Die Kerze in seiner Kammer brannte langsam nieder, ihr Licht warf flackernde Schatten an die kargen Steinwände. Xemor saß auf dem schmalen Bett, die Hände ruhend auf den Oberschenkeln, den Blick ins flackernde Licht gerichtet. Doch seine Gedanken schweiften weit ab – kreisten um vergangene Monate. Um das, was war. Und was aus ihm geworden war.
Er hatte schon immer alleine dagestanden. Selbst als Kind in der Siedlung bei Minoc war er anders gewesen – stiller, wacher. Die anderen spielten, jagten einander durch die Wälder, während er lieber den Lauf der Ameisen beobachtete.
Ameisen - Es war nicht ihre Ordnung, die ihn störte, nicht einmal ihr Eifer. Es war diese unheimliche Ruhe, mit der sie taten, was ihr innerer Trieb ihnen eingab – als wäre Denken ein überflüssiger Aufwand. Schon damals hatte er etwas zwischen Faszination und Abscheu empfunden. So viel Bewegung – und doch kein eigener Wille.
Dann kam Moonglow. Die Akademie. Und mit ihr der erste wirkliche Bruch. Xemor erinnerte sich mit bitterer Klarheit an den Tag, an dem er vor den Magistern stand. Jung, ahnungslos, mit einer Frage, die in seinen Augen von Bedeutung war. Er fühlte sich seit jeher fehl am Platz – nicht, weil er nichts konnte, sondern weil er nicht wusste, wo er hingehörte. Die Welt schien groß, laut und voller Antworten, die ihm verwehrt blieben. Und inmitten all dessen blieb nur dieses stumme Gefühl: klein zu sein.
Das war der Moment, in dem er zu reifen begann.
Damals war er allein in den Bergen gewesen, auf der Suche nach einem besseren Verständnis der Worte der Macht – fern der Akademie, fern der Blicke, die ihn sonst begleiteten. Dort traf er auf sie: Magistra Jhea, eine Gestalt von stiller Bedrohung. Sie sprach kein Urteil. Sie forderte – mit bloßer Präsenz. Als sie vor ihm stand, aufrecht wie eine Gesetz gewordene Mauer, war es nicht nur ihre Stimme, die ihn zwang. Es war das, was sie verkörperte: Autorität ohne Zweifel.
Xemor kniete. Zögernd. Weil er musste, weil er nicht wusste, wie er sonst reagieren sollte, als Magistra Jhea ihn aufforderte, niederzuknien. Kein Zauber zwang ihn, die Worte drängten ihn. Es war ihr Blick, die Art, wie sie dastand – als wäre Widerstand bereits gescheitert. Er senkte das Knie. In diesem Moment wusste er: Etwas war vorbei.
Etwas zerbrach in ihm – Splitter bohrten sich in Form eines Entschlusses in seine Gedanken, der sich leise und tief einprägte, Splitter, die bereits von seinem jetzigen Meister gesät worden waren. Niemand ist größer als der andere, hatte er einst geglaubt. Doch als sein Knie den Boden berührte, wusste er, dass er sich geirrt hatte. Wenn die Welt so war, würde er nicht länger einer der Vielen sein. Er würde nicht noch einmal knien.
Seitdem sah er sich anders. Nicht mehr als Schüler unter Vielen. Er begann, sich über die anderen zu stellen. Nicht aus Hochmut, sondern aus Notwehr. Aus Überleben. Die Worte von Jhea hallten noch manchmal in seinen Träumen, aber nicht mehr als Spott – sondern als Warnung.
Er würde lernen, über ihnen zu stehen.
Nicht um zu herrschen – sondern um nicht vernichtet zu werden. Um nicht mehr zu jenen zu gehören welche blind folgen. Die Ameisen, wie er sie immer öfter nannte: fleißig, zielstrebig, in ihrer Masse stark – und doch gefangen in einem Gehorsam, der ihn gleichermaßen faszinierte wie abstieß. So viel Bewegung – und doch kein Denken.
Er wollte kein Teil des Schwarms sein!
Seine Gedanken schweiften weiter. Drifteten von einem ins andere.
Er dachte an das Licht in seiