Minoc erwachte nur langsam an diesem Morgen. Die Hammerschläge in den Schmieden blieben aus, als würde selbst das Eisen den Atem anhalten. Nebel hing wie ein Schleier über den Dächern der Stadt, sickerte zwischen die Häuserreihen, kroch in Fensterrahmen und bedeckte die gepflasterten Wege wie ein vergessenes Gebet. Und während die Welt noch schlief, trat Miriane Solvair bereits durch das alte Eisentor ihres Elternhauses.
Sie trug einen schweren Wollumhang, grau wie die Morgendämmerung, und darunter ein einfaches Kleid aus moosgrünem Leinen, das sie längst zu schade für die Werkstatt geworden war. An ihrem Gürtel klirrte leise eine kleine Ledertasche mit einem Glasröhrchen, einem Federkiel und einem Notizbuch, das nach Tinte und Lavendel duftete.
Sie war nicht schön im Sinne der Gedichte, die man in der „Silbernen Nadel“ vortrug. Aber ihre Augen waren groß, von der Farbe nasser Erde, und wenn sie sprach, klang es wie das Rascheln von Buchseiten in einer warmen Ecke der Bibliothek.
„Sei vorsichtig, Kind“, hatte ihre Haushälterin noch geraunt, „es heißt, der Nebel nimmt Erinnerungen mit, wenn man zu tief hineingeht.“
Doch Miriane lächelte nur sanft. Ich will vergessen, was sie mir auferlegen wollen, dachte sie. Und finden, was sie nie geglaubt haben.
Es ging ihr nicht nur um Orchideen.
Es ging um Freiheit.
⊱⋅ ───────── ༻ Im Schatten der Orchideen ༺ ───────── ⋅⊰
Der Weg führte sie hinaus, vorbei an verlassenen Feldern und den stillgelegten alten Schienen, auf denen früher Lore um Lore Erz ins Tal gebracht hatte. Der Nebel legte sich um ihre Schritte, dämpfte den Klang der Welt, machte alles weich, vage, beinahe traumhaft. Vögel sangen nicht. Keine Glocke schlug. Nur das pochende Herz in ihrer Brust war noch real. Sie erinnerte sich an die Geschichten ihrer Großmutter: von schwarzen Orchideen, die nur in der Stille blühten. Von Blüten, die aus gebrochenen Herzen wuchsen, in Tränen getränkt. Ihre Lehrmeister an der Akademie hatten gelacht, als sie davon erzählte.
„Ein alchemistisches Märchen, Fräulein Solvair. Unfug. Die Liebe ist kein Katalysator.“
Aber sie wusste es besser.
Der Nebel lichtete sich kaum, als sie den ersten Buchenhain erreichte. Und dort – ein Umriss.
Ein Gebäude?
Nein, eine Hütte. Verfallen, fast verschluckt von der Zeit. Moos kroch über das Dach, Efeu rang mit den Fenstern. Die Tür stand nur angelehnt, knarrte leise im Wind, als würde sie atmen.
Miriane trat näher, mit zögerndem Schritt. Die Hütte war nicht auf ihren Karten verzeichnet. Und doch schien sie zu warten – auf sie.
Sie hob die Hand, um anzuklopfen.
Doch bevor ihre Finger das Holz berührten, flackerte etwas im Fenster. Eine Bewegung. Ein Schatten.
Und dann – eine Stimme hinter ihr.
„Ihr solltet nicht hier sein.“
Sie wirbelte herum. Und ihr Atem stockte.
Ein Mann. Groß. Breit gebaut. Mit einem langen, dunkelbraunen Mantel, der vom Nebel feucht glänzte. Die Kapuze war zurückgeschlagen, das Haar tiefschwarz, die Haut sonnenarm, und doch kräftig. Seine Wangen waren von Bartstoppeln gesäumt, doch es war sein Blick, der sie traf wie ein Dolch: hell, fast silbern. Und zugleich von einer Müdigkeit, als hätte er Jahrhunderte gesehen.
Miriane öffnete den Mund, doch ihre Stimme kam erst beim zweiten Versuch.
„Ich suche… Orchideen.“
Ein Hauch eines Lächelns zog über seine Züge.
„Dann sucht Ihr nicht nach Blumen. Sondern nach einer Wahrheit, die bluten lässt.“
Er wandte sich ab. Ohne ein weiteres Wort. Die Tür der Hütte schloss sich hinter ihm mit einem dumpfen, endgültigen Geräusch.
Miriane stand da, das Herz hämmernd in der Brust, die Finger um ihr Notizbuch gekrampft.
Und dann flüsterte sie – leise, nur für sich selbst:
„Wer bist du, Ravien…?“
⊱⋅ ───────── ༻ Im Schatten der Orchideen ༺ ───────── ⋅⊰