Der Tempel war durchdrungen vom metallischen Nachhall vergangener Opfer, von den Resten jenes Weihrauchs, der nur für die Göttin verbrannt wurde und dessen bitterer Dunst sich selbst gegen das Öffnen von Türen und das Schweigen von Jahrhunderten behauptete. Nichts regte sich zwischen den pechschwarzen Säulen des Tempels, keine Litanei, kein Raunen, kein bebender Hauch aus dem Schatten – nur das unbestechliche Echo ihrer eigenen Stille, das sich an den kalten Obsidian schmiegte wie ein längst vergessenes Urteil. Jhea’kryna saß mit verschränkten Beinen auf dem erhöhten Podest vor dem Altar, wo früher acht Novizinnen knieten. Jetzt trug sie hier alleine – so wie auch die Last ihrer stummen Göttin allein auf ihren Schultern ruhte.
Sie hatte das Schweigen nicht angesprochen, weder in den Gesprächen mit Ly’saar, deren Unsicherheit kaum verhüllte, wie sehr sie auf Zeichen wartete, noch vor Xurina, die jede Geste der Ilharess wie eine Spiegelung göttlichen Willens zu deuten pflegte – zu laut, zu früh, zu gierig. Jhea sprach keine Zweifel aus. Nicht einmal vor sich selbst. Denn eine Ilharess fragt nicht, sie handelt. Eine Tochter Lloths betet nicht um Bestätigung, sie erträgt das Schweigen als Prüfung. Und doch war da ein Riss – feiner als Spinnenseide, tiefer als Bekenntnis –, der sich mit jedem Tag ausdehnte, an dem Lloths Stimme ausblieb.
Die Rückkehr ihrer Tochter hatte jenen Riss geöffnet, der lange unter einer Schicht aus Disziplin und Stolz verborgen gelegen hatte, so fein wie eine Spinnenfaser, kaum sichtbar, kaum fühlbar – und doch tückisch. Xael'vyra war aufrecht in ihre Thronsaal getreten, die Stirn leicht geneigt, das Haar frisch geflochten, die Waffen an ihrer Seite wie Versprechen, nicht wie Fragezeichen. Ihre Knie hatten den kalten Stein geküsst, ihre Stimme hatte den richtigen Ton getroffen, nicht zu unterwürfig, nicht zu stolz, und doch hatte sich in Jhea’kryna etwas geregt – ein Ziehen hinter dem Brustbein, als würde etwas in ihr zurückweichen.
Sie hatte ihre Tochter nicht umarmt, natürlich nicht, das tat man nicht – man sprach mit Blicken, mit Ritualen, mit den messerscharfen Kanten der Liturgie. Doch als Xael'vyra ihren Bericht beendete und sich zurückzog, hatte Jhea’kryna eine winzige Bewegung gespürt: Etwas auf ihrer Schulter, kaum schwerer als ein Gedanke, kaum wärmer als die Erinnerung an Berührung. Eine Spinne. Klein, schwarz, glänzend. Ihre Beine bewegten sich bedächtig, als zählte sie die Linien des Netzes auf ihrer Haut nach.
Jhea’kryna hatte nicht gezuckt, nicht geflucht, nicht geschlagen – sie hatte verharrt, wie eine Statue, wie ein Fossil, das den Atem nicht mehr kennt, aus Angst, dass die Göttin das Tierchen von ihrer Schulter nehmen könnte – nicht weil es gehorchte, sondern weil sie es nicht mehr wert war, berührt zu werden. Denn wenn Lloth dich berührt, bist du entweder gesegnet – oder markiert.
Die Spinne krabbelte bis zu ihrem Hals, verweilte dort, so nahe an der Schlagader, dass Jhea’kryna meinte, den leisen Impuls ihrer eigenen Schwäche zu spüren, das Klopfen des Zweifels, wie ein Herzschlag aus Spinnenseide. Was, wenn sie bereits begonnen hatte, sie zu ersetzen? Was, wenn die Tochter den Blick der Mutter gestohlen hatte, nicht durch Verrat, sondern durch Reinheit? Was, wenn Lloth ihre Geduld verloren hatte, nicht wegen Fehlern, sondern weil Jhea'kryna zu lange gezögert hatte, zu lange berechnet, zu lange geglaubt hatte, dass Kontrolle stärker sei als Hingabe?
Sie erinnerte sich an den letzten Traum, den sie noch für echt gehalten hatte – die große Spinne mit dem weißen Bauch, die über die Leiber gefallener Krieger kroch und sie auffraß, nicht aus Hunger, sondern aus Pflicht. Damals hatte sie geglaubt, sie sei gemeint gewesen, dass sie die letzte war, die überlebt hatte. Doch jetzt... jetzt erinnerte sie sich nicht mehr, ob die Spinne am Ende auf sie zugeschlichen war oder von ihr fort.
Langsam hob sie die Hand, nicht ruckartig, sondern wie eine Priesterin, die ein heiliger Schmerz gelehrt hat, sich dem Rhythmus des Göttlichen zu unterwerfen, und sie ließ die Finger auf der Schulter ruhen, nahe genug, um das winzige Wesen zu spüren, aber nicht so nah, dass sie es berühren würde. Das wäre Anmaßung gewesen. Wenn Lloth ihr dieses Tier geschickt hatte, um zu prüfen, ob sie es vertreiben würde, dann wollte sie nicht scheitern. Wenn sie es geschickt hatte, um es zu entfernen, dann würde sie es spüren.
Doch die Spinne blieb.
Und in diesem stillen Verweilen lag mehr Urteil als in tausend Worten, denn das Schweigen der Göttin ist keine Abwesenheit – es ist eine Entscheidung.
Jhea’kryna atmete aus, leise, kaum hörbar, und richtete sich dann langsam auf, das Gewicht der Spinne auf ihrer Schulter wie ein göttlicher Fingerzeig, der sich niederließ, ohne zu erklären. Sie verließ den Tempel mit festen Schritten, doch innerlich war jeder Schritt eine Frage: Warum hatte Lloth ihr nichts gesagt, als sie geopfert hatte? Warum hatte sie geschwiegen, als die Opfer gefleht hatten? Warum hatte sie sich nicht gezeigt, als der Name des Hauses Ky’Alur durch Blut erneuert wurde?
Sie hatte ihre Stimme erhoben, sie hatte das Netz gepflegt, sie hatte gesponnen, geopfert, geurteilt – und doch war da nichts gekommen, außer dem Kriechen dieser einen Spinne, deren Schweigen mehr schmerzte als der Blick aller Untergebenen zusammen. Vielleicht war es das, was sie fürchten musste: Nicht dass Lloth sie vernichtet – sondern dass sie abwinkt.
Als sie die Tore des Tempels durchschritt, die tiefen Schatten der Halle durchquerte und das Klirren ihrer eigenen Schritte widerhallen hörte wie das Echo einer alten Schuld, da legte sich ein leiser Nebel auf ihre Gedanken – nicht aus Angst, sondern aus Begreifen: Dass sie gefallen war, nicht wie eine Sterbliche, sondern wie ein Priesterstein, der sich in den Grund sinken ließ, ohne Aufprall, ohne Staub, einfach… versunken.
Der Gedanke nagte nicht wie ein Wurm, sondern webte sich ein, wie Seide in ein Kleid aus Stolz. Es war nicht die Furcht vor Verlust – es war die Furcht, dass Lloth längst entschieden hatte. Und die Spinne, die ihr folgte, war vielleicht nicht ihr Werkzeug – sondern ihr Erbe.
Vielleicht war es Zeit, das Netz neu zu spinnen. Vielleicht war es Zeit, zu zeigen, dass auch die Ilharess selbst noch Opfer bringen konnte. Vielleicht… war es das, worauf die Göttin wartete. Nicht die Tat – sondern das Zittern davor.
Jhea’kryna blieb stehen.
Sie spürte, wie die Spinne sich weiterbewegte – nicht fort, nicht hinauf, sondern in Richtung ihres Herzens.
Und sie flüsterte nur ein einziges Wort – nicht laut, nicht deutlich, sondern wie eine Erinnerung, die sich selbst fragt, ob sie noch lebt:
„Lloth…?“
Aber der Stein antwortete nicht. Die Schatten auch nicht. Nur die Spinne. Und sie blieb.
Der stillste Befehl
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Ein Ruf, der nicht erhört wurde
Sie entzog sich den Stimmen des Hauses, dem gemurmelten Gehorsam in den Gängen, dem immergleichen Echo aus Pflicht und Furcht, das ihr in den Hallen des Qu’ellars entgegenschwoll wie eine Flut aus Erwartung, deren Ufer sie nicht mehr zu berühren wagte.
Der innere Tempel, verborgen jenseits des Opferaltars, war so dunkel wie ihr Wille, so still wie die Verse des Blutgesangs, bevor sie gesungen wurden, so leer wie der Raum zwischen zwei Gedanken, wenn beides – Hoffnung und Furcht – zu gleichen Teilen schweigen. Jhea’kryna betrat ihn barfuß, ohne Schmuck, ohne Klinge, ohne Zeichen ihrer Stellung, als wäre sie niemals gewesen, was sie war, sondern nur Fleisch und Wille, bereit, sich in der Dunkelheit neu zu weben.
Sie sprach keine Gebete, keine Anrufungen, keine Litanei. Nicht weil sie es nicht gekonnt hätte – jede Silbe war in ihrem Blut eingeschrieben, jede Geste in ihre Sehnen geflochten –, sondern weil sie wusste, dass das, was sie suchte, nicht auf Worte hören würde. Nicht jetzt. Nicht mehr. Worte waren Taten geworden. Und Taten waren ausgeblieben.
Sie begann mit dem Fasten, nicht aus Askese, sondern als Sprache – die einzige, die der Schatten noch hören mochte. Sie entzog sich der Nahrung, dem Geschmack, dem Genuss, aber auch der Kraft, die ihr zustand. Drei Tage, vier Nächte, dann ein weiteres Ende ohne Anfang. Ihr Körper wurde leichter, aber nicht schwächer – als würde er sich selbst verbrennen, um das Schweigen zu durchdringen.
Im zweiten Zyklus nahm sie kein Messer, sondern die Klinge aus geschwärztem Eisen, die einst nur für Blutopfer geschmiedet worden war – kein Schwert, keine Waffe, sondern ein Werkzeug, rein, kalt, ehrlos, da es nur zum Schneiden gedacht war, nie zum Töten. Sie setzte sie an ihre linke Pulsader, dort, wo das Fleisch weich war und das Blut nah an der Oberfläche lag, dort, wo kein Zufall wirken konnte – nur Absicht. Der Schnitt war präzise, nicht tief, aber doch so geführt, dass der Strom nicht stockte. Kein Zögern, kein Zittern. Das Blut floss dunkel und langsam, sammelte sich in einer flachen Steinschale, in die sie zuvor den Namen der Göttin eingeritzt hatte – mit der bloßen Fingernagelspitze, bis der Stein nachgab. Sie beobachtete, wie das Blut sich darin sammelte, wie es sich kräuselte, wie es dampfte, ohne dass Hitze im Raum war. Kein Zeichen. Kein Glühen. Kein Wispern. Nur der stille Geruch von Eisen und Entbehrung. Als die Schale zur Hälfte gefüllt war, flüsterte sie kein Gebet, keine Bitte – sondern nur: „Nimm es.“ Dann versiegelte sie die Wunde – nicht durch Binde oder Druck, sondern mit einem einzigen, klaren Zauber, gesprochen mit einem Wort, das in ihrer Sprache alt war und im Innersten des Tempels hallte wie ein ferner Glockenschlag. Die Haut schloss sich, als sei nichts geschehen, doch in ihrem Blut hatte sich ein Raum geöffnet – leer, bereit, geopfert.
Der Raum blieb still, das Netz blieb fern. Keine Stimme hallte zwischen den Säulen, kein Zeichen senkte sich aus dem Nichts. Der Schrein blieb leer, das Becken trüb. Die achtarmige Figur, die in der Wand verborgen lag, wirkte nicht wie eine Göttin – sondern wie ein Prüfstein, der jeden Blick verschlang, ohne etwas zu erwidern.
In der sechsten Nacht entzündete sie die Kohlenbecken mit ihrem eigenen Blut, gemischt mit Öl aus Alraune, Bitterwurz und verbranntem Hautstaub – gesammelt von jenen, die ihr einst geopfert worden waren. Der Rauch brannte in den Lungen, trieb Tränen aus den Augen, die sie nicht zu wischen wagte, denn jede Träne galt als Geschenk, wenn sie freiwillig gegeben wurde.
