Boden gedrückt und vergessen, wieder loszulassen. Um ihren Hals und ihre Handgelenke lagen schwere Ketten, aus Knochen, aus Schatten, aus Gehorsam – doch keines der Glieder war befestigt. Sie waren verinnerlicht. Der Blick dieser Jhea'kryna irrte, zuckte, wich jedem Versuch der Begegnung aus. Ihre Knie berührten den Boden, nicht aus Ehrerbietung, sondern aus Gewohnheit. Sie war ein Werkzeug, das sich nicht mehr an die Hand erinnerte, die es führte. Nicht gefährlich – aber bedeutungslos.
Und die dritte...
Sie stand aufrecht. Ihre Stimme hallte, bevor der Mund sich bewegte – eine Litanei, auswendig gelernt, immer weiter gesprochen, auch wenn niemand mehr zuhörte. Es war ein unaufhörliches Wispern, ein Strang von Versen, Opfergeboten, Drohungen, Befehlen – doch ohne Ziel. Ihr Blick war leer, durchdringend, glänzend von der Idee göttlicher Nähe, ohne zu verstehen, was Nähe kostet. Ihre Bewegungen waren präzise, aber sinnlos. Ihre Hände zitterten nicht, weil sie längst nicht mehr aus Fleisch, sondern nur noch aus Doktrin bestanden. Sie betete – nicht zur Göttin, sondern zum Bild der Göttin, das sie selbst erschaffen hatte. Fanatisch. Selbstvergessen. Gefährlich.
Jhea'kryna stand vor ihnen. Und sie erkannte.
Diese Wahl war kein Urteil über Vergangenheit. Sie war ein Bekenntnis zur Zukunft. Sie sah, was sie war. Was sie gewesen war. Was sie hätte werden können – oder noch werden würde, wenn sie nicht jetzt, in diesem Moment, entschied.
Die Junge war schwach. Aber rein. Sie erinnerte an einen Teil, den sie längst geopfert hatte. Der nicht zurückkehren würde. Den sie nicht fürchten musste.
Die Gebrochene war unbrauchbar. Kein Feind. Kein Halt. Nur Ballast.
Aber die Fanatische... war ein Warnruf.
Sie war die Jhea'kryna , die glaubte, zu dienen – und längst nur sich selbst bekräftigte. Die ihre Klinge hob, ohne Grund, ohne Urteil, nur im Namen eines Gottes, der gar nicht mehr zuhörte. Sie war das Gespenst der Macht ohne Maß. Das Gesicht der Ilharess, wenn sie das Netz missverstand – als Waffe, nicht als Chaos.
Jhea'kryna trat vor.
Sie sprach kein Urteil. Denn Worte waren zu viel für das, was längst klar war. Sie hob die Hand. Eine Klinge war da. Immer schon. Niemand hatte sie ihr gereicht.
Sie trat an die Fanatische heran. Sah in ihre eigenen Augen – und sah: Nichts.
Und sie stieß zu.
Die Klinge durchdrang die Haut ohne Widerstand, als hätte sie darauf gewartet, geführt zu werden, als wäre ihr Schnitt kein Bruch mit dem Leben, sondern ein geheimer Vers, den nur das Fleisch zu sprechen vermochte. Es war kein Schmerz – nicht in dem Sinn, wie Sterbliche ihn kennen. Es war ein Aufreißen auf einer anderen Ebene, ein leiser Riss, durch den nicht Blut, sondern Bindung floss. Nicht Schrecken, nicht Reue – nur Klarheit.
Sie fiel nicht sofort. Ihr Körper verharrte einen Moment, aufrecht, unbewegt, die Klinge tief in ihrer Seite, den Griff noch in der Hand, als wäre er der letzte Halt an einem Netz, das sich längst unter ihr zurückgezogen hatte. Dann ließ sie los. Und in dem Moment, in dem die Waffe den Boden berührte, veränderte sich alles.
Die Luft flimmerte – als würde eine unsichtbare Struktur sich entfalten, still, unausweichlich
Sie war nicht allein. Vier Gestalten standen um sie, erschienen in der Stille wie aus der Tiefe des Netzes selbst gewoben – Ly’saar, Dhaunae, Xael’vyra und Alniira. Nicht als Richterinnen, nicht als Töchter oder Verbündete – sondern als Spiegel, als Fäden, als Zeuginnen. Und in dem Moment, da ihr Blut das Netz berührte, begannen sie sich zu verändern.
Ihre Umrisse verschwammen, wurden heller, durchscheinender, als bestünde ihre Gestalt nicht aus Körper, sondern aus Idee. Ly’saars Züge flackerten, wurden für einen Wimpernschlag von weicher Unsicherheit durchzogen. Dhaunae sah sie an – wirklich an – mit einer Ruhe, die nicht Kind war, sondern Spiegel. Xael’vyra senkte den Blick, aber nicht aus Schwäche, sondern aus Anerkennung. Und Alniira – Alniira lächelte nicht. Aber sie stand fester als je zuvor.
Jhea’kryna sackte auf die Knie. Der Boden war nicht hart. Er war auch nicht weich. Er war: Urteil. Und das Netz – das Netz spannte sich. Nicht eng. Nicht bedrohlich. Es spannte sich, als würde es neu gewebt. Nicht von ihr. Nicht für sie. Sondern um sie herum. In ihr. Durch sie hindurch.
Langsam, ohne Hast, ohne Eile, aber mit einer Klarheit, die ihr ganzes Wesen durchdrang, richtete sich Jhea'kryna wieder auf. Nicht abrupt, nicht als Trotz, sondern wie eine, die weiß, dass der letzte Schritt nur im Stehen getan werden kann. Das Netz wartete nicht auf Entschuldigungen. Es verlangte Vollendung.
Erst dann ließ sie ihren Blick über Alniira gleiten. Das Gesicht war ruhig, beinahe entschlossen. Als hätte sie die Prüfung längst erwartet – und sich auf ihren Tod vorbereitet. Einmal bereits hatte sie sich von ihr abgewandt, einmal Verrat geübt, und einmal hatte Jhea'kryna sie zurückgeholt, nicht aus Schwäche, sondern aus göttlich gesprochenem Willen. Doch was ist Vergebung wert, wenn sie nicht das Ende markiert? Was ist ein Schwur, der sich verbiegt, sobald niemand mehr zusieht? Und doch... war da etwas, das blieb. Die Reue, vielleicht. Oder die Angst. Oder das, was Lloth zurückforderte.
Sie wandte sich zu Dhaunae, die älter wirkte, kälter, stolzer, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Eine Tochter, ja – aber auch eine Waffe, ein Spiegel, ein Anspruch. Sie hatte Blicke bemerkt. Worte gehört. Noch nicht Rebellion, aber der Wunsch nach mehr – nach dem Thron. Nach dem Netz, das ihrer Mutter gehörte. Es lag in ihr. Und Jhea'kryna wusste es. Aber es war kein Feind. Es war das Echo ihrer selbst.
Neben ihr stand Xael’vyra, jung noch, aber messerscharf in allem, was sie sagte – oder nicht sagte. Der zweite Pfeil im Köcher, der nicht für den ersten Schutz gedacht war, sondern für die Beute, die sich als stärker erwies. Auch sie suchte ihren Weg, ihre Macht, ihre eigene Weihe durch Lloth. Und Jhea'kryna hatte es zugelassen – weil sie glaubte, es sei Stärke. Aber war es nicht auch Schwäche gewesen, beide wachsen zu lassen, ohne ihnen Grenzen zu setzen?
Und da war Ly’saar. Ihr Ilharn. Der Geduldige. Der Ehrgeizige. Der, der ihre Befehle befolgte – manchmal mit Blicken, die zu lange verweilten. Der sie verstand – vielleicht zu gut. Der Fragen stellte, wenn andere schwiegen. Wenn einer sie einst in Zweifel stürzen könnte, dann er.
Jhea'kryna atmete flach. Ihre Finger zitterten nicht. Die Klinge lag vor ihr auf einer Empore. Keine Runen. Kein Glanz. Nur kaltes Metall. Doch ihr Blick wanderte nicht mehr über die vier.
Er fiel nach innen.
Nicht auf eine der vier. Nicht auf einen Namen, nicht auf Schuld, nicht auf Misstrauen. Er fiel dorthin, wo das Netz am dichtesten war – in ihr. In das Zentrum. Dorthin, wo alle Fäden sich trafen, wo Entscheidungen gesponnen, Schwüre gebunden, Opfer gegeben worden waren. Dort, wo es keine Ausflüchte mehr gab. Kein Flüstern. Kein Spiegel. Nur Erkenntnis.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung – grausam in ihrer Klarheit, erbarmungslos in ihrer Logik. Denn keiner der Anwesenden war zum Sterben hier.
Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Nicht weil sie gefallen war. Nicht weil sie zu wenig gebetet, zu wenig geopfert, zu wenig gezweifelt hatte.
Sondern weil sie es wusste.
Sie war der Punkt im Netz, der alles verband. Ihre Stärke hatte Fäden geformt, ihr Wille hatte sie gehalten. Und darum war es ihr Körper, ihr Blut, ihr Name, an dem das Netz sich nun messen würde.
Langsam hob sie die Klinge.
Sie sprach kein Wort. Kein Befehl, keine Litanei, kein Ruf an Lloth. Was gesagt werden musste, war längst gewebt. Kein Blick ging zurück zu den anderen – nicht aus Kälte, sondern weil ihre Entscheidung nicht von ihnen abhängig war.
Nur ein einziger Gedanke, still, kalt, endgültig, formte sich zwischen Herz und Hand:
Wenn etwas geopfert werden muss, damit das Netz bestehen bleibt – dann sei es ich.
Und sie setzte die Klinge an. Keine Zögerung. Kein Schmerz.
Nur das letzte Glied – und das Ziehen des Fadens.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung. Keine ihrer Untergebenen, keine ihrer Töchter, kein Schatten, kein Licht – keiner war gekommen, um geopfert zu werden. Sie waren Spiegel. Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Es gab kein Aufschrei, keine Erschütterung, kein göttliches Zeichen, das den Raum zerriss oder das Ende verkündete. Kein Leuchten, kein Flüstern, kein Wind. Nur der Moment, in dem Klinge auf Fleisch traf, in dem das Opfer zur Handlung wurde, nicht aus Verzweiflung, sondern aus der ruhigen Konsequenz eines Willens, der sich nicht über das Netz stellte, sondern in es hineinlegte. Und danach – Stille. Nicht leer. Nicht tot. Sondern erfüllt von einer Dichte, die spürbar war wie eine gespannte Seide, deren Mittelpunkt neu gebunden wurde.
Die Gestalten um sie, eben noch still und gespannt, lösten sich auf – wie Schatten, die nur darauf gewartet hatten, zu vergehen, sobald der letzte Faden gezogen war. Ly’saar verschwand zuerst – mit jenem stillen Ernst, der nie Antwort verlangte. Dhaunae und Xael’vyra folgten, beide ohne Bitterkeit, ohne Trotz, als hätten sie verstanden, was ihnen zuteil wurde, ohne es benennen zu können. Alniira war die Letzte – ihr Blick verweilte, fest, wach, beinahe fordernd, und doch ohne Vorwurf, nur mit der Ahnung, dass dies der Faden war, an dem auch ihre eigene Schuld hing. Dann war auch sie fort.
Spinnen erschienen.
Keine Scharen. Nur acht an der Zahl. Ein gutes Zeichen, oder ein verheerendes Urteil.
Schwarz. Lautlos. Groß genug, um Gewicht zu haben. Klein genug, um sich durch jede Öffnung zu zwängen. Sie krochen aus dem Schatten, der keiner war, in einem Rhythmus, der an Atem erinnerte. Sie näherten sich ihr nicht in Hast. Sie eilten nicht. Sie wussten.
Eine von ihnen erklomm ihre Hand, langsam, scharfbeinige Schritte auf der blassen Haut, hinterließ feine Linien, die nicht bluteten, sondern brannten. Eine andere legte sich auf ihren Oberschenkel, krümmte sich dort wie ein Siegel. Zwei wanden sich um ihren Nacken, ineinander verschlungen, als webten sie dort ein neues Band.
Sie wehrte sich nicht, denn das war kein Angriff. Es war Annahme. Die Spinnen krochen über ihre Schultern, ihre Schläfen, ihre Hüften, als webten sie ein stilles Siegel in ihre Haut, ein Muster, das niemand lesen konnte, außer der Göttin selbst. Der Schmerz war nicht das Ende – sondern der Beginn.
Über dem Altar veränderte sich nichts. Keine Erscheinung, keine göttliche Gestalt, keine Manifestation. Und doch war da etwas: ein Druck in der Luft, ein Weben im Raum, eine Spannung, die sich nicht legte, sondern verdichtete – nicht bedrohlich, nicht segnend, sondern einfach: da. Es war, als hätte das Netz selbst sich gestrafft, als hätte es einen neuen Zug aufgenommen, als hätte sich die Ordnung neu geformt. Kein Faden riss. Kein Knoten löste sich. Doch etwas spannte sich fester, als wäre der Riss, den niemand sah, mit Bedeutung gefüllt worden.
In der Tiefe – nicht des Raumes, sondern der Struktur, die ihn durchzog – vibrierte etwas. Kein Name. Keine Stimme. Kein Wort. Nur das Bewusstsein, dass gesehen worden war, was gegeben wurde. Und dass es angenommen worden war, ohne Antwort, ohne Bestätigung, ohne Preis. Denn das Netz belohnt nicht. Es trägt, und es erinnert.
Und Lloth, irgendwo jenseits dieses Raumes, jenseits jeder Form, jenseits aller Zeichen, sah. Nicht wie eine Mutter. Nicht wie eine Richterin. Sondern wie das Wesen, das sie war: Spinne. Weberin. Göttin. Und sie sprach nicht. Denn was gesprochen werden müsste, war längst getan - und Jhea'kryna verstand.
Es war kein Erwachen. Es war auch kein Träumen. Es war das Erspüren eines Ortes, der nicht Raum war, sondern Zustand – nicht begrenzt durch Geometrie oder Temperatur, sondern durch das, was unausgesprochen zwischen Macht und Schuld, zwischen Göttin und Dienerin webt. Jhea’kryna öffnete die Augen, oder glaubte es zu tun, doch es gab keinen Horizont, keinen Boden, keine Decke. Stattdessen war da das Netz. Es spannte sich in alle Richtungen, über, unter, neben ihr, aus Fäden so dick wie Bäume, wie Gänge, wie Brücken – Spinnenweben, gewoben aus etwas, das nicht Seide war, sondern Erkenntnis, Erinnerung, Wille. Manche waren haarfein, andere groß genug, dass man auf ihnen stehen, gehen, kämpfen konnte. Der Blick verlor sich in der Tiefe, in der Höhe, in der Weite – und alles wirkte so uralt, so absichtsvoll, dass sich unwillkürlich die Frage in ihr regte, welches Wesen dies alles gesponnen hatte. Nicht nur die Göttin – etwas Tieferes. Etwas, das auch sie kannte, aber nie benannt hatte.
Sie stand. Ob sie es wollte oder nicht. Der Faden unter ihren Füßen gab nicht nach, sondern hielt sie mit einer Selbstverständlichkeit, die dem Körper befahl, zu vertrauen, auch wenn der Verstand schrie. Und so ging sie. Schritt für Schritt durch das Netz, das nicht vibrierte, nicht flüsterte, nicht warnte. Es wartete. Jeder Schritt war still, jeder Atemzug schwer. Jedes Auflehnen gegen die Leere führte zu einer neuen Verzweigung – als würde das Netz sie selbst neu weben.
Dann kam der Wandel. Kein Riss, kein Licht – nur ein Übergang, fließend wie ein Gedanke, der Form annimmt. Und plötzlich war sie in Elashinn. Nicht ihr Elashinn, das sie kannte, sondern in einem verzerrten Schatten davon. Die Gänge waren enger, die Wände feuchter, die Luft schwer. Die Stadt war da – aber sie war gegen sie. Die Blicke, die ihr zugeworfen wurden, waren nicht ehrfürchtig, nicht unterwürfig, nicht einmal ängstlich.
Sie waren verächtlich.
Ein Zischen erhob sich. Ein Spucken. Stimmen begannen, Worte zu formen, die ihr galten, doch nicht als Titel, sondern als Schande: „Betrügerin.“ – „Verlorene.“ – „Nichts bist du, keine Ilharess, nur Hülle, nur Fleisch, das Lloth längst ausgespuckt hat.“
Etwas traf sie am Kopf. Sie blutete. Stürzte. Sie versuchte, sich aufzurichten. Sie versuchte, zu sprechen. Ihr eigener Name lag auf der Zunge wie ein Bann, der die Ordnung zurückbringen sollte – doch nichts kam. Kein Glanz. Kein Echo. Kein Gewicht.
