Zwischen Wurzel und Sternenfall

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Ya'ranel
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Zwischen Wurzel und Sternenfall

Beitrag von Ya'ranel »

Ya’ranêl steckte die Feder zurück ins Tintenfass und ließ sich schwer an die Rückenlehne seines Stuhls sinken. Müde rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. Eine Geste, die ihm in den letzten Tagen vertraut geworden war. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie viel Verantwortung mit der Vertretung des Bundes einhergehen würde. Auch wenn ihn die Aufgabe mit Stolz erfüllte, war es vor allem die Sorge um die Seinen und die Last der Entscheidungen, die ihn mehr und mehr bedrückte.
„Ihr werdet da reinwachsen“, hörte er die Worte seiner alten Freundin Shalia leise in sich nachhallen. Aî... Ja, er würde wachsen müssen. Und bald.
Ein Moment lang ließ Ya’ranêl den Blick auf dem Stapel unbearbeiteter Briefe ruhen. Dann schweifte sein Blick zum Fenster hinaus und eine Woge leiser Trauer durchströmte ihn.
Würde der Yew-Wald bestehen bleiben? War die Zeit, die ihnen noch blieb, nur ein letztes Aufbäumen vor dem Ende?
„Sanya ama, nurd’dhao…“, murmelte er, mehr zu sich selbst als in die Welt.
Mit einem tiefen Atemzug schlug er sich beide Handflächen ins Gesicht und erhob er sich mit einem Ruck. Es war Zeit, die Enge der Mauern hinter sich zu lassen. Zeit, sich in die Wälder zurückzuziehen, dorthin, wo sein Herz zu Hause war.

Ein bis zwei Stunden war er nun bereits durch das Grün gewandert. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder ganz allein unterwegs und mit jedem Schritt spürte er, wie seine Seele aufatmete.
Auf dem weg hatte er sich einem Luchs genähert und ihn bei der Jagd beobachtet. Mit einer Singdrossel hatte er sich Lieder zugerufen, und am plätschernden Bachlauf hatte er Wasser geschöpft und sich erfrischt..
Nun stand er auf einer kleinen Lichtung, umgeben von zartem Moos und sonnengetränktem Zwielicht. In ihrer Mitte ragte ein gewaltiger Yew-Baum empor, alt, würdevoll und stumm. Ya’ranêl trat näher, seine Züge weich, beinahe ehrfürchtig.
„Sanya iama…“, sagte er, während er sich tief vor dem uralten Baum verneigte.
Dann ließ er sich am Fuß des mächtigen Stammes nieder, lehnte sich an das raue Holz, schloss die Augen und atmete.
In einer fließenden Bewegung holte er seine kleine, fein verzierte Holzflöte hervor, setzte sie an die Lippen und begann zu spielen.