Sie geißelte sich selbst mit Seidenranken, in die Splitter aus Obsidian eingewoben waren, sorgsam geschliffen, so fein, dass sie nicht schnitten, aber rissen. Nicht genug, um Narben zu hinterlassen – nur um das Fleisch zu mahnen, dass es lebt, und zu wem es gehört. Der Schmerz war rhythmisch, nicht willkürlich – jede Bewegung war ein Gebet, das der Körper sprach, wo der Mund versagte.
Und immer wieder war da der Altar – kalt, unbewegt, stumm –, ein Block aus schwarzem Stein, der weder Glanz noch Gnade zeigte, der nichts nahm, nichts gab, sondern nur wartete. Sie kauerte sich davor in Stunden, die keine Namen trugen, die nicht gezählt werden konnten, weil sie jenseits des Zählbaren lagen – zwischen dem ersten Zweifel und dem letzten Rest von Gewissheit. Das Gesicht dem Stein zugewandt, das Kinn gesenkt, der Atem ruhig – nicht aus Demut, sondern weil es in Gegenwart der Göttin nichts zu sagen gab, solange sie nicht gesprochen hatte.
In der neunten Nacht zitterte ihre Hand, als sie das Aschezeichen erneuerte – ein Kreis, durchzogen von acht Linien –, doch nicht aus Schwäche, sondern weil ihr das Schweigen langsam wie ein Gift die Sehnen durchtrennte. Kein Traum hatte sie berührt, kein Zeichen ihren Schlaf durchbrochen. Selbst der Wahnsinn, den viele in dieser Dunkelheit fanden, blieb ihr fern. Es war nicht Wahnsinn, was an ihr nagte – es war das Ausbleiben des Wahnsinns.
Am zehnten Tag öffnete sie die kleine Glasurne mit den Tempelspinnen, gezüchtet in der Tiefe, rein, klug, gesegnet. Acht davon ließ sie auf ihrer Haut wandeln, über den Rücken, die Schultern, den Hals – still, erwartungsvoll. Sie bot sich ihnen dar, wie ein Netz sich dem Wind öffnet, nicht um zu vergehen, sondern um zu prüfen, was hängenbleibt.
Die siebte Spinne starb bei ihrer Berührung.
Nicht durch Gewalt. Nicht durch Hitze. Nicht durch Gift. Einfach so – ihr Körper erstarrte, fiel seitlich um, die Beine zuckten ein letztes Mal, dann nichts. Jhea’kryna starrte auf den kleinen Leib, der sich noch an ihrer Haut befunden hatte, als das Leben ihn verließ, und für einen Moment glaubte sie, ein Flüstern zu hören – nicht von Lloth, sondern aus sich selbst: „Unwürdig.“
Sie sprach kein Wort. Sie hob die tote Spinne auf, legte sie auf ein Bett aus geweihter Seide, verbrannte sie im Rauch der Bitterdistel, während ihre Augen leer blieben – nicht aus Kälte, sondern aus Schutz. Denn Tränen hätten dem Tier gegolten. Und ihre Tränen galten nur Lloth.
Die verbliebenen Spinnen wichen nicht zurück. Doch keine suchte mehr ihre Nähe.
In dieser Nacht legte sie sich auf den kalten Stein, ohne Decke, ohne Kissen, den Kopf nach Osten, in jene Richtung, aus der einst das Zeichen der Berufung gekommen war – ein Fleck aus schwarzem Feuer, der sich in die Wand geätzt hatte. Er war längst verblasst. Und heute glaubte sie, er sei nie da gewesen.
Sie schlief nicht. Nicht wirklich. Ihre Gedanken webten sich umeinander wie Stränge eines zerfetzten Gebets – ohne Ordnung, ohne Anfang, ohne das Echo der Göttin, das sie früher in ihren Träumen besucht hatte. Stattdessen nur Leere. Keine Spinne sprach. Kein Nebel formte ein Bild. Kein Netz vibrierte.
Am Morgen stand sie auf, bar jeder Kraft, aber voller Ziel. Sie reinigte sich im kalten Wasser des unterirdischen Beckens, das nur über Umwege erreichbar war, nur von denen, die sich nicht zeigen wollten. Sie entzündete das Licht nicht. Sie sprach kein Wort. Sie sah sich im Wasser und erkannte sich – aber nicht mehr in der Form, wie sie von den anderen gesehen wurde, sondern so, wie sie wirklich war: ein Gefäß, das geprüft wurde, ob es noch taugte.
Sie trocknete sich nicht ab. Sie ließ das Wasser wie einen Mantel auf ihrer Haut verdampfen, und stellte sich vor das uralte Abbild der Göttin, deren Leib sich in der Dunkelheit erhob wie eine in Stein gebannte Warnung: Der schlanke Oberkörper einer Frau, aus kaltem Obsidian gehauen, die Arme erhoben im Zeichen des Befehls, das Antlitz unergründlich, schön und grausam zugleich, aufragend aus dem massiven Körper einer gewaltigen Spinne, deren Beine sich über den Sockel krümmten wie zum Sprung bereit. Es war kein Gesicht, das Trost versprach. Kein Leib, der gütig schien. Es war das Bild eines Wesens, das herrschte – oder zerschmetterte.
Stunden vergingen. Nichts bewegte sich.
Am Ende des Tages entzündete sie zum ersten Mal seit ihrem Rückzug das innere Feuer – nicht, um Wärme zu spenden, sondern um die Schatten zu vertreiben. Doch sie wichen nicht. Sie tanzten, wie sie es immer getan hatten. Nur dass sie heute… kalt waren.
Als sie sich niederließ, spürte sie es. Kein Schmerz. Keine Schwäche. Nur ein Ziehen – wie in einem Netz, das sich langsam schloss, aber nicht, um zu halten, sondern um zu würgen. Das Netz war noch da. Es war gespannt. Es war da. Aber es spannte sich gegen sie.
Und das war schlimmer als jede Verbannung. Schlimmer als jedes Urteil.
Denn solange das Netz da war, konnte sie noch fallen. Und nichts würde sie halten.
Der innere Tempel, verborgen jenseits des Opferaltars, war so dunkel wie ihr Wille, so still wie die Verse des Blutgesangs, bevor sie gesungen wurden, so leer wie der Raum zwischen zwei Gedanken, wenn beides – Hoffnung und Furcht – zu gleichen Teilen schweigen. Jhea’kryna betrat ihn barfuß, ohne Schmuck, ohne Klinge, ohne Zeichen ihrer Stellung, als wäre sie niemals gewesen, was sie war, sondern nur Fleisch und Wille, bereit, sich in der Dunkelheit neu zu weben.
Sie sprach keine Gebete, keine Anrufungen, keine Litanei. Nicht weil sie es nicht gekonnt hätte – jede Silbe war in ihrem Blut eingeschrieben, jede Geste in ihre Sehnen geflochten –, sondern weil sie wusste, dass das, was sie suchte, nicht auf Worte hören würde. Nicht jetzt. Nicht mehr. Worte waren Taten geworden. Und Taten waren ausgeblieben.
Sie begann mit dem Fasten, nicht aus Askese, sondern als Sprache – die einzige, die der Schatten noch hören mochte. Sie entzog sich der Nahrung, dem Geschmack, dem Genuss, aber auch der Kraft, die ihr zustand. Drei Tage, vier Nächte, dann ein weiteres Ende ohne Anfang. Ihr Körper wurde leichter, aber nicht schwächer – als würde er sich selbst verbrennen, um das Schweigen zu durchdringen.
Im zweiten Zyklus nahm sie kein Messer, sondern die Klinge aus geschwärztem Eisen, die einst nur für Blutopfer geschmiedet worden war – kein Schwert, keine Waffe, sondern ein Werkzeug, rein, kalt, ehrlos, da es nur zum Schneiden gedacht war, nie zum Töten. Sie setzte sie an ihre linke Pulsader, dort, wo das Fleisch weich war und das Blut nah an der Oberfläche lag, dort, wo kein Zufall wirken konnte – nur Absicht. Der Schnitt war präzise, nicht tief, aber doch so geführt, dass der Strom nicht stockte. Kein Zögern, kein Zittern. Das Blut floss dunkel und langsam, sammelte sich in einer flachen Steinschale, in die sie zuvor den Namen der Göttin eingeritzt hatte – mit der bloßen Fingernagelspitze, bis der Stein nachgab. Sie beobachtete, wie das Blut sich darin sammelte, wie es sich kräuselte, wie es dampfte, ohne dass Hitze im Raum war. Kein Zeichen. Kein Glühen. Kein Wispern. Nur der stille Geruch von Eisen und Entbehrung. Als die Schale zur Hälfte gefüllt war, flüsterte sie kein Gebet, keine Bitte – sondern nur: „Nimm es.“ Dann versiegelte sie die Wunde – nicht durch Binde oder Druck, sondern mit einem einzigen, klaren Zauber, gesprochen mit einem Wort, das in ihrer Sprache alt war und im Innersten des Tempels hallte wie ein ferner Glockenschlag. Die Haut schloss sich, als sei nichts geschehen, doch in ihrem Blut hatte sich ein Raum geöffnet – leer, bereit, geopfert.
Der Raum blieb still, das Netz blieb fern. Keine Stimme hallte zwischen den Säulen, kein Zeichen senkte sich aus dem Nichts. Der Schrein blieb leer, das Becken trüb. Die achtarmige Figur, die in der Wand verborgen lag, wirkte nicht wie eine Göttin – sondern wie ein Prüfstein, der jeden Blick verschlang, ohne etwas zu erwidern.
In der sechsten Nacht entzündete sie die Kohlenbecken mit ihrem eigenen Blut, gemischt mit Öl aus Alraune, Bitterwurz und verbranntem Hautstaub – gesammelt von jenen, die ihr einst geopfert worden waren. Der Rauch brannte in den Lungen, trieb Tränen aus den Augen, die sie nicht zu wischen wagte, denn jede Träne galt als Geschenk, wenn sie freiwillig gegeben wurde.
Sie geißelte sich selbst mit Seidenranken, in die Splitter aus Obsidian eingewoben waren, sorgsam geschliffen, so fein, dass sie nicht schnitten, aber rissen. Nicht genug, um Narben zu hinterlassen – nur um das Fleisch zu mahnen, dass es lebt, und zu wem es gehört. Der Schmerz war rhythmisch, nicht willkürlich – jede Bewegung war ein Gebet, das der Körper sprach, wo der Mund versagte.
Und immer wieder war da der Altar – kalt, unbewegt, stumm –, ein Block aus schwarzem Stein, der weder Glanz noch Gnade zeigte, der nichts nahm, nichts gab, sondern nur wartete. Sie kauerte sich davor in Stunden, die keine Namen trugen, die nicht gezählt werden konnten, weil sie jenseits des Zählbaren lagen – zwischen dem ersten Zweifel und dem letzten Rest von Gewissheit. Das Gesicht dem Stein zugewandt, das Kinn gesenkt, der Atem ruhig – nicht aus Demut, sondern weil es in Gegenwart der Göttin nichts zu sagen gab, solange sie nicht gesprochen hatte.
In der neunten Nacht zitterte ihre Hand, als sie das Aschezeichen erneuerte – ein Kreis, durchzogen von acht Linien –, doch nicht aus Schwäche, sondern weil ihr das Schweigen langsam wie ein Gift die Sehnen durchtrennte. Kein Traum hatte sie berührt, kein Zeichen ihren Schlaf durchbrochen. Selbst der Wahnsinn, den viele in dieser Dunkelheit fanden, blieb ihr fern. Es war nicht Wahnsinn, was an ihr nagte – es war das Ausbleiben des Wahnsinns.
Am zehnten Tag öffnete sie die kleine Glasurne mit den Tempelspinnen, gezüchtet in der Tiefe, rein, klug, gesegnet. Acht davon ließ sie auf ihrer Haut wandeln, über den Rücken, die Schultern, den Hals – still, erwartungsvoll. Sie bot sich ihnen dar, wie ein Netz sich dem Wind öffnet, nicht um zu vergehen, sondern um zu prüfen, was hängenbleibt.
Die siebte Spinne starb bei ihrer Berührung.
Nicht durch Gewalt. Nicht durch Hitze. Nicht durch Gift. Einfach so – ihr Körper erstarrte, fiel seitlich um, die Beine zuckten ein letztes Mal, dann nichts. Jhea’kryna starrte auf den kleinen Leib, der sich noch an ihrer Haut befunden hatte, als das Leben ihn verließ, und für einen Moment glaubte sie, ein Flüstern zu hören – nicht von Lloth, sondern aus sich selbst: „Unwürdig.“
Sie sprach kein Wort. Sie hob die tote Spinne auf, legte sie auf ein Bett aus geweihter Seide, verbrannte sie im Rauch der Bitterdistel, während ihre Augen leer blieben – nicht aus Kälte, sondern aus Schutz. Denn Tränen hätten dem Tier gegolten. Und ihre Tränen galten nur Lloth.
Die verbliebenen Spinnen wichen nicht zurück. Doch keine suchte mehr ihre Nähe.
In dieser Nacht legte sie sich auf den kalten Stein, ohne Decke, ohne Kissen, den Kopf nach Osten, in jene Richtung, aus der einst das Zeichen der Berufung gekommen war – ein Fleck aus schwarzem Feuer, der sich in die Wand geätzt hatte. Er war längst verblasst. Und heute glaubte sie, er sei nie da gewesen.
Sie schlief nicht. Nicht wirklich. Ihre Gedanken webten sich umeinander wie Stränge eines zerfetzten Gebets – ohne Ordnung, ohne Anfang, ohne das Echo der Göttin, das sie früher in ihren Träumen besucht hatte. Stattdessen nur Leere. Keine Spinne sprach. Kein Nebel formte ein Bild. Kein Netz vibrierte.
Am Morgen stand sie auf, bar jeder Kraft, aber voller Ziel. Sie reinigte sich im kalten Wasser des unterirdischen Beckens, das nur über Umwege erreichbar war, nur von denen, die sich nicht zeigen wollten. Sie entzündete das Licht nicht. Sie sprach kein Wort. Sie sah sich im Wasser und erkannte sich – aber nicht mehr in der Form, wie sie von den anderen gesehen wurde, sondern so, wie sie wirklich war: ein Gefäß, das geprüft wurde, ob es noch taugte.
Sie trocknete sich nicht ab. Sie ließ das Wasser wie einen Mantel auf ihrer Haut verdampfen, und stellte sich vor das uralte Abbild der Göttin, deren Leib sich in der Dunkelheit erhob wie eine in Stein gebannte Warnung: Der schlanke Oberkörper einer Frau, aus kaltem Obsidian gehauen, die Arme erhoben im Zeichen des Befehls, das Antlitz unergründlich, schön und grausam zugleich, aufragend aus dem massiven Körper einer gewaltigen Spinne, deren Beine sich über den Sockel krümmten wie zum Sprung bereit. Es war kein Gesicht, das Trost versprach. Kein Leib, der gütig schien. Es war das Bild eines Wesens, das herrschte – oder zerschmetterte.
Stunden vergingen. Nichts bewegte sich.
Am Ende des Tages entzündete sie zum ersten Mal seit ihrem Rückzug das innere Feuer – nicht, um Wärme zu spenden, sondern um die Schatten zu vertreiben. Doch sie wichen nicht. Sie tanzten, wie sie es immer getan hatten. Nur dass sie heute… kalt waren.
Als sie sich niederließ, spürte sie es. Kein Schmerz. Keine Schwäche. Nur ein Ziehen – wie in einem Netz, das sich langsam schloss, aber nicht, um zu halten, sondern um zu würgen. Das Netz war noch da. Es war gespannt. Es war da. Aber es spannte sich gegen sie.
Und das war schlimmer als jede Verbannung. Schlimmer als jedes Urteil.
Denn solange das Netz da war, konnte sie noch fallen. Und nichts würde sie halten.
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- Registriert: 07 Mai 2025, 09:46
Noch gehöre ich ihr
Sie hatte das Blut gegeben, die Speisen verweigert, den Schmerz gelenkt, die Rituale erfüllt, sie hatte sich nicht beklagt, nicht gefordert, nicht gebettelt – und doch sprach Lloth nicht. Es war nicht das Schweigen einer beleidigten Göttin, nicht das Verstummen aus Zorn oder Enttäuschung. Es war das Schweigen eines Spinnennetzes, das längst gesponnen war und nun beobachtete, ob sich die Beute selbst verstrickte.
Jhea’kryna kniete auf dem Boden aus gesprungenem Schiefer, das Haar lose, die Lippen rissig vom Schweigen, die Augen trocken, nicht weil es keine Tränen gab, sondern weil es keine mehr geben durfte. Der Schrein war dunkel, das Feuer verloschen. Nur eine einzelne Spinne wanderte über den Rand des Beckens – träge, langsam, als trüge sie etwas Schweres in sich. Jhea'kryna beobachtete sie nicht. Sie sprach auch nicht mit ihr. Sie wartete.
Doch was kam, war keine Stimme.
Was kam, war ein Gedanke. Und dann ein Geruch. Feucht und schwer. Wie Fäulnis, die sich nicht in Fleisch, sondern in der Seele eingenistet hatte. Der Raum wurde nicht dunkler – er wurde dichter. Etwas schob sich hinein, nicht durch eine Tür, nicht durch einen Spalt, sondern durch die Gewissheit, dass man allein ist, wenn man es am wenigsten sein darf.
Sie hob den Kopf nicht. Nicht sofort. Denn sie kannte das Gefühl. Sie erinnerte sich an den Moment, an dem sie einer gefallenen Yathrin die Kehle aufschlitzte, weil sie gewagt hatte, zu träumen, ohne es der Göttin zu weihen – an das Zittern in ihren Augen, an das leise Flehen. Und sie wusste nun, dass ihre Verzweiflung weniger aus Angst vor dem Tod gekommen war – als aus der Erkenntnis, dass niemand kam, um sie zu retten.
Sie hob den Kopf – langsam, reglos wie eine Schlange. Vor ihr kein Feuer, kein Blut, keine Statue.
Nur Nebel. Fließend, grau, gelblich durchwirkt, dampfend wie ausgeatmete Schuld.
Darin: Bewegung.
Ein Umriss. Erst kaum mehr als ein Schatten, dann dichter, als würde der Raum selbst eine Gestalt gebären, die kein Fleisch, kein Stein, kein Rauch war – sondern alles zugleich.
Und dann ein Laut. Kein Lachen. Kein Keuchen. Etwas dazwischen.
Spott, der zu alt war, um noch menschlich zu klingen.
Sie sprach kein Wort. Denn sie wusste: Der Yochlol braucht keine Anrufung. Wenn er kommt, wurde sie bereits gerufen.
Er formte sich nicht wie ein Mensch, nicht wie ein Tier, nicht wie ein Dämon. Er war das, was übrig blieb, wenn ein Opfer nie ganz gebracht, ein Eid nie ganz erfüllt, ein Glaube nie ganz gegeben worden war. Tentakel, wabernd, blass und schlierig, krümmten sich durch den Nebel, berührten nichts – und doch war sein Gewicht spürbar, als wäre die Luft selbst zu dick geworden.
Sein „Gesicht“ – wenn man es so nennen konnte – war eine Maske aus vielen Formen. Frau, Spinne, Fratze, Rauch.
„Die Ilharess“, zischte er – und das Wort klang, als würde es durch verstopfte Kehlen gequetscht. „Die Tochter.“ „Die Auserwählte.“ „Die... Enttäuschte?“
Ein Laut folgte – ein kehliges, heiseres, feuchtes Lachen. „Oder die Enttäuschung?“
Jhea'kryna erhob sich nicht. Doch sie blickte auf. Und er lachte wieder.
„Du dachtest, du wärst vergessen worden. Dass ihre Gnade dir entzogen wurde. Dass ihr Blick sich abgewendet hat.“
Er trat näher – nicht mit Füßen, sondern mit Form. Der Nebel kroch, quoll, wuchs um sie herum, als wolle er sie umranken. Ein Tentakel wölbte sich nahe an ihre Schulter, ein zweiter vor ihr Brustbein. Keiner berührte sie. Keiner musste es.
„Du irrst. Du bist nicht verlassen. Du bist... versprochen.“
Jhea'kryna antwortete nicht, nicht weil sie zu schwach war, nicht weil sie sich fürchtete, sondern weil sie mit jeder Silbe, die sie in die Luft hätte setzen können, Gefahr lief, eine Wahrheit zu formen, deren bloße Existenz ihre Stellung hätte erschüttern können, denn Worte sind Klingen, und selbst ein Flüstern kann ein Schnitt sein, wenn es im Schatten eines Urteils gesprochen wird, das nicht mehr ausbleibt, sondern längst vollzogen wurde.
„Dein Blut hat nicht gereicht. Deine Schmerzen waren ehrlich. Dein Schweigen – bewundernswert. Aber dein Herz... hat gezögert.“
Der Tentakel, der sich langsam, mit beinahe gemessener Bedachtsamkeit, hinter sie senkte, blieb berührungslos und doch von einer Präsenz erfüllt, die den Raum selbst gegen ihren Rücken drückte wie eine feuchte Hand aus Nebel und Willen, aus Besitzanspruch und Verachtung, ein fremdes Gewicht, das sich nicht auf Haut und Fleisch, sondern auf Geist und Würde legte, und in diesem Abstand, diesem Nicht-Berühren, lag mehr Spott, mehr Überlegenheit, mehr Versprechen als in jedem Schlag, den ein sterblicher Feind ihr je zugefügt hatte.
„Du warst zu sicher“, flüsterte er, näher nun. „Du glaubtest, sie sei in dir. Doch du warst nie ihr Gefäß. Du warst... nützlich. Jetzt bist du... frei.“
Er lächelte nicht. Er atmete nicht. Doch die Luft vibrierte.
„Frei, mir zu gehören.“
Sie wagte nicht, sich zu rühren, nicht aus Furcht vor ihm – dem Ding, dem Boten, dem lauernden Abgrund –, sondern aus Furcht vor sich selbst, vor dem, was sie fühlen könnte, wenn sie sich eingestünde, dass seine Worte sie trafen, nicht wie ein Angriff, sondern wie ein Spiegel, den sie zu lange vermieden hatte; denn sie war sich bewusst, dass sie sich nicht nur geprüft, sondern selbst beurteilt hatte in den vergangenen Tagen, und dass das Urteil, so bitter es auch gewesen sein mochte, nicht falsch war – sie hatte gezögert, in jenen Augenblicken, in denen Hingabe keine Liturgie war, sondern Feuer, keine Disziplin, sondern völliges Verlöschen.
Er sprach nicht weiter, doch das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus, wurde greifbar, wurde dichter als Nebel, schwerer als Luft, und in diesem Schweigen lag kein Respekt, keine Andeutung von Gleichrangigkeit – es war das Schweigen eines Jägers, der bereits weiß, dass die Beute nicht fliehen wird, das Schweigen eines Wesens, das nicht fragen muss, ob etwas ihm gehört, weil der Besitz längst stillschweigend übergegangen ist, weil der Wille, sich zu entziehen, so sehr er auch behauptet wird, schon gebrochen wurde, als der Zweifel Wurzeln schlug.
Und für einen winzigen Moment – einen, den kein Sterblicher je bemerkt hätte, den kein Priester in ein Gebet hätte kleiden können – glaubte etwas in ihr zu nicken, zuzugeben, sich zu fügen. Die Versuchung, sich selbst auszusprechen wie einen überfälligen Namen: verloren. Denn alles, was sie sah, war Leere, und alles, was sie spürte, war das sanfte Spannen des Netzes, nicht um sie, sondern gegen sie, kalt und endgültig.
Doch Jhea’kryna Ky’Alur war nicht in diesen Tempel zurückgekehrt, um zu weinen. Sie war nicht gefallen, sie war gestiegen – hinab. Sie war nicht stumm, weil sie gebrochen war, sondern weil sie wartete, weil sie prüfte, weil sie sich nicht verschenkte, sondern nur jenen offenbarte, die es wagten, sie anzuzweifeln.
Und als sich der Yochlol in dieser letzten Geste des Triumphs zu schließen begann, seine Tentakel enger wob, ohne sie zu berühren, als seine Form sich so sicher um ihre Bedeutung legte wie eine Urkunde aus Fleisch und Nebel, da hob sie den Blick, nicht mit Trotz, nicht mit Trotz – sondern mit Gewissheit.