Der Dreck traf sie wie Rufe. Faulige Substanz, brennender Staub, kalte Spucke. Ihre Haut spannte sich. Ihr Herz nicht. Denn sie verstand: Das war nicht Demütigung. Das war Spiegel. Das war das Netz, das ihr zeigte, wie es wäre, wenn sie nicht mehr Teil davon war. Keine Feinde, keine Rebellion – nur Gleichgültigkeit, die sich in Hass wandelte, weil sie einst wichtig gewesen war. Jetzt war sie es nicht.
Und dann stand sie vor dem Qu’ellar.
Es war da, wie es immer war, doch es trug die Spuren einer Welt, in der nichts mehr bejaht wurde, sondern nur noch geduldet – verzerrt, dunkler, breiter, toter, als habe das Qu’ellar selbst vergessen, wozu es einst erbaut worden war. Die Türen standen offen, nicht als Einladung, sondern weil niemand mehr da war, der sie verschloss. Keine Wache, kein Diener, keine Priesterin, die niederkniete, sobald der Schatten der Ilharess die Schwelle berührte. Niemand hielt sie auf. Niemand sah sie. Nur die Leere erwartete sie, und sie trat ein wie eine Fremde an einem Ort, den sie einst geformt hatte.
Der Thronsaal lag vor ihr wie ein gespiegeltes Echo – er war da, doch ohne Stimme, ohne Zentrum. Kein Stab. Kein Netzbanner. Kein Zeichen von ihr. Nur der Raum selbst. Und inmitten dieses Schweigens standen drei Gestalten, die sich langsam erhoben, als hätte man sie mit dem Stein vernäht, als seien sie nicht gekommen, sondern immer schon hier gewesen. Drei Versionen ihrer selbst. Drei Möglichkeiten, drei Irrwege. Drei Spiegel, von denen nur einer zerspringen durfte.
Die erste war jung – zu jung, zu rein, zu offen. In ihren Augen lag das flackernde Licht jener Ideale, die in der Dunkelheit nicht überleben, weil sie nie für sie geschaffen wurden. Ihre Haltung war aufrecht, aber weich. Ihre Hände waren sauber, ihre Robe schlicht, ohne Rang, ohne Furcht. Keine Intrige, keine List, kein Verrat hatte sie je gestreift. Es war ein Blick, der nicht verstand, was Schuld war – nur Sehnsucht, zart und gefährlich. Die Sehnsucht nach einem Drow-Reich, das nie existiert hatte, das Lloth nie gewollt hatte. Ein Blick, der in der wahren Tiefe nie überlebt hätte.
Die zweite war gekrümmt, nicht alt, aber gebrochen, als hätte das Netz sie zu Boden gedrückt und vergessen, wieder loszulassen. Um ihren Hals und ihre Handgelenke lagen schwere Ketten, aus Knochen, aus Schatten, aus Gehorsam – doch keines der Glieder war befestigt. Sie waren verinnerlicht. Der Blick dieser Jhea'kryna irrte, zuckte, wich jedem Versuch der Begegnung aus. Ihre Knie berührten den Boden, nicht aus Ehrerbietung, sondern aus Gewohnheit. Sie war ein Werkzeug, das sich nicht mehr an die Hand erinnerte, die es führte. Nicht gefährlich – aber bedeutungslos.
Und die dritte...
Sie stand aufrecht. Ihre Stimme hallte, bevor der Mund sich bewegte – eine Litanei, auswendig gelernt, immer weiter gesprochen, auch wenn niemand mehr zuhörte. Es war ein unaufhörliches Wispern, ein Strang von Versen, Opfergeboten, Drohungen, Befehlen – doch ohne Ziel. Ihr Blick war leer, durchdringend, glänzend von der Idee göttlicher Nähe, ohne zu verstehen, was Nähe kostet. Ihre Bewegungen waren präzise, aber sinnlos. Ihre Hände zitterten nicht, weil sie längst nicht mehr aus Fleisch, sondern nur noch aus Doktrin bestanden. Sie betete – nicht zur Göttin, sondern zum Bild der Göttin, das sie selbst erschaffen hatte. Fanatisch. Selbstvergessen. Gefährlich.
