Die Festung lag wie ein schlafender, steinerner Riese in der Dunkelheit.
Von einem Hügel aus, verborgen im Schatten einer alten Kiefer, beobachtete Alniira das einzige Fenster, aus dem ein schwacher Lichtschein drang.
In ihrer Wolfsgestalt war sie eins mit der Nacht, ihre Sinne gespannt, jeder Nerv auf die ferne Präsenz des Waldelfen in den Mauern unter ihr ausgerichtet.
Er ist dort drin. Allein. Verletzt. Wegen mir. Ein Rudel lässt die Seinen nicht zurück. Aber... sind wir ein Rudel? Oder bin ich nur eine Wölfin, die ihre Schuld bewacht?
Sie verstand dieses Gefühl nicht.
Es war ein ziehender, schützender Instinkt, der nichts mit der kalten Logik oder den eigennützigen Bündnissen zu tun hatte, die sie aus dem Unterreich kannte.
Es war einfach da. Eine unumstößliche Tatsache in ihrem neuen, zerrissenen Leben.
Plötzlich wurde die Tür der Festung aufgerissen und eine Gestalt stolperte hinaus. Rianon.
Selbst aus der Ferne konnte sie das Fieber sehen, das ihn schüttelte, die unkoordinierten Bewegungen eines Geistes, der von seinem eigenen Körper gefangen gehalten wurde.
Er rannte. Nicht weg von ihr, sondern blindlings, getrieben von seinen Dämonen, direkt in die Dunkelheit des Waldes.
Sie folgte ihm mühelos. Sein Geruch – eine Mischung aus Schweiß, Angst und dieser seltsamen, erdigen Magie, die ihm anhaftete – war eine leuchtende Fährte in der Nacht.
Sie hielt Abstand, eine graue Jägerin, die ihre verletzte, verwirrte Beute nicht aus den Augen ließ.
Er stolperte durchs Unterholz, sprach mit Phantomen, wehrte unsichtbare Angriffe ab.
Schließlich, an einem kleinen Hang, versagten seine Beine endgültig.
Er stürzte, rollte ein kurzes Stück und blieb reglos liegen.
Alniira war sofort bei ihm. Sie stieß ihn sanft mit der Nase an.
Er reagierte nicht, sein Atem ging flach und rasselnd. Panik stieg in ihr auf, kalt und scharf.
Was jetzt? Ich kann nicht schmieden, um ihn zu heilen. Ich kenne keine Kräuter, keine Salben. Ich kann nur jagen und kämpfen.
Sie winselte leise, eine Mischung aus Frustration und Verzweiflung. Sie lief im Kreis um ihn herum, ihre Pfoten scharrten auf dem Waldboden.
Und in diesem Moment der absoluten Hilflosigkeit tauchte die Erinnerung wieder auf. Die Lichtung. Das Mondlicht. Die tanzende Gestalt. Die Musik.
Die Melodie... sie hat den Wolf in mir beruhigt. Vielleicht... vielleicht kann sie auch das Fieber in ihm besänftigen.
Es war ein Strohhalm, aber es war der einzige, den sie hatte. Sie legte sich neben Rianon, schloss die Augen und konzentrierte sich.
Aus ihrer Kehle kam zuerst nur ein leises, unsicheres Brummen, dann formte es sich zu dem wehmütigen, hoffnungsvollen Lied, das sie in ihrer Vision gehört hatte.
Sie heulte es in die stille Nacht, eine einsame Wolfsmelodie für einen sterbenden Elfen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Doch dann, kaum wahrnehmbar, mischte sich ein anderer Ton in ihre Melodie. Ein hoher, klarer Klang. Eine Flöte. Alniira riss die Augen auf.
Die Welt um sie herum hatte sich verändert. Sie befanden sich auf einer Lichtung, die in das intensivste, silbrigste Mondlicht getaucht war, das sie je gesehen hatte.
Und vor ihnen stand sie. Die namenlose Dunkelelfe.
Sie begann zu tanzen. Es war ein Tanz, der Worte überflüssig machte.
Ihre Füße berührten kaum den Boden, wirbelten in Schritten, die mal die Anmut einer fallenden Blüte, mal die explosive Kraft eines zuckenden Blitzes hatten.
Ihr langes, silbernes Haar zog Schleier durch die Luft. In ihrer Hand sang das Bastardschwert.
Es war kein wildes Gemetzel. Jeder Hieb, jeder Stoß war von vollendeter Präzision, aber er diente nicht dem Töten.
Wenn die Klinge durch die Luft schnitt, hinterließ sie eine leuchtende Spur. Unzählige winzige Splitter aus reinem Mondlicht lösten sich von dem Stahl.
Sie blieben in der Luft hängen, nicht wie Funken, die verglühen, sondern wie lebendige Wesen. Sie tanzten.
Die Tänzerin wirbelte, und das Schwert zog einen Bogen über ihren Kopf.
Die Mondsplitter folgten ihm und bildeten für einen Moment ein leuchtendes Diadem, bevor sie sich auflösten.
Sie stieß vor, und die Splitter schossen wie ein Schweif von der Klingenspitze.
Sie parierte einen unsichtbaren Feind, und die Lichtpartikel explodierten in einer schimmernden Nova, die sanft zu Boden regnete.
Der Tanz wurde schneller. Er erzählte eine Geschichte von Trauer und Verlust, von Wut und Kampf, aber vor allem von unbändiger Lebensfreude und einer tiefen, heilenden Hoffnung.
Mit einer letzten, fließenden Bewegung führte die Tänzerin ihr Schwert in einem perfekten Kreis um sich herum.
Der Wirbel aus Mondsplittern, den sie erschaffen hatte, löste sich nicht auf. Stattdessen schwebte er langsam, wie ein sanfter, glitzernder Regen, auf den bewusstlosen Körper von Rianon herab.
Wo die Lichtpartikel seine Haut berührten, schien das Fieber zu weichen. Sein Körper entspannte sich, der gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht wurde friedlicher.
Alniira beobachtete das Schauspiel, ihr Wolfsherz schlug ruhig und voller Ehrfurcht.
Sie verstand nicht, was sie sah. Aber sie verstand, dass dies eine Macht war, die weit über das hinausging, was sie kannte.
Es war keine dunkle Magie, keine göttliche Wut. Es war Schöpfung. Es war Heilung. Es war ein Tanz am Rande der Nacht.
Der sanfte Regen aus Mondsplittern versickerte in Rianons reglosem Körper, und das Fieber schien mit ihm zu weichen, einer tiefen, ruhigen Bewusstlosigkeit Platz zu machen.
Alniira, immer noch in ihrer Wolfsgestalt, starrte auf das Wunder, das sich vor ihr vollzogen hatte. Die tanzende Drow stand nun still, ihr Schwert gesenkt, und blickte Alniira mit Augen an, die eine unendliche, sanfte Weisheit ausstrahlten.
Worte schienen in dieser surrealen Lichtung fehl am Platz.
Alniira versuchte es anders. Sie schloss die Augen und sandte ein Bild aus, eine rohe, emotionale Frage, direkt von ihrem Geist zu dem der Tänzerin.
Ein Bild blitzte auf: Ein riesiger, kranker Wolf, der seine Zähne in ihre Schulter schlägt.
Der brennende Schmerz, gefolgt von der Verwandlung – Knochen, die sich neu formen, das erste heulende Erwachen als Bestie.
Ein zweites Bild folgte:
Sie selbst, als Wolf, wie sie zum ersten Mal den vollen Mond über den Bäumen sah.
Ein Gefühl von unbändiger, wilder Kraft, das sie gleichzeitig erschreckte und mit einer seltsamen Lebendigkeit erfüllte.
Ihr Blick in der Vision wanderte vom Mond zur Tänzerin, eine stumme, verwirrte Frage formend.
Was ist das? Diese Verwandlung? Du... dein Tanz... dein Licht... es fühlt sich genauso an wie der Ruf des Mondes in meinen Adern. Bist du ein Teil davon?