„Ich habe sie nicht verlassen,“ sagte sie, leise, aber in einer Tonlage, die keine Reaktion zuließ, nur Anerkennung oder Zorn. „Ich bin noch hier.“
Es war kein Flehen. Es war kein Wunsch. Es war ein Urteil – gegen ihn. Und für einen Atemzug lang erstarrte der Nebel. Die Tentakel bewegten sich nicht. Der Yochlol sagte nichts.
Denn auch das war möglich: Dass sie nicht versagt hatte. Dass sie nicht mehr gehört wurde, weil sie geprüft wurde. Dass sie nicht verloren war – sondern aus dem Schatten beobachtet.
Und vielleicht, nur vielleicht, hatte er sich geirrt.
Nur für einen Moment.
Der Nebel vibrierte, flackerte, als hätte ihre Stimme – so leise sie war – einen Riss durch sein Zentrum gezogen, nicht durch Lautstärke, nicht durch Macht, sondern durch die Gewissheit, dass sie trotz allem noch gehörte, wenn nicht von ihm, so doch von der, die über ihm stand. Der Yochlol bewegte sich nicht, doch sein Formspiel begann zu entgleiten: Die Tentakel verzogen sich, nicht flüchtend, sondern wie durch eine Kraft gelöst, die ihn fortrief – nicht mit Worten, nicht mit Bann, sondern mit einem Willen, der über seinem eigenen stand.
Er drehte sich nicht um, denn Wesen wie er hatten kein Oben, kein Unten, keinen Rücken, den man zeigen könnte. Aber in seiner Bewegung lag der Schatten eines Zögerns, eines Frustes, der nicht Wut war, sondern etwas viel Tieferes: das Begreifen, dass der Besitz nur einen Atemzug lang greifbar gewesen war, dass der Moment, der ihm versprochen schien, ihm nun entglitt – nicht durch Flucht, sondern durch Behauptung.
Sein letztes Laut war nicht Lachen, nicht Drohung, nicht Zischen – sondern ein dumpfer, nasaler Laut, der wie „noch“ klang, oder „nicht jetzt“, oder „sie kommt zurück“.
Dann war er fort.
Und in der plötzlichen Leere, die er hinterließ, sackte Jhea’kryna langsam in sich zusammen, nicht wie eine Gebrochene, sondern wie etwas, das keinen Halt mehr hat, weil alle Strukturen um es herum für einen Moment aufgehört hatten zu tragen. Ihre Knie berührten den kalten Stein, ihr Kopf senkte sich, die Schultern schwer von etwas, das weder Schuld noch Schwäche war – nur Erschöpfung. Kein Schrei, kein Laut, nur das lautlose Umkippen einer Präsenz, die sich selbst überfordert hatte, ohne es einzugestehen.
Die Dunkelheit kam nicht wie Schlaf, nicht wie Gnade, sondern wie der Sturz in ein Netz, das nicht auffängt, sondern geschaffen wurde um zu verschlingen.
Jhea’kryna kniete auf dem Boden aus gesprungenem Schiefer, das Haar lose, die Lippen rissig vom Schweigen, die Augen trocken, nicht weil es keine Tränen gab, sondern weil es keine mehr geben durfte. Der Schrein war dunkel, das Feuer verloschen. Nur eine einzelne Spinne wanderte über den Rand des Beckens – träge, langsam, als trüge sie etwas Schweres in sich. Jhea'kryna beobachtete sie nicht. Sie sprach auch nicht mit ihr. Sie wartete.
Doch was kam, war keine Stimme.
Was kam, war ein Gedanke. Und dann ein Geruch. Feucht und schwer. Wie Fäulnis, die sich nicht in Fleisch, sondern in der Seele eingenistet hatte. Der Raum wurde nicht dunkler – er wurde dichter. Etwas schob sich hinein, nicht durch eine Tür, nicht durch einen Spalt, sondern durch die Gewissheit, dass man allein ist, wenn man es am wenigsten sein darf.
Sie hob den Kopf nicht. Nicht sofort. Denn sie kannte das Gefühl. Sie erinnerte sich an den Moment, an dem sie einer gefallenen Yathrin die Kehle aufschlitzte, weil sie gewagt hatte, zu träumen, ohne es der Göttin zu weihen – an das Zittern in ihren Augen, an das leise Flehen. Und sie wusste nun, dass ihre Verzweiflung weniger aus Angst vor dem Tod gekommen war – als aus der Erkenntnis, dass niemand kam, um sie zu retten.
Sie hob den Kopf – langsam, reglos wie eine Schlange. Vor ihr kein Feuer, kein Blut, keine Statue.
Nur Nebel. Fließend, grau, gelblich durchwirkt, dampfend wie ausgeatmete Schuld.
Darin: Bewegung.
Ein Umriss. Erst kaum mehr als ein Schatten, dann dichter, als würde der Raum selbst eine Gestalt gebären, die kein Fleisch, kein Stein, kein Rauch war – sondern alles zugleich.
Und dann ein Laut. Kein Lachen. Kein Keuchen. Etwas dazwischen.
Spott, der zu alt war, um noch menschlich zu klingen.
Sie sprach kein Wort. Denn sie wusste: Der Yochlol braucht keine Anrufung. Wenn er kommt, wurde sie bereits gerufen.
Er formte sich nicht wie ein Mensch, nicht wie ein Tier, nicht wie ein Dämon. Er war das, was übrig blieb, wenn ein Opfer nie ganz gebracht, ein Eid nie ganz erfüllt, ein Glaube nie ganz gegeben worden war. Tentakel, wabernd, blass und schlierig, krümmten sich durch den Nebel, berührten nichts – und doch war sein Gewicht spürbar, als wäre die Luft selbst zu dick geworden.
Sein „Gesicht“ – wenn man es so nennen konnte – war eine Maske aus vielen Formen. Frau, Spinne, Fratze, Rauch.
„Die Ilharess“, zischte er – und das Wort klang, als würde es durch verstopfte Kehlen gequetscht. „Die Tochter.“ „Die Auserwählte.“ „Die... Enttäuschte?“
Ein Laut folgte – ein kehliges, heiseres, feuchtes Lachen. „Oder die Enttäuschung?“
Jhea'kryna erhob sich nicht. Doch sie blickte auf. Und er lachte wieder.
„Du dachtest, du wärst vergessen worden. Dass ihre Gnade dir entzogen wurde. Dass ihr Blick sich abgewendet hat.“
Er trat näher – nicht mit Füßen, sondern mit Form. Der Nebel kroch, quoll, wuchs um sie herum, als wolle er sie umranken. Ein Tentakel wölbte sich nahe an ihre Schulter, ein zweiter vor ihr Brustbein. Keiner berührte sie. Keiner musste es.
„Du irrst. Du bist nicht verlassen. Du bist... versprochen.“
Jhea'kryna antwortete nicht, nicht weil sie zu schwach war, nicht weil sie sich fürchtete, sondern weil sie mit jeder Silbe, die sie in die Luft hätte setzen können, Gefahr lief, eine Wahrheit zu formen, deren bloße Existenz ihre Stellung hätte erschüttern können, denn Worte sind Klingen, und selbst ein Flüstern kann ein Schnitt sein, wenn es im Schatten eines Urteils gesprochen wird, das nicht mehr ausbleibt, sondern längst vollzogen wurde.
„Dein Blut hat nicht gereicht. Deine Schmerzen waren ehrlich. Dein Schweigen – bewundernswert. Aber dein Herz... hat gezögert.“
Der Tentakel, der sich langsam, mit beinahe gemessener Bedachtsamkeit, hinter sie senkte, blieb berührungslos und doch von einer Präsenz erfüllt, die den Raum selbst gegen ihren Rücken drückte wie eine feuchte Hand aus Nebel und Willen, aus Besitzanspruch und Verachtung, ein fremdes Gewicht, das sich nicht auf Haut und Fleisch, sondern auf Geist und Würde legte, und in diesem Abstand, diesem Nicht-Berühren, lag mehr Spott, mehr Überlegenheit, mehr Versprechen als in jedem Schlag, den ein sterblicher Feind ihr je zugefügt hatte.
„Du warst zu sicher“, flüsterte er, näher nun. „Du glaubtest, sie sei in dir. Doch du warst nie ihr Gefäß. Du warst... nützlich. Jetzt bist du... frei.“
Er lächelte nicht. Er atmete nicht. Doch die Luft vibrierte.
„Frei, mir zu gehören.“
Sie wagte nicht, sich zu rühren, nicht aus Furcht vor ihm – dem Ding, dem Boten, dem lauernden Abgrund –, sondern aus Furcht vor sich selbst, vor dem, was sie fühlen könnte, wenn sie sich eingestünde, dass seine Worte sie trafen, nicht wie ein Angriff, sondern wie ein Spiegel, den sie zu lange vermieden hatte; denn sie war sich bewusst, dass sie sich nicht nur geprüft, sondern selbst beurteilt hatte in den vergangenen Tagen, und dass das Urteil, so bitter es auch gewesen sein mochte, nicht falsch war – sie hatte gezögert, in jenen Augenblicken, in denen Hingabe keine Liturgie war, sondern Feuer, keine Disziplin, sondern völliges Verlöschen.
Er sprach nicht weiter, doch das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus, wurde greifbar, wurde dichter als Nebel, schwerer als Luft, und in diesem Schweigen lag kein Respekt, keine Andeutung von Gleichrangigkeit – es war das Schweigen eines Jägers, der bereits weiß, dass die Beute nicht fliehen wird, das Schweigen eines Wesens, das nicht fragen muss, ob etwas ihm gehört, weil der Besitz längst stillschweigend übergegangen ist, weil der Wille, sich zu entziehen, so sehr er auch behauptet wird, schon gebrochen wurde, als der Zweifel Wurzeln schlug.
Und für einen winzigen Moment – einen, den kein Sterblicher je bemerkt hätte, den kein Priester in ein Gebet hätte kleiden können – glaubte etwas in ihr zu nicken, zuzugeben, sich zu fügen. Die Versuchung, sich selbst auszusprechen wie einen überfälligen Namen: verloren. Denn alles, was sie sah, war Leere, und alles, was sie spürte, war das sanfte Spannen des Netzes, nicht um sie, sondern gegen sie, kalt und endgültig.
Doch Jhea’kryna Ky’Alur war nicht in diesen Tempel zurückgekehrt, um zu weinen. Sie war nicht gefallen, sie war gestiegen – hinab. Sie war nicht stumm, weil sie gebrochen war, sondern weil sie wartete, weil sie prüfte, weil sie sich nicht verschenkte, sondern nur jenen offenbarte, die es wagten, sie anzuzweifeln.
Und als sich der Yochlol in dieser letzten Geste des Triumphs zu schließen begann, seine Tentakel enger wob, ohne sie zu berühren, als seine Form sich so sicher um ihre Bedeutung legte wie eine Urkunde aus Fleisch und Nebel, da hob sie den Blick, nicht mit Trotz, nicht mit Trotz – sondern mit Gewissheit.
„Ich habe sie nicht verlassen,“ sagte sie, leise, aber in einer Tonlage, die keine Reaktion zuließ, nur Anerkennung oder Zorn. „Ich bin noch hier.“
Es war kein Flehen. Es war kein Wunsch. Es war ein Urteil – gegen ihn. Und für einen Atemzug lang erstarrte der Nebel. Die Tentakel bewegten sich nicht. Der Yochlol sagte nichts.
Denn auch das war möglich: Dass sie nicht versagt hatte. Dass sie nicht mehr gehört wurde, weil sie geprüft wurde. Dass sie nicht verloren war – sondern aus dem Schatten beobachtet.
Und vielleicht, nur vielleicht, hatte er sich geirrt.
Nur für einen Moment.
Der Nebel vibrierte, flackerte, als hätte ihre Stimme – so leise sie war – einen Riss durch sein Zentrum gezogen, nicht durch Lautstärke, nicht durch Macht, sondern durch die Gewissheit, dass sie trotz allem noch gehörte, wenn nicht von ihm, so doch von der, die über ihm stand. Der Yochlol bewegte sich nicht, doch sein Formspiel begann zu entgleiten: Die Tentakel verzogen sich, nicht flüchtend, sondern wie durch eine Kraft gelöst, die ihn fortrief – nicht mit Worten, nicht mit Bann, sondern mit einem Willen, der über seinem eigenen stand.
Er drehte sich nicht um, denn Wesen wie er hatten kein Oben, kein Unten, keinen Rücken, den man zeigen könnte. Aber in seiner Bewegung lag der Schatten eines Zögerns, eines Frustes, der nicht Wut war, sondern etwas viel Tieferes: das Begreifen, dass der Besitz nur einen Atemzug lang greifbar gewesen war, dass der Moment, der ihm versprochen schien, ihm nun entglitt – nicht durch Flucht, sondern durch Behauptung.