Jhea'kryna stand vor ihnen. Und sie erkannte.
Diese Wahl war kein Urteil über Vergangenheit. Sie war ein Bekenntnis zur Zukunft. Sie sah, was sie war. Was sie gewesen war. Was sie hätte werden können – oder noch werden würde, wenn sie nicht jetzt, in diesem Moment, entschied.
Die Junge war schwach. Aber rein. Sie erinnerte an einen Teil, den sie längst geopfert hatte. Der nicht zurückkehren würde. Den sie nicht fürchten musste.
Die Gebrochene war unbrauchbar. Kein Feind. Kein Halt. Nur Ballast.
Aber die Fanatische... war ein Warnruf.
Sie war die Jhea'kryna , die glaubte, zu dienen – und längst nur sich selbst bekräftigte. Die ihre Klinge hob, ohne Grund, ohne Urteil, nur im Namen eines Gottes, der gar nicht mehr zuhörte. Sie war das Gespenst der Macht ohne Maß. Das Gesicht der Ilharess, wenn sie das Netz missverstand – als Waffe, nicht als Chaos.
Jhea'kryna trat vor.
Sie sprach kein Urteil. Denn Worte waren zu viel für das, was längst klar war. Sie hob die Hand. Eine Klinge war da. Immer schon. Niemand hatte sie ihr gereicht.
Sie trat an die Fanatische heran. Sah in ihre eigenen Augen – und sah: Nichts.
Und sie stieß zu.
Die Klinge durchdrang die Haut ohne Widerstand, als hätte sie darauf gewartet, geführt zu werden, als wäre ihr Schnitt kein Bruch mit dem Leben, sondern ein geheimer Vers, den nur das Fleisch zu sprechen vermochte. Es war kein Schmerz – nicht in dem Sinn, wie Sterbliche ihn kennen. Es war ein Aufreißen auf einer anderen Ebene, ein leiser Riss, durch den nicht Blut, sondern Bindung floss. Nicht Schrecken, nicht Reue – nur Klarheit.
Sie fiel nicht sofort. Ihr Körper verharrte einen Moment, aufrecht, unbewegt, die Klinge tief in ihrer Seite, den Griff noch in der Hand, als wäre er der letzte Halt an einem Netz, das sich längst unter ihr zurückgezogen hatte. Dann ließ sie los. Und in dem Moment, in dem die Waffe den Boden berührte, veränderte sich alles.
Die Luft flimmerte – als würde eine unsichtbare Struktur sich entfalten, still, unausweichlich
Sie war nicht allein. Vier Gestalten standen um sie, erschienen in der Stille wie aus der Tiefe des Netzes selbst gewoben – Ly’saar, Dhaunae, Xael’vyra und Alniira. Nicht als Richterinnen, nicht als Töchter oder Verbündete – sondern als Spiegel, als Fäden, als Zeuginnen. Und in dem Moment, da ihr Blut das Netz berührte, begannen sie sich zu verändern.
Ihre Umrisse verschwammen, wurden heller, durchscheinender, als bestünde ihre Gestalt nicht aus Körper, sondern aus Idee. Ly’saars Züge flackerten, wurden für einen Wimpernschlag von weicher Unsicherheit durchzogen. Dhaunae sah sie an – wirklich an – mit einer Ruhe, die nicht Kind war, sondern Spiegel. Xael’vyra senkte den Blick, aber nicht aus Schwäche, sondern aus Anerkennung. Und Alniira – Alniira lächelte nicht. Aber sie stand fester als je zuvor.
Jhea’kryna sackte auf die Knie. Der Boden war nicht hart. Er war auch nicht weich. Er war: Urteil. Und das Netz – das Netz spannte sich. Nicht eng. Nicht bedrohlich. Es spannte sich, als würde es neu gewebt. Nicht von ihr. Nicht für sie. Sondern um sie herum. In ihr. Durch sie hindurch.
Langsam, ohne Hast, ohne Eile, aber mit einer Klarheit, die ihr ganzes Wesen durchdrang, richtete sich Jhea'kryna wieder auf. Nicht abrupt, nicht als Trotz, sondern wie eine, die weiß, dass der letzte Schritt nur im Stehen getan werden kann. Das Netz wartete nicht auf Entschuldigungen. Es verlangte Vollendung.