Die Melodie, die Ya’ranêl anstimmte, war kein bewusst gewähltes Stück, kein fertiger Gedanke. Sie floss aus ihm heraus wie Wasser aus einer Quelle, roh und rein. Er hatte nicht darüber nachgedacht, in welcher Tonart er beginnen oder welche Stimmung er hervorrufen wollte. Er hatte einfach begonnen zu spielen.
Sein Spiel legte sich wie ein feiner Schleier über die Lichtung, hüllte sie in eine sanfte, vibrierende Stille. Doch Ya’ranêl hörte sein eigenes Spiel nicht mehr. Seine Sinne, das Riechen, Sehen, Hören, spüren, lösten sich auf, glitten in die Tiefe seines Geistes wie Blätter, die langsam zu Boden schweben. Es war, als habe er seinen Körper verlassen.
Zuerst war da nur Dunkelheit und ein Licht. Ein kleines, kaum sichtbares Leuchten, eingebettet in das endlose Schwarz. Doch das Licht wuchs, wurde klarer, schärfer. Konturen begannen sich abzuzeichnen: der gewaltige Yew-Baum auf der Lichtung, mächtig und alt. Dann, mit zunehmender Nähe, erkannte er die Gestalt am Fuße des Stammes, ein Waldelf.
Noch näher.
Er sah den Elf Flöte spielen. Kleine Irrlichter schwebten durch die Luft, und nun erkannte Ya’ranêl auch, dass der Baum hinter ihm atmete. Tief, schwer, rhythmisch wie das Herz eines uralten Wesens.
Und dann hörte er sie - die Melodie.
Sie begann leise, kaum wahrnehmbar, und wurde mit jeder Sekunde klarer, lauter. Es war das Spiel der Flöte, und Ya’ranêl erkannte die Bewegungen der Finger, die jeder Note Bedeutung verliehen. Er erkannte die Töne: Trauer, Hoffnung, Sorge, Liebe, Angst, Mut, eine Melodie, wie sie ihm in letzter Zeit immer wieder entfahren war.
Und mit einem Mal wusste er: Der Waldelf, der da spielte, war er selbst und was er hörte, war nicht einfach Musik, es war das vollendete Meisterwerk einer Idee, die lange in ihm gereift war.
Er beobachtete sich selbst von außen, beinahe staunend. Sah die tanzenden Lichter, die goldenen Strahlen, die durch die Äste fielen. Den verwurzelten Stamm, der vor Leben pulsierte. Das Gras, das in irisierenden Farben schimmerte, als würde es Licht trinken.
Dann trat aus dem Stamm hinter ihm eine Gestalt hervor.
Schemenhaft, durchscheinend, wie aus Licht geformt, wandelte sie auf die Lichtung. Menschlich vielleicht, oder elfisch, doch ohne scharfe Konturen, eine Silhouette aus millionen Farben.
Ya’ranêl konnte sich weder bewegen, noch seine Augen vor dem Bild verschließen das sich ihm darbot, doch hatte er keine Angst. Die Erscheinung begann zu tanzen. Sie drehte sich, sprang, neigte sich im Takt der Musik, als sei ihr Körper selbst Teil der Melodie geworden. Die Lichtung wurde zur Bühne, und der Tanz schien einer uralten Choreografie zu folgen, wild und anmutig zugleich, als tanze das Wesen mit der Seele des Waldes selbst.
Wie lange das so ging, wusste Ya’ranêl nicht. Vielleicht waren es Minuten, vielleicht nur Augenblicke. Zeit hatte keine Bedeutung mehr.
Dann, mit einem letzten Drehen, verstummte die Melodie.
Er sah sich selbst, die Flöte in den Schoß gelegt, still, versunken. Die Lichtgestalt trat vor ihn, verneigte sich tief... und reichte ihm etwas.
Ein Funken. Ein leuchtendes Etwas, pulsierend vor Leben.

Mit einem Ruck war Ya’ranêl zurück. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen, goldene Strahlen tanzten durch die Blätter.
Er zuckte leicht zusammen, als seine Sinne zurückkehrten. Und dann spürte er ein Gewicht auf seinem Schoß.
Er öffnete die Augen und sah dort seine Flöte und daneben einen Samen.
Einen Yew-Samen.
Sofort wusste er es. Spürte es. Dieses Geschenk war mehr als Symbol. Es war ein Vermächtnis.
Und während seine Finger zitternd den Samen aufnahmen, spürte er den alten Stamm in seinem Rücken. Er lebte noch, ja, aber sein Atem war langsamer, seine Kraft nicht mehr grenzenlos.
Er würde vergehen. Nicht heute, nicht morgen, vielleicht nicht in hundert Jahren. Doch eines Tages würde auch dieser Baum sterben und aus ihm würde Leben erwachsen.
Eine Oase für den Wald. Für jene, die kommen würden.
Ehrfürchtig schloss Ya’ranêl die Hände um den Samen und drückte ihn an seine Brust. Er würde ihn einpflanzen und hüten. Bewahren, für das was kommen mag.
Die Worte kamen wie ein Gebet über seine Lippen:
„La’dhao, widharcal Yew.
Dhao a'dao zerza, nurd’dhao’o.
Sanya ama, nurd’dhao…“
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