Die Tänzerin lächelte nur, ein kaum wahrnehmbares Heben ihrer Mundwinkel.
Ihre Antwort war keine Erklärung, sondern eine Einladung, die Welt anders zu sehen.
Sie malte ihre Antwort in Alniiras Geist, eine Serie von Bildern, so schön wie ein Gedicht.
Das erste Bild ihrer Antwort:
Ein einzelner, majestätischer Wolf auf einem Felsvorsprung. Er ist nicht monströs, sondern eine Verkörperung von Wildheit und Freiheit.
Er wirft den Kopf zurück und sein Heulen ist kein Schrei des Schmerzes, sondern ein reines, klares Lied, das sich mit dem silbernen Licht des vollen Mondes über ihm zu vereinen scheint.
Das zweite Bild: Das Licht des Mondes teilt sich. Ein Strahl fällt auf den Wolf und lässt sein Fell wie frisch gefallenen Schnee leuchten.
Ein zweiter Strahl berührt einen kahlen, toten Baum neben ihm.
Augenblicklich sprießen Knospen aus dem toten Holz und erblühen zu silbernen, leuchtenden Blumen.
Das letzte Bild:
Die Tänzerin selbst. Sie tanzt unter demselben Mond, ihr silbernes Haar glüht im Einklang mit ihm.
Sie scheint das Licht nicht zu befehlen, sondern es in sich aufzunehmen, mit ihm zu atmen. Eine Symbiose, kein Akt der Herrschaft.
Alniira sah die Bilder, und obwohl sie keine klare Antwort gaben, füllten sie sie nicht mit Misstrauen, sondern mit einer tiefen, verwirrten Ehrfurcht.
Sie sagt nicht ja oder nein. Sie zeigt mir nur... Schönheit. Verbindung. Der Wolf, der Mond, das Leben... alles ist eins. Sie ist ein Teil davon. Und wenn sie ein Teil davon ist... bin ich es dann durch diesen Fluch jetzt auch? Ist das der Grund?
In ihren Augen war die Tänzerin keine Anklägerin und keine Richterin. Sie war ein Mysterium. Eine Verkörperung dieser neuen, wilden und wunderschönen Welt, in die sie geworfen worden war.
Die namenlose Drow ließ ihr Schwert mit einem leisen Zischen im moosigen Boden versinken und streckte eine offene Hand aus.
Eine Einladung, getragen von der sanften Melodie, die immer noch in der Luft lag.
Ein Wirbel aus Gefühlen tobte in Alniira. Die Angst vor dem Unbekannten, aber auch eine unbändige Neugier.
Die Sehnsucht, zu verstehen. Sie spürte, wie der Ruf des Tanzes, der Ruf dieser Geste, stärker war als ihre Furcht.
Sie erhob sich, und ihr Wolfskörper floss in einer Welle aus Schatten und Licht zurück in ihre Drow-Gestalt.
Die Verwandlung war nicht schmerzhaft wie sonst, sondern weich, fast mühelos, als würde die Melodie ihre Knochen an den richtigen Platz singen.
Nackt und von Mondlicht übergossen, trat sie vor und legte ihre Hand in die der Tänzerin.
Die Berührung war wie ein Stromschlag aus kühlem, lebendigem Licht.
Sie begannen zu tanzen. Zuerst waren Alniiras Schritte zögerlich, eine unsichere Nachahmung.
Doch bald wurde ihr Tanz zu ihrem eigenen. Es war kein Tanz des Kampfes, sondern ein Tanz der Fragen.
Jeder Schritt ein Ausdruck ihrer Verwirrung, jede Drehung eine Geste der Suche, jede ausgestreckte Hand eine Bitte um Verständnis.
Sie wirbelten über die Lichtung, zwei dunkle Gestalten, die eine aus reinem Licht gewoben, die andere aus Schatten und aufkeimender Hoffnung, vereint in einem stillen, harmonischen Dialog unter dem wachsamen Auge des Mondes.