Erst dann ließ sie ihren Blick über Alniira gleiten. Das Gesicht war ruhig, beinahe entschlossen. Als hätte sie die Prüfung längst erwartet – und sich auf ihren Tod vorbereitet. Einmal bereits hatte sie sich von ihr abgewandt, einmal Verrat geübt, und einmal hatte Jhea'kryna sie zurückgeholt, nicht aus Schwäche, sondern aus göttlich gesprochenem Willen. Doch was ist Vergebung wert, wenn sie nicht das Ende markiert? Was ist ein Schwur, der sich verbiegt, sobald niemand mehr zusieht? Und doch... war da etwas, das blieb. Die Reue, vielleicht. Oder die Angst. Oder das, was Lloth zurückforderte.
Sie wandte sich zu Dhaunae, die älter wirkte, kälter, stolzer, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Eine Tochter, ja – aber auch eine Waffe, ein Spiegel, ein Anspruch. Sie hatte Blicke bemerkt. Worte gehört. Noch nicht Rebellion, aber der Wunsch nach mehr – nach dem Thron. Nach dem Netz, das ihrer Mutter gehörte. Es lag in ihr. Und Jhea'kryna wusste es. Aber es war kein Feind. Es war das Echo ihrer selbst.
Neben ihr stand Xael’vyra, jung noch, aber messerscharf in allem, was sie sagte – oder nicht sagte. Der zweite Pfeil im Köcher, der nicht für den ersten Schutz gedacht war, sondern für die Beute, die sich als stärker erwies. Auch sie suchte ihren Weg, ihre Macht, ihre eigene Weihe durch Lloth. Und Jhea'kryna hatte es zugelassen – weil sie glaubte, es sei Stärke. Aber war es nicht auch Schwäche gewesen, beide wachsen zu lassen, ohne ihnen Grenzen zu setzen?
Und da war Ly’saar. Ihr Ilharn. Der Geduldige. Der Ehrgeizige. Der, der ihre Befehle befolgte – manchmal mit Blicken, die zu lange verweilten. Der sie verstand – vielleicht zu gut. Der Fragen stellte, wenn andere schwiegen. Wenn einer sie einst in Zweifel stürzen könnte, dann er.
Jhea'kryna atmete flach. Ihre Finger zitterten nicht. Die Klinge lag vor ihr auf einer Empore. Keine Runen. Kein Glanz. Nur kaltes Metall. Doch ihr Blick wanderte nicht mehr über die vier.
Er fiel nach innen.
Nicht auf eine der vier. Nicht auf einen Namen, nicht auf Schuld, nicht auf Misstrauen. Er fiel dorthin, wo das Netz am dichtesten war – in ihr. In das Zentrum. Dorthin, wo alle Fäden sich trafen, wo Entscheidungen gesponnen, Schwüre gebunden, Opfer gegeben worden waren. Dort, wo es keine Ausflüchte mehr gab. Kein Flüstern. Kein Spiegel. Nur Erkenntnis.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung – grausam in ihrer Klarheit, erbarmungslos in ihrer Logik. Denn keiner der Anwesenden war zum Sterben hier.
Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Nicht weil sie gefallen war. Nicht weil sie zu wenig gebetet, zu wenig geopfert, zu wenig gezweifelt hatte.
Sondern weil sie es wusste.
Sie war der Punkt im Netz, der alles verband. Ihre Stärke hatte Fäden geformt, ihr Wille hatte sie gehalten. Und darum war es ihr Körper, ihr Blut, ihr Name, an dem das Netz sich nun messen würde.
Langsam hob sie die Klinge.
Sie sprach kein Wort. Kein Befehl, keine Litanei, kein Ruf an Lloth. Was gesagt werden musste, war längst gewebt. Kein Blick ging zurück zu den anderen – nicht aus Kälte, sondern weil ihre Entscheidung nicht von ihnen abhängig war.
Nur ein einziger Gedanke, still, kalt, endgültig, formte sich zwischen Herz und Hand:
[i]Wenn etwas geopfert werden muss, damit das Netz bestehen bleibt – dann sei es ich.[/i]
Und sie setzte die Klinge an. Keine Zögerung. Kein Schmerz.
Nur das letzte Glied – und das Ziehen des Fadens.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung. Keine ihrer Untergebenen, keine ihrer Töchter, kein Schatten, kein Licht – keiner war gekommen, um geopfert zu werden. Sie waren Spiegel. Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Es gab kein Aufschrei, keine Erschütterung, kein göttliches Zeichen, das den Raum zerriss oder das Ende verkündete. Kein Leuchten, kein Flüstern, kein Wind. Nur der Moment, in dem Klinge auf Fleisch traf, in dem das Opfer zur Handlung wurde, nicht aus Verzweiflung, sondern aus der ruhigen Konsequenz eines Willens, der sich nicht über das Netz stellte, sondern in es hineinlegte. Und danach – Stille. Nicht leer. Nicht tot. Sondern erfüllt von einer Dichte, die spürbar war wie eine gespannte Seide, deren Mittelpunkt neu gebunden wurde.
Die Gestalten um sie, eben noch still und gespannt, lösten sich auf – wie Schatten, die nur darauf gewartet hatten, zu vergehen, sobald der letzte Faden gezogen war. Ly’saar verschwand zuerst – mit jenem stillen Ernst, der nie Antwort verlangte. Dhaunae und Xael’vyra folgten, beide ohne Bitterkeit, ohne Trotz, als hätten sie verstanden, was ihnen zuteil wurde, ohne es benennen zu können. Alniira war die Letzte – ihr Blick verweilte, fest, wach, beinahe fordernd, und doch ohne Vorwurf, nur mit der Ahnung, dass dies der Faden war, an dem auch ihre eigene Schuld hing. Dann war auch sie fort.
Spinnen erschienen.
Keine Scharen. Nur acht an der Zahl. Ein gutes Zeichen, oder ein verheerendes Urteil.
Schwarz. Lautlos. Groß genug, um Gewicht zu haben. Klein genug, um sich durch jede Öffnung zu zwängen. Sie krochen aus dem Schatten, der keiner war, in einem Rhythmus, der an Atem erinnerte. Sie näherten sich ihr nicht in Hast. Sie eilten nicht. Sie wussten.
Eine von ihnen erklomm ihre Hand, langsam, scharfbeinige Schritte auf der blassen Haut, hinterließ feine Linien, die nicht bluteten, sondern brannten. Eine andere legte sich auf ihren Oberschenkel, krümmte sich dort wie ein Siegel. Zwei wanden sich um ihren Nacken, ineinander verschlungen, als webten sie dort ein neues Band.
Sie wehrte sich nicht, denn das war kein Angriff. Es war Annahme. Die Spinnen krochen über ihre Schultern, ihre Schläfen, ihre Hüften, als webten sie ein stilles Siegel in ihre Haut, ein Muster, das niemand lesen konnte, außer der Göttin selbst. Der Schmerz war nicht das Ende – sondern der Beginn.
Über dem Altar veränderte sich nichts. Keine Erscheinung, keine göttliche Gestalt, keine Manifestation. Und doch war da etwas: ein Druck in der Luft, ein Weben im Raum, eine Spannung, die sich nicht legte, sondern verdichtete – nicht bedrohlich, nicht segnend, sondern einfach: da. Es war, als hätte das Netz selbst sich gestrafft, als hätte es einen neuen Zug aufgenommen, als hätte sich die Ordnung neu geformt. Kein Faden riss. Kein Knoten löste sich. Doch etwas spannte sich fester, als wäre der Riss, den niemand sah, mit Bedeutung gefüllt worden.
In der Tiefe – nicht des Raumes, sondern der Struktur, die ihn durchzog – vibrierte etwas. Kein Name. Keine Stimme. Kein Wort. Nur das Bewusstsein, dass gesehen worden war, was gegeben wurde. Und dass es angenommen worden war, ohne Antwort, ohne Bestätigung, ohne Preis. Denn das Netz belohnt nicht. Es trägt, und es erinnert.
Und Lloth, irgendwo jenseits dieses Raumes, jenseits jeder Form, jenseits aller Zeichen, sah. Nicht wie eine Mutter. Nicht wie eine Richterin. Sondern wie das Wesen, das sie war: Spinne. Weberin. Göttin. Und sie sprach nicht. Denn was gesprochen werden müsste, war längst getan - und Jhea'kryna verstand.