Sein letztes Laut war nicht Lachen, nicht Drohung, nicht Zischen – sondern ein dumpfer, nasaler Laut, der wie „noch“ klang, oder „nicht jetzt“, oder „sie kommt zurück“.
Dann war er fort.
Und in der plötzlichen Leere, die er hinterließ, sackte Jhea’kryna langsam in sich zusammen, nicht wie eine Gebrochene, sondern wie etwas, das keinen Halt mehr hat, weil alle Strukturen um es herum für einen Moment aufgehört hatten zu tragen. Ihre Knie berührten den kalten Stein, ihr Kopf senkte sich, die Schultern schwer von etwas, das weder Schuld noch Schwäche war – nur Erschöpfung. Kein Schrei, kein Laut, nur das lautlose Umkippen einer Präsenz, die sich selbst überfordert hatte, ohne es einzugestehen.
Die Dunkelheit kam nicht wie Schlaf, nicht wie Gnade, sondern wie der Sturz in ein Netz, das nicht auffängt, sondern geschaffen wurde um zu verschlingen.
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Was würdest du opfern, wenn niemand es sieht?
Es war kein Erwachen. Es war auch kein Träumen. Es war das Erspüren eines Ortes, der nicht Raum war, sondern Zustand – nicht begrenzt durch Geometrie oder Temperatur, sondern durch das, was unausgesprochen zwischen Macht und Schuld, zwischen Göttin und Dienerin webt. Jhea’kryna öffnete die Augen, oder glaubte es zu tun, doch es gab keinen Horizont, keinen Boden, keine Decke. Stattdessen war da das Netz. Es spannte sich in alle Richtungen, über, unter, neben ihr, aus Fäden so dick wie Bäume, wie Gänge, wie Brücken – Spinnenweben, gewoben aus etwas, das nicht Seide war, sondern Erkenntnis, Erinnerung, Wille. Manche waren haarfein, andere groß genug, dass man auf ihnen stehen, gehen, kämpfen konnte. Der Blick verlor sich in der Tiefe, in der Höhe, in der Weite – und alles wirkte so uralt, so absichtsvoll, dass sich unwillkürlich die Frage in ihr regte, welches Wesen dies alles gesponnen hatte. Nicht nur die Göttin – etwas Tieferes. Etwas, das auch sie kannte, aber nie benannt hatte.
Sie stand. Ob sie es wollte oder nicht. Der Faden unter ihren Füßen gab nicht nach, sondern hielt sie mit einer Selbstverständlichkeit, die dem Körper befahl, zu vertrauen, auch wenn der Verstand schrie. Und so ging sie. Schritt für Schritt durch das Netz, das nicht vibrierte, nicht flüsterte, nicht warnte. Es wartete. Jeder Schritt war still, jeder Atemzug schwer. Jedes Auflehnen gegen die Leere führte zu einer neuen Verzweigung – als würde das Netz sie selbst neu weben.
Dann kam der Wandel. Kein Riss, kein Licht – nur ein Übergang, fließend wie ein Gedanke, der Form annimmt. Und plötzlich war sie in Elashinn. Nicht ihr Elashinn, das sie kannte, sondern in einem verzerrten Schatten davon. Die Gänge waren enger, die Wände feuchter, die Luft schwer. Die Stadt war da – aber sie war gegen sie. Die Blicke, die ihr zugeworfen wurden, waren nicht ehrfürchtig, nicht unterwürfig, nicht einmal ängstlich.
Sie waren verächtlich.
Ein Zischen erhob sich. Ein Spucken. Stimmen begannen, Worte zu formen, die ihr galten, doch nicht als Titel, sondern als Schande: „Betrügerin.“ – „Verlorene.“ – „Nichts bist du, keine Ilharess, nur Hülle, nur Fleisch, das Lloth längst ausgespuckt hat.“
Etwas traf sie am Kopf. Sie blutete. Stürzte. Sie versuchte, sich aufzurichten. Sie versuchte, zu sprechen. Ihr eigener Name lag auf der Zunge wie ein Bann, der die Ordnung zurückbringen sollte – doch nichts kam. Kein Glanz. Kein Echo. Kein Gewicht.
Der Dreck traf sie wie Rufe. Faulige Substanz, brennender Staub, kalte Spucke. Ihre Haut spannte sich. Ihr Herz nicht. Denn sie verstand: Das war nicht Demütigung. Das war Spiegel. Das war das Netz, das ihr zeigte, wie es wäre, wenn sie nicht mehr Teil davon war. Keine Feinde, keine Rebellion – nur Gleichgültigkeit, die sich in Hass wandelte, weil sie einst wichtig gewesen war. Jetzt war sie es nicht.
Und dann stand sie vor dem Qu’ellar.
Es war da, wie es immer war, doch es trug die Spuren einer Welt, in der nichts mehr bejaht wurde, sondern nur noch geduldet – verzerrt, dunkler, breiter, toter, als habe das Qu’ellar selbst vergessen, wozu es einst erbaut worden war. Die Türen standen offen, nicht als Einladung, sondern weil niemand mehr da war, der sie verschloss. Keine Wache, kein Diener, keine Priesterin, die niederkniete, sobald der Schatten der Ilharess die Schwelle berührte. Niemand hielt sie auf. Niemand sah sie. Nur die Leere erwartete sie, und sie trat ein wie eine Fremde an einem Ort, den sie einst geformt hatte.
Der Thronsaal lag vor ihr wie ein gespiegeltes Echo – er war da, doch ohne Stimme, ohne Zentrum. Kein Stab. Kein Netzbanner. Kein Zeichen von ihr. Nur der Raum selbst. Und inmitten dieses Schweigens standen drei Gestalten, die sich langsam erhoben, als hätte man sie mit dem Stein vernäht, als seien sie nicht gekommen, sondern immer schon hier gewesen. Drei Versionen ihrer selbst. Drei Möglichkeiten, drei Irrwege. Drei Spiegel, von denen nur einer zerspringen durfte.
Die erste war jung – zu jung, zu rein, zu offen. In ihren Augen lag das flackernde Licht jener Ideale, die in der Dunkelheit nicht überleben, weil sie nie für sie geschaffen wurden. Ihre Haltung war aufrecht, aber weich. Ihre Hände waren sauber, ihre Robe schlicht, ohne Rang, ohne Furcht. Keine Intrige, keine List, kein Verrat hatte sie je gestreift. Es war ein Blick, der nicht verstand, was Schuld war – nur Sehnsucht, zart und gefährlich. Die Sehnsucht nach einem Drow-Reich, das nie existiert hatte, das Lloth nie gewollt hatte. Ein Blick, der in der wahren Tiefe nie überlebt hätte.
Die zweite war gekrümmt, nicht alt, aber gebrochen, als hätte das Netz sie zu Boden gedrückt und vergessen, wieder loszulassen. Um ihren Hals und ihre Handgelenke lagen schwere Ketten, aus Knochen, aus Schatten, aus Gehorsam – doch keines der Glieder war befestigt. Sie waren verinnerlicht. Der Blick dieser Jhea'kryna irrte, zuckte, wich jedem Versuch der Begegnung aus. Ihre Knie berührten den Boden, nicht aus Ehrerbietung, sondern aus Gewohnheit. Sie war ein Werkzeug, das sich nicht mehr an die Hand erinnerte, die es führte. Nicht gefährlich – aber bedeutungslos.
Und die dritte...
Sie stand aufrecht. Ihre Stimme hallte, bevor der Mund sich bewegte – eine Litanei, auswendig gelernt, immer weiter gesprochen, auch wenn niemand mehr zuhörte. Es war ein unaufhörliches Wispern, ein Strang von Versen, Opfergeboten, Drohungen, Befehlen – doch ohne Ziel. Ihr Blick war leer, durchdringend, glänzend von der Idee göttlicher Nähe, ohne zu verstehen, was Nähe kostet. Ihre Bewegungen waren präzise, aber sinnlos. Ihre Hände zitterten nicht, weil sie längst nicht mehr aus Fleisch, sondern nur noch aus Doktrin bestanden. Sie betete – nicht zur Göttin, sondern zum Bild der Göttin, das sie selbst erschaffen hatte. Fanatisch. Selbstvergessen. Gefährlich.
Jhea'kryna stand vor ihnen. Und sie erkannte.
Diese Wahl war kein Urteil über Vergangenheit. Sie war ein Bekenntnis zur Zukunft. Sie sah, was sie war. Was sie gewesen war. Was sie hätte werden können – oder noch werden würde, wenn sie nicht jetzt, in diesem Moment, entschied.
Die Junge war schwach. Aber rein. Sie erinnerte an einen Teil, den sie längst geopfert hatte. Der nicht zurückkehren würde. Den sie nicht fürchten musste.
Die Gebrochene war unbrauchbar. Kein Feind. Kein Halt. Nur Ballast.
Aber die Fanatische... war ein Warnruf.
Sie war die Jhea'kryna , die glaubte, zu dienen – und längst nur sich selbst bekräftigte. Die ihre Klinge hob, ohne Grund, ohne Urteil, nur im Namen eines Gottes, der gar nicht mehr zuhörte. Sie war das Gespenst der Macht ohne Maß. Das Gesicht der Ilharess, wenn sie das Netz missverstand – als Waffe, nicht als Chaos.
Jhea'kryna trat vor.
Sie sprach kein Urteil. Denn Worte waren zu viel für das, was längst klar war. Sie hob die Hand. Eine Klinge war da. Immer schon. Niemand hatte sie ihr gereicht.
Sie trat an die Fanatische heran. Sah in ihre eigenen Augen – und sah: Nichts.
Und sie stieß zu.
Die Klinge durchdrang die Haut ohne Widerstand, als hätte sie darauf gewartet, geführt zu werden, als wäre ihr Schnitt kein Bruch mit dem Leben, sondern ein geheimer Vers, den nur das Fleisch zu sprechen vermochte. Es war kein Schmerz – nicht in dem Sinn, wie Sterbliche ihn kennen. Es war ein Aufreißen auf einer anderen Ebene, ein leiser Riss, durch den nicht Blut, sondern Bindung floss. Nicht Schrecken, nicht Reue – nur Klarheit.
Sie fiel nicht sofort. Ihr Körper verharrte einen Moment, aufrecht, unbewegt, die Klinge tief in ihrer Seite, den Griff noch in der Hand, als wäre er der letzte Halt an einem Netz, das sich längst unter ihr zurückgezogen hatte. Dann ließ sie los. Und in dem Moment, in dem die Waffe den Boden berührte, veränderte sich alles.
Die Luft flimmerte – als würde eine unsichtbare Struktur sich entfalten, still, unausweichlich
Sie war nicht allein. Vier Gestalten standen um sie, erschienen in der Stille wie aus der Tiefe des Netzes selbst gewoben – Ly’saar, Dhaunae, Xael’vyra und Alniira. Nicht als Richterinnen, nicht als Töchter oder Verbündete – sondern als Spiegel, als Fäden, als Zeuginnen. Und in dem Moment, da ihr Blut das Netz berührte, begannen sie sich zu verändern.
Ihre Umrisse verschwammen, wurden heller, durchscheinender, als bestünde ihre Gestalt nicht aus Körper, sondern aus Idee. Ly’saars Züge flackerten, wurden für einen Wimpernschlag von weicher Unsicherheit durchzogen. Dhaunae sah sie an – wirklich an – mit einer Ruhe, die nicht Kind war, sondern Spiegel. Xael’vyra senkte den Blick, aber nicht aus Schwäche, sondern aus Anerkennung. Und Alniira – Alniira lächelte nicht. Aber sie stand fester als je zuvor.
Jhea’kryna sackte auf die Knie. Der Boden war nicht hart. Er war auch nicht weich. Er war: Urteil. Und das Netz – das Netz spannte sich. Nicht eng. Nicht bedrohlich. Es spannte sich, als würde es neu gewebt. Nicht von ihr. Nicht für sie. Sondern um sie herum. In ihr. Durch sie hindurch.
Langsam, ohne Hast, ohne Eile, aber mit einer Klarheit, die ihr ganzes Wesen durchdrang, richtete sich Jhea'kryna wieder auf. Nicht abrupt, nicht als Trotz, sondern wie eine, die weiß, dass der letzte Schritt nur im Stehen getan werden kann. Das Netz wartete nicht auf Entschuldigungen. Es verlangte Vollendung.
Erst dann ließ sie ihren Blick über Alniira gleiten. Das Gesicht war ruhig, beinahe entschlossen. Als hätte sie die Prüfung längst erwartet – und sich auf ihren Tod vorbereitet. Einmal bereits hatte sie sich von ihr abgewandt, einmal Verrat geübt, und einmal hatte Jhea'kryna sie zurückgeholt, nicht aus Schwäche, sondern aus göttlich gesprochenem Willen. Doch was ist Vergebung wert, wenn sie nicht das Ende markiert? Was ist ein Schwur, der sich verbiegt, sobald niemand mehr zusieht? Und doch... war da etwas, das blieb. Die Reue, vielleicht. Oder die Angst. Oder das, was Lloth zurückforderte.
Sie wandte sich zu Dhaunae, die älter wirkte, kälter, stolzer, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Eine Tochter, ja – aber auch eine Waffe, ein Spiegel, ein Anspruch. Sie hatte Blicke bemerkt. Worte gehört. Noch nicht Rebellion, aber der Wunsch nach mehr – nach dem Thron. Nach dem Netz, das ihrer Mutter gehörte. Es lag in ihr. Und Jhea'kryna wusste es. Aber es war kein Feind. Es war das Echo ihrer selbst.
Neben ihr stand Xael’vyra, jung noch, aber messerscharf in allem, was sie sagte – oder nicht sagte. Der zweite Pfeil im Köcher, der nicht für den ersten Schutz gedacht war, sondern für die Beute, die sich als stärker erwies. Auch sie suchte ihren Weg, ihre Macht, ihre eigene Weihe durch Lloth. Und Jhea'kryna hatte es zugelassen – weil sie glaubte, es sei Stärke. Aber war es nicht auch Schwäche gewesen, beide wachsen zu lassen, ohne ihnen Grenzen zu setzen?
Und da war Ly’saar. Ihr Ilharn. Der Geduldige. Der Ehrgeizige. Der, der ihre Befehle befolgte – manchmal mit Blicken, die zu lange verweilten. Der sie verstand – vielleicht zu gut. Der Fragen stellte, wenn andere schwiegen. Wenn einer sie einst in Zweifel stürzen könnte, dann er.
Jhea'kryna atmete flach. Ihre Finger zitterten nicht. Die Klinge lag vor ihr auf einer Empore. Keine Runen. Kein Glanz. Nur kaltes Metall. Doch ihr Blick wanderte nicht mehr über die vier.
Er fiel nach innen.
Nicht auf eine der vier. Nicht auf einen Namen, nicht auf Schuld, nicht auf Misstrauen. Er fiel dorthin, wo das Netz am dichtesten war – in ihr. In das Zentrum. Dorthin, wo alle Fäden sich trafen, wo Entscheidungen gesponnen, Schwüre gebunden, Opfer gegeben worden waren. Dort, wo es keine Ausflüchte mehr gab. Kein Flüstern. Kein Spiegel. Nur Erkenntnis.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung – grausam in ihrer Klarheit, erbarmungslos in ihrer Logik. Denn keiner der Anwesenden war zum Sterben hier.
Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Nicht weil sie gefallen war. Nicht weil sie zu wenig gebetet, zu wenig geopfert, zu wenig gezweifelt hatte.
Sondern weil sie es wusste.
Sie war der Punkt im Netz, der alles verband. Ihre Stärke hatte Fäden geformt, ihr Wille hatte sie gehalten. Und darum war es ihr Körper, ihr Blut, ihr Name, an dem das Netz sich nun messen würde.
Langsam hob sie die Klinge.
Sie sprach kein Wort. Kein Befehl, keine Litanei, kein Ruf an Lloth. Was gesagt werden musste, war längst gewebt. Kein Blick ging zurück zu den anderen – nicht aus Kälte, sondern weil ihre Entscheidung nicht von ihnen abhängig war.
Nur ein einziger Gedanke, still, kalt, endgültig, formte sich zwischen Herz und Hand:
Wenn etwas geopfert werden muss, damit das Netz bestehen bleibt – dann sei es ich.
Und sie setzte die Klinge an. Keine Zögerung. Kein Schmerz.
Nur das letzte Glied – und das Ziehen des Fadens.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung. Keine ihrer Untergebenen, keine ihrer Töchter, kein Schatten, kein Licht – keiner war gekommen, um geopfert zu werden. Sie waren Spiegel. Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Es gab kein Aufschrei, keine Erschütterung, kein göttliches Zeichen, das den Raum zerriss oder das Ende verkündete. Kein Leuchten, kein Flüstern, kein Wind. Nur der Moment, in dem Klinge auf Fleisch traf, in dem das Opfer zur Handlung wurde, nicht aus Verzweiflung, sondern aus der ruhigen Konsequenz eines Willens, der sich nicht über das Netz stellte, sondern in es hineinlegte. Und danach – Stille. Nicht leer. Nicht tot. Sondern erfüllt von einer Dichte, die spürbar war wie eine gespannte Seide, deren Mittelpunkt neu gebunden wurde.
Die Gestalten um sie, eben noch still und gespannt, lösten sich auf – wie Schatten, die nur darauf gewartet hatten, zu vergehen, sobald der letzte Faden gezogen war. Ly’saar verschwand zuerst – mit jenem stillen Ernst, der nie Antwort verlangte. Dhaunae und Xael’vyra folgten, beide ohne Bitterkeit, ohne Trotz, als hätten sie verstanden, was ihnen zuteil wurde, ohne es benennen zu können. Alniira war die Letzte – ihr Blick verweilte, fest, wach, beinahe fordernd, und doch ohne Vorwurf, nur mit der Ahnung, dass dies der Faden war, an dem auch ihre eigene Schuld hing. Dann war auch sie fort.
Spinnen erschienen.
Keine Scharen. Nur acht an der Zahl. Ein gutes Zeichen, oder ein verheerendes Urteil.
Schwarz. Lautlos. Groß genug, um Gewicht zu haben. Klein genug, um sich durch jede Öffnung zu zwängen. Sie krochen aus dem Schatten, der keiner war, in einem Rhythmus, der an Atem erinnerte. Sie näherten sich ihr nicht in Hast. Sie eilten nicht. Sie wussten.
Eine von ihnen erklomm ihre Hand, langsam, scharfbeinige Schritte auf der blassen Haut, hinterließ feine Linien, die nicht bluteten, sondern brannten. Eine andere legte sich auf ihren Oberschenkel, krümmte sich dort wie ein Siegel. Zwei wanden sich um ihren Nacken, ineinander verschlungen, als webten sie dort ein neues Band.
Sie wehrte sich nicht, denn das war kein Angriff. Es war Annahme. Die Spinnen krochen über ihre Schultern, ihre Schläfen, ihre Hüften, als webten sie ein stilles Siegel in ihre Haut, ein Muster, das niemand lesen konnte, außer der Göttin selbst. Der Schmerz war nicht das Ende – sondern der Beginn.
Über dem Altar veränderte sich nichts. Keine Erscheinung, keine göttliche Gestalt, keine Manifestation. Und doch war da etwas: ein Druck in der Luft, ein Weben im Raum, eine Spannung, die sich nicht legte, sondern verdichtete – nicht bedrohlich, nicht segnend, sondern einfach: da. Es war, als hätte das Netz selbst sich gestrafft, als hätte es einen neuen Zug aufgenommen, als hätte sich die Ordnung neu geformt. Kein Faden riss. Kein Knoten löste sich. Doch etwas spannte sich fester, als wäre der Riss, den niemand sah, mit Bedeutung gefüllt worden.
In der Tiefe – nicht des Raumes, sondern der Struktur, die ihn durchzog – vibrierte etwas. Kein Name. Keine Stimme. Kein Wort. Nur das Bewusstsein, dass gesehen worden war, was gegeben wurde. Und dass es angenommen worden war, ohne Antwort, ohne Bestätigung, ohne Preis. Denn das Netz belohnt nicht. Es trägt, und es erinnert.
Und Lloth, irgendwo jenseits dieses Raumes, jenseits jeder Form, jenseits aller Zeichen, sah. Nicht wie eine Mutter. Nicht wie eine Richterin. Sondern wie das Wesen, das sie war: Spinne. Weberin. Göttin. Und sie sprach nicht. Denn was gesprochen werden müsste, war längst getan - und Jhea'kryna verstand.
Sie stand. Ob sie es wollte oder nicht. Der Faden unter ihren Füßen gab nicht nach, sondern hielt sie mit einer Selbstverständlichkeit, die dem Körper befahl, zu vertrauen, auch wenn der Verstand schrie. Und so ging sie. Schritt für Schritt durch das Netz, das nicht vibrierte, nicht flüsterte, nicht warnte. Es wartete. Jeder Schritt war still, jeder Atemzug schwer. Jedes Auflehnen gegen die Leere führte zu einer neuen Verzweigung – als würde das Netz sie selbst neu weben.
Dann kam der Wandel. Kein Riss, kein Licht – nur ein Übergang, fließend wie ein Gedanke, der Form annimmt. Und plötzlich war sie in Elashinn. Nicht ihr Elashinn, das sie kannte, sondern in einem verzerrten Schatten davon. Die Gänge waren enger, die Wände feuchter, die Luft schwer. Die Stadt war da – aber sie war gegen sie. Die Blicke, die ihr zugeworfen wurden, waren nicht ehrfürchtig, nicht unterwürfig, nicht einmal ängstlich.
Sie waren verächtlich.
Ein Zischen erhob sich. Ein Spucken. Stimmen begannen, Worte zu formen, die ihr galten, doch nicht als Titel, sondern als Schande: „Betrügerin.“ – „Verlorene.“ – „Nichts bist du, keine Ilharess, nur Hülle, nur Fleisch, das Lloth längst ausgespuckt hat.“
Etwas traf sie am Kopf. Sie blutete. Stürzte. Sie versuchte, sich aufzurichten. Sie versuchte, zu sprechen. Ihr eigener Name lag auf der Zunge wie ein Bann, der die Ordnung zurückbringen sollte – doch nichts kam. Kein Glanz. Kein Echo. Kein Gewicht.
Der Dreck traf sie wie Rufe. Faulige Substanz, brennender Staub, kalte Spucke. Ihre Haut spannte sich. Ihr Herz nicht. Denn sie verstand: Das war nicht Demütigung. Das war Spiegel. Das war das Netz, das ihr zeigte, wie es wäre, wenn sie nicht mehr Teil davon war. Keine Feinde, keine Rebellion – nur Gleichgültigkeit, die sich in Hass wandelte, weil sie einst wichtig gewesen war. Jetzt war sie es nicht.
Und dann stand sie vor dem Qu’ellar.
Es war da, wie es immer war, doch es trug die Spuren einer Welt, in der nichts mehr bejaht wurde, sondern nur noch geduldet – verzerrt, dunkler, breiter, toter, als habe das Qu’ellar selbst vergessen, wozu es einst erbaut worden war. Die Türen standen offen, nicht als Einladung, sondern weil niemand mehr da war, der sie verschloss. Keine Wache, kein Diener, keine Priesterin, die niederkniete, sobald der Schatten der Ilharess die Schwelle berührte. Niemand hielt sie auf. Niemand sah sie. Nur die Leere erwartete sie, und sie trat ein wie eine Fremde an einem Ort, den sie einst geformt hatte.
Der Thronsaal lag vor ihr wie ein gespiegeltes Echo – er war da, doch ohne Stimme, ohne Zentrum. Kein Stab. Kein Netzbanner. Kein Zeichen von ihr. Nur der Raum selbst. Und inmitten dieses Schweigens standen drei Gestalten, die sich langsam erhoben, als hätte man sie mit dem Stein vernäht, als seien sie nicht gekommen, sondern immer schon hier gewesen. Drei Versionen ihrer selbst. Drei Möglichkeiten, drei Irrwege. Drei Spiegel, von denen nur einer zerspringen durfte.
Die erste war jung – zu jung, zu rein, zu offen. In ihren Augen lag das flackernde Licht jener Ideale, die in der Dunkelheit nicht überleben, weil sie nie für sie geschaffen wurden. Ihre Haltung war aufrecht, aber weich. Ihre Hände waren sauber, ihre Robe schlicht, ohne Rang, ohne Furcht. Keine Intrige, keine List, kein Verrat hatte sie je gestreift. Es war ein Blick, der nicht verstand, was Schuld war – nur Sehnsucht, zart und gefährlich. Die Sehnsucht nach einem Drow-Reich, das nie existiert hatte, das Lloth nie gewollt hatte. Ein Blick, der in der wahren Tiefe nie überlebt hätte.
Die zweite war gekrümmt, nicht alt, aber gebrochen, als hätte das Netz sie zu Boden gedrückt und vergessen, wieder loszulassen. Um ihren Hals und ihre Handgelenke lagen schwere Ketten, aus Knochen, aus Schatten, aus Gehorsam – doch keines der Glieder war befestigt. Sie waren verinnerlicht. Der Blick dieser Jhea'kryna irrte, zuckte, wich jedem Versuch der Begegnung aus. Ihre Knie berührten den Boden, nicht aus Ehrerbietung, sondern aus Gewohnheit. Sie war ein Werkzeug, das sich nicht mehr an die Hand erinnerte, die es führte. Nicht gefährlich – aber bedeutungslos.
Und die dritte...
Sie stand aufrecht. Ihre Stimme hallte, bevor der Mund sich bewegte – eine Litanei, auswendig gelernt, immer weiter gesprochen, auch wenn niemand mehr zuhörte. Es war ein unaufhörliches Wispern, ein Strang von Versen, Opfergeboten, Drohungen, Befehlen – doch ohne Ziel. Ihr Blick war leer, durchdringend, glänzend von der Idee göttlicher Nähe, ohne zu verstehen, was Nähe kostet. Ihre Bewegungen waren präzise, aber sinnlos. Ihre Hände zitterten nicht, weil sie längst nicht mehr aus Fleisch, sondern nur noch aus Doktrin bestanden. Sie betete – nicht zur Göttin, sondern zum Bild der Göttin, das sie selbst erschaffen hatte. Fanatisch. Selbstvergessen. Gefährlich.
Jhea'kryna stand vor ihnen. Und sie erkannte.
Diese Wahl war kein Urteil über Vergangenheit. Sie war ein Bekenntnis zur Zukunft. Sie sah, was sie war. Was sie gewesen war. Was sie hätte werden können – oder noch werden würde, wenn sie nicht jetzt, in diesem Moment, entschied.
Die Junge war schwach. Aber rein. Sie erinnerte an einen Teil, den sie längst geopfert hatte. Der nicht zurückkehren würde. Den sie nicht fürchten musste.
Die Gebrochene war unbrauchbar. Kein Feind. Kein Halt. Nur Ballast.
Aber die Fanatische... war ein Warnruf.
Sie war die Jhea'kryna , die glaubte, zu dienen – und längst nur sich selbst bekräftigte. Die ihre Klinge hob, ohne Grund, ohne Urteil, nur im Namen eines Gottes, der gar nicht mehr zuhörte. Sie war das Gespenst der Macht ohne Maß. Das Gesicht der Ilharess, wenn sie das Netz missverstand – als Waffe, nicht als Chaos.
Jhea'kryna trat vor.
Sie sprach kein Urteil. Denn Worte waren zu viel für das, was längst klar war. Sie hob die Hand. Eine Klinge war da. Immer schon. Niemand hatte sie ihr gereicht.
Sie trat an die Fanatische heran. Sah in ihre eigenen Augen – und sah: Nichts.
Und sie stieß zu.
Die Klinge durchdrang die Haut ohne Widerstand, als hätte sie darauf gewartet, geführt zu werden, als wäre ihr Schnitt kein Bruch mit dem Leben, sondern ein geheimer Vers, den nur das Fleisch zu sprechen vermochte. Es war kein Schmerz – nicht in dem Sinn, wie Sterbliche ihn kennen. Es war ein Aufreißen auf einer anderen Ebene, ein leiser Riss, durch den nicht Blut, sondern Bindung floss. Nicht Schrecken, nicht Reue – nur Klarheit.
Sie fiel nicht sofort. Ihr Körper verharrte einen Moment, aufrecht, unbewegt, die Klinge tief in ihrer Seite, den Griff noch in der Hand, als wäre er der letzte Halt an einem Netz, das sich längst unter ihr zurückgezogen hatte. Dann ließ sie los. Und in dem Moment, in dem die Waffe den Boden berührte, veränderte sich alles.
Die Luft flimmerte – als würde eine unsichtbare Struktur sich entfalten, still, unausweichlich
Sie war nicht allein. Vier Gestalten standen um sie, erschienen in der Stille wie aus der Tiefe des Netzes selbst gewoben – Ly’saar, Dhaunae, Xael’vyra und Alniira. Nicht als Richterinnen, nicht als Töchter oder Verbündete – sondern als Spiegel, als Fäden, als Zeuginnen. Und in dem Moment, da ihr Blut das Netz berührte, begannen sie sich zu verändern.
Ihre Umrisse verschwammen, wurden heller, durchscheinender, als bestünde ihre Gestalt nicht aus Körper, sondern aus Idee. Ly’saars Züge flackerten, wurden für einen Wimpernschlag von weicher Unsicherheit durchzogen. Dhaunae sah sie an – wirklich an – mit einer Ruhe, die nicht Kind war, sondern Spiegel. Xael’vyra senkte den Blick, aber nicht aus Schwäche, sondern aus Anerkennung. Und Alniira – Alniira lächelte nicht. Aber sie stand fester als je zuvor.
Jhea’kryna sackte auf die Knie. Der Boden war nicht hart. Er war auch nicht weich. Er war: Urteil. Und das Netz – das Netz spannte sich. Nicht eng. Nicht bedrohlich. Es spannte sich, als würde es neu gewebt. Nicht von ihr. Nicht für sie. Sondern um sie herum. In ihr. Durch sie hindurch.
Langsam, ohne Hast, ohne Eile, aber mit einer Klarheit, die ihr ganzes Wesen durchdrang, richtete sich Jhea'kryna wieder auf. Nicht abrupt, nicht als Trotz, sondern wie eine, die weiß, dass der letzte Schritt nur im Stehen getan werden kann. Das Netz wartete nicht auf Entschuldigungen. Es verlangte Vollendung.
Erst dann ließ sie ihren Blick über Alniira gleiten. Das Gesicht war ruhig, beinahe entschlossen. Als hätte sie die Prüfung längst erwartet – und sich auf ihren Tod vorbereitet. Einmal bereits hatte sie sich von ihr abgewandt, einmal Verrat geübt, und einmal hatte Jhea'kryna sie zurückgeholt, nicht aus Schwäche, sondern aus göttlich gesprochenem Willen. Doch was ist Vergebung wert, wenn sie nicht das Ende markiert? Was ist ein Schwur, der sich verbiegt, sobald niemand mehr zusieht? Und doch... war da etwas, das blieb. Die Reue, vielleicht. Oder die Angst. Oder das, was Lloth zurückforderte.
Sie wandte sich zu Dhaunae, die älter wirkte, kälter, stolzer, als sie sie zuletzt gesehen hatte. Eine Tochter, ja – aber auch eine Waffe, ein Spiegel, ein Anspruch. Sie hatte Blicke bemerkt. Worte gehört. Noch nicht Rebellion, aber der Wunsch nach mehr – nach dem Thron. Nach dem Netz, das ihrer Mutter gehörte. Es lag in ihr. Und Jhea'kryna wusste es. Aber es war kein Feind. Es war das Echo ihrer selbst.
Neben ihr stand Xael’vyra, jung noch, aber messerscharf in allem, was sie sagte – oder nicht sagte. Der zweite Pfeil im Köcher, der nicht für den ersten Schutz gedacht war, sondern für die Beute, die sich als stärker erwies. Auch sie suchte ihren Weg, ihre Macht, ihre eigene Weihe durch Lloth. Und Jhea'kryna hatte es zugelassen – weil sie glaubte, es sei Stärke. Aber war es nicht auch Schwäche gewesen, beide wachsen zu lassen, ohne ihnen Grenzen zu setzen?
Und da war Ly’saar. Ihr Ilharn. Der Geduldige. Der Ehrgeizige. Der, der ihre Befehle befolgte – manchmal mit Blicken, die zu lange verweilten. Der sie verstand – vielleicht zu gut. Der Fragen stellte, wenn andere schwiegen. Wenn einer sie einst in Zweifel stürzen könnte, dann er.
Jhea'kryna atmete flach. Ihre Finger zitterten nicht. Die Klinge lag vor ihr auf einer Empore. Keine Runen. Kein Glanz. Nur kaltes Metall. Doch ihr Blick wanderte nicht mehr über die vier.
Er fiel nach innen.
Nicht auf eine der vier. Nicht auf einen Namen, nicht auf Schuld, nicht auf Misstrauen. Er fiel dorthin, wo das Netz am dichtesten war – in ihr. In das Zentrum. Dorthin, wo alle Fäden sich trafen, wo Entscheidungen gesponnen, Schwüre gebunden, Opfer gegeben worden waren. Dort, wo es keine Ausflüchte mehr gab. Kein Flüstern. Kein Spiegel. Nur Erkenntnis.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung – grausam in ihrer Klarheit, erbarmungslos in ihrer Logik. Denn keiner der Anwesenden war zum Sterben hier.
Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Nicht weil sie gefallen war. Nicht weil sie zu wenig gebetet, zu wenig geopfert, zu wenig gezweifelt hatte.
Sondern weil sie es wusste.
Sie war der Punkt im Netz, der alles verband. Ihre Stärke hatte Fäden geformt, ihr Wille hatte sie gehalten. Und darum war es ihr Körper, ihr Blut, ihr Name, an dem das Netz sich nun messen würde.
Langsam hob sie die Klinge.
Sie sprach kein Wort. Kein Befehl, keine Litanei, kein Ruf an Lloth. Was gesagt werden musste, war längst gewebt. Kein Blick ging zurück zu den anderen – nicht aus Kälte, sondern weil ihre Entscheidung nicht von ihnen abhängig war.
Nur ein einziger Gedanke, still, kalt, endgültig, formte sich zwischen Herz und Hand:
Wenn etwas geopfert werden muss, damit das Netz bestehen bleibt – dann sei es ich.
Und sie setzte die Klinge an. Keine Zögerung. Kein Schmerz.
Nur das letzte Glied – und das Ziehen des Fadens.
Dies war keine Bestrafung. Kein Blutgericht. Kein notwendiger Verlust. Es war eine Prüfung. Keine ihrer Untergebenen, keine ihrer Töchter, kein Schatten, kein Licht – keiner war gekommen, um geopfert zu werden. Sie waren Spiegel. Und das Opfer, das Lloth forderte, war kein anderes – es war sie.
Es gab kein Aufschrei, keine Erschütterung, kein göttliches Zeichen, das den Raum zerriss oder das Ende verkündete. Kein Leuchten, kein Flüstern, kein Wind. Nur der Moment, in dem Klinge auf Fleisch traf, in dem das Opfer zur Handlung wurde, nicht aus Verzweiflung, sondern aus der ruhigen Konsequenz eines Willens, der sich nicht über das Netz stellte, sondern in es hineinlegte. Und danach – Stille. Nicht leer. Nicht tot. Sondern erfüllt von einer Dichte, die spürbar war wie eine gespannte Seide, deren Mittelpunkt neu gebunden wurde.
Die Gestalten um sie, eben noch still und gespannt, lösten sich auf – wie Schatten, die nur darauf gewartet hatten, zu vergehen, sobald der letzte Faden gezogen war. Ly’saar verschwand zuerst – mit jenem stillen Ernst, der nie Antwort verlangte. Dhaunae und Xael’vyra folgten, beide ohne Bitterkeit, ohne Trotz, als hätten sie verstanden, was ihnen zuteil wurde, ohne es benennen zu können. Alniira war die Letzte – ihr Blick verweilte, fest, wach, beinahe fordernd, und doch ohne Vorwurf, nur mit der Ahnung, dass dies der Faden war, an dem auch ihre eigene Schuld hing. Dann war auch sie fort.
Spinnen erschienen.
Keine Scharen. Nur acht an der Zahl. Ein gutes Zeichen, oder ein verheerendes Urteil.
Schwarz. Lautlos. Groß genug, um Gewicht zu haben. Klein genug, um sich durch jede Öffnung zu zwängen. Sie krochen aus dem Schatten, der keiner war, in einem Rhythmus, der an Atem erinnerte. Sie näherten sich ihr nicht in Hast. Sie eilten nicht. Sie wussten.
Eine von ihnen erklomm ihre Hand, langsam, scharfbeinige Schritte auf der blassen Haut, hinterließ feine Linien, die nicht bluteten, sondern brannten. Eine andere legte sich auf ihren Oberschenkel, krümmte sich dort wie ein Siegel. Zwei wanden sich um ihren Nacken, ineinander verschlungen, als webten sie dort ein neues Band.
Sie wehrte sich nicht, denn das war kein Angriff. Es war Annahme. Die Spinnen krochen über ihre Schultern, ihre Schläfen, ihre Hüften, als webten sie ein stilles Siegel in ihre Haut, ein Muster, das niemand lesen konnte, außer der Göttin selbst. Der Schmerz war nicht das Ende – sondern der Beginn.
Über dem Altar veränderte sich nichts. Keine Erscheinung, keine göttliche Gestalt, keine Manifestation. Und doch war da etwas: ein Druck in der Luft, ein Weben im Raum, eine Spannung, die sich nicht legte, sondern verdichtete – nicht bedrohlich, nicht segnend, sondern einfach: da. Es war, als hätte das Netz selbst sich gestrafft, als hätte es einen neuen Zug aufgenommen, als hätte sich die Ordnung neu geformt. Kein Faden riss. Kein Knoten löste sich. Doch etwas spannte sich fester, als wäre der Riss, den niemand sah, mit Bedeutung gefüllt worden.
In der Tiefe – nicht des Raumes, sondern der Struktur, die ihn durchzog – vibrierte etwas. Kein Name. Keine Stimme. Kein Wort. Nur das Bewusstsein, dass gesehen worden war, was gegeben wurde. Und dass es angenommen worden war, ohne Antwort, ohne Bestätigung, ohne Preis. Denn das Netz belohnt nicht. Es trägt, und es erinnert.
Und Lloth, irgendwo jenseits dieses Raumes, jenseits jeder Form, jenseits aller Zeichen, sah. Nicht wie eine Mutter. Nicht wie eine Richterin. Sondern wie das Wesen, das sie war: Spinne. Weberin. Göttin. Und sie sprach nicht. Denn was gesprochen werden müsste, war längst getan - und Jhea'kryna verstand.
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Zwischen Schuld und Glanz
Der Tempel war still. Still auf eine Weise, die nicht Leere bedeutete, sondern Anwesenheit – eine Dichte im Raum, ein Nachklang, als hätte gerade noch etwas Großes geatmet und sich nun zurückgezogen, um zu horchen. Xael’vyras Schritte verhallten nicht. Sie sanken ein, lautlos, in einen Boden, der keinen Hall kannte, nur Gewicht. Das Gewicht ihrer Entscheidung, die sie noch nicht getroffen hatte.
Sie hatte nicht erwartet, hierher zu kommen. Nicht jetzt. Nicht… nach dem, was geschehen war. Und doch hatte sie es gespürt – jenes kaum merkliche Ziehen im Netz, das keine Worte brauchte, um zu befehlen. Nicht Lloths Stimme, nicht einmal ein Zeichen. Nur ein Impuls, leise und zwingend wie der letzte Atemzug eines sterbenden Opfers: Komm.
Die Schatten des inneren Heiligtums wirkten fremd, entleert, nicht wie verwaist, sondern wie leergetrunken. Als wäre etwas über sie hinweggefegt, nicht mit Zorn, sondern mit Anspruch. Und dann sah sie sie.
Ihre Mutter.
Jhea’kryna lag nicht wie eine Besiegte, nicht wie eine Tote. Aber sie lag. Ihr Körper auf der kalten Steinfläche wie ein Schatten, der sich geweigert hatte, mit dem Licht zu verschwinden. Kein Blut. Kein Schrei. Nur Stille. Und der Hauch von etwas, das Xael’vyra nicht benennen konnte, ohne sich selbst zu verraten: Schwäche.
Sie blieb stehen. Zwei Schritte entfernt. Und für einen Atemzug – vielleicht länger – geschah nichts.
Da war es wieder.
Dieses Zucken hinter den Rippen. Diese Bewegung, die kein Muskel war, sondern Erinnerung. Das Mädchen in ihr, das einst so viel dafür gegeben hätte, nur einmal gesehen zu werden. Nicht bewertet. Nicht geprüft. Nur gesehen. Gefühlt. Ihre Lippen öffneten sich fast. Ein Name lag dahinter. Kein Titel. Kein Rang.
Nur ein Wort: Ilhar - Mutter.
Doch sie sprach es nicht.
Denn da war auch das andere. Das tiefere, das dunklere. Der Blitz, der sich in ihrer Brust kräuselte wie ein verborgener Funke. So also sieht es aus, wenn du fällst. Kein Triumph – nicht wirklich. Aber… Befriedigung. Und das war schlimmer. Denn es schmeckte. Bitter, heiß, nach Schuld – aber es schmeckte.
Sie wollte zu ihr knien. Wirklich. Ein Teil von ihr, jener weichere, jener, den sie in Elashinn verborgen hatte wie einen Makel, wollte es. Die Hände streckten sich beinahe aus. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass Jhea’kryna nicht bewusstlos war – aber fern. Abwesend. Wie ein Kelch, der geleert, nicht zerschlagen wurde.
Ich könnte dich berühren, dachte Xael’vyra. Ich könnte dir helfen. Dich anheben. Rufen. Tragen.
Aber wer wäre sie dann?
Die Tochter, die verzeiht? Die Tochter, die Mitleid zeigt mit der, die nie eines gezeigt hatte? Die, die sich beugt, wo sie einst gebrochen wurde?
Oder wäre sie dann… stärker?
Sie wusste es nicht. Und gerade dieses Nichtwissen schnürte ihr den Atem zu.
Jhea’krynas Finger zuckten. Kaum merklich. Vielleicht war es nichts. Vielleicht war es alles. Xael’vyra kniete nicht. Noch nicht. Ihre Knie zitterten nicht. Doch ihre Haltung war kein Befehl mehr – sie war Suche. Und das war gefährlich.
„Du bist gefallen…“ flüsterte sie. Doch das Wort löste sich nicht ganz, blieb zwischen Lippen und Netz hängen, wurde nicht wahr. „…oder bist du aufgestiegen?“
Ihr Blick glitt über das blasse Gesicht der Ilharess, über die Schultern, über die Spuren – feine Linien, wie Zeichen, wie… Annahme. Spinnen. Das Muster war deutlich. Keine Narben, keine Wunden. Aber Spuren. Wie Siegel. Sie hatte es getan. Was auch immer „es“ war.
Ein Schauer durchfuhr sie. Kein Schauder. Ein Beben. Kurz. Dann Kälte.
Und da wusste Xael’vyra, dass dies ein Moment war, der sich nicht wiederholen würde. Sie konnte jetzt entscheiden. Zu ihr gehen – oder sich abwenden. Sie aufrichten – oder sie liegen lassen. Das Netz wartete nicht. Es prüfte.
Ihre Hände schlossen sich zu Fäusten. Kein Zittern. Nur Spannung. Ihre Lippen waren blass. Die Kehle eng.
„Wenn du wirklich gefallen bist,“ flüsterte sie leise, „…dann will ich dich aufrecht sehen, wenn du wieder aufstehst.“
Ein Schritt. Einer nur. Näher.
„Und wenn du es nicht mehr kannst… dann will ich sehen, wie du es trotzdem versuchst.“
Sie ging nicht weiter. Noch nicht. Aber ihr Blick hielt. Und ihre Stimme hatte gezittert. Nur ein wenig. Und doch genug, dass selbst Lloth es hätte hören können. Wenn sie lauschte.
Oder wenn sie – wie immer – längst wusste, was geschieht.
Sie hatte nicht erwartet, hierher zu kommen. Nicht jetzt. Nicht… nach dem, was geschehen war. Und doch hatte sie es gespürt – jenes kaum merkliche Ziehen im Netz, das keine Worte brauchte, um zu befehlen. Nicht Lloths Stimme, nicht einmal ein Zeichen. Nur ein Impuls, leise und zwingend wie der letzte Atemzug eines sterbenden Opfers: Komm.
Die Schatten des inneren Heiligtums wirkten fremd, entleert, nicht wie verwaist, sondern wie leergetrunken. Als wäre etwas über sie hinweggefegt, nicht mit Zorn, sondern mit Anspruch. Und dann sah sie sie.
Ihre Mutter.
Jhea’kryna lag nicht wie eine Besiegte, nicht wie eine Tote. Aber sie lag. Ihr Körper auf der kalten Steinfläche wie ein Schatten, der sich geweigert hatte, mit dem Licht zu verschwinden. Kein Blut. Kein Schrei. Nur Stille. Und der Hauch von etwas, das Xael’vyra nicht benennen konnte, ohne sich selbst zu verraten: Schwäche.
Sie blieb stehen. Zwei Schritte entfernt. Und für einen Atemzug – vielleicht länger – geschah nichts.
Da war es wieder.
Dieses Zucken hinter den Rippen. Diese Bewegung, die kein Muskel war, sondern Erinnerung. Das Mädchen in ihr, das einst so viel dafür gegeben hätte, nur einmal gesehen zu werden. Nicht bewertet. Nicht geprüft. Nur gesehen. Gefühlt. Ihre Lippen öffneten sich fast. Ein Name lag dahinter. Kein Titel. Kein Rang.
Nur ein Wort: Ilhar - Mutter.
Doch sie sprach es nicht.
Denn da war auch das andere. Das tiefere, das dunklere. Der Blitz, der sich in ihrer Brust kräuselte wie ein verborgener Funke. So also sieht es aus, wenn du fällst. Kein Triumph – nicht wirklich. Aber… Befriedigung. Und das war schlimmer. Denn es schmeckte. Bitter, heiß, nach Schuld – aber es schmeckte.
Sie wollte zu ihr knien. Wirklich. Ein Teil von ihr, jener weichere, jener, den sie in Elashinn verborgen hatte wie einen Makel, wollte es. Die Hände streckten sich beinahe aus. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass Jhea’kryna nicht bewusstlos war – aber fern. Abwesend. Wie ein Kelch, der geleert, nicht zerschlagen wurde.
Ich könnte dich berühren, dachte Xael’vyra. Ich könnte dir helfen. Dich anheben. Rufen. Tragen.
Aber wer wäre sie dann?
Die Tochter, die verzeiht? Die Tochter, die Mitleid zeigt mit der, die nie eines gezeigt hatte? Die, die sich beugt, wo sie einst gebrochen wurde?
Oder wäre sie dann… stärker?
Sie wusste es nicht. Und gerade dieses Nichtwissen schnürte ihr den Atem zu.
Jhea’krynas Finger zuckten. Kaum merklich. Vielleicht war es nichts. Vielleicht war es alles. Xael’vyra kniete nicht. Noch nicht. Ihre Knie zitterten nicht. Doch ihre Haltung war kein Befehl mehr – sie war Suche. Und das war gefährlich.
„Du bist gefallen…“ flüsterte sie. Doch das Wort löste sich nicht ganz, blieb zwischen Lippen und Netz hängen, wurde nicht wahr. „…oder bist du aufgestiegen?“
Ihr Blick glitt über das blasse Gesicht der Ilharess, über die Schultern, über die Spuren – feine Linien, wie Zeichen, wie… Annahme. Spinnen. Das Muster war deutlich. Keine Narben, keine Wunden. Aber Spuren. Wie Siegel. Sie hatte es getan. Was auch immer „es“ war.
Ein Schauer durchfuhr sie. Kein Schauder. Ein Beben. Kurz. Dann Kälte.
Und da wusste Xael’vyra, dass dies ein Moment war, der sich nicht wiederholen würde. Sie konnte jetzt entscheiden. Zu ihr gehen – oder sich abwenden. Sie aufrichten – oder sie liegen lassen. Das Netz wartete nicht. Es prüfte.
Ihre Hände schlossen sich zu Fäusten. Kein Zittern. Nur Spannung. Ihre Lippen waren blass. Die Kehle eng.
„Wenn du wirklich gefallen bist,“ flüsterte sie leise, „…dann will ich dich aufrecht sehen, wenn du wieder aufstehst.“
Ein Schritt. Einer nur. Näher.
„Und wenn du es nicht mehr kannst… dann will ich sehen, wie du es trotzdem versuchst.“
Sie ging nicht weiter. Noch nicht. Aber ihr Blick hielt. Und ihre Stimme hatte gezittert. Nur ein wenig. Und doch genug, dass selbst Lloth es hätte hören können. Wenn sie lauschte.
Oder wenn sie – wie immer – längst wusste, was geschieht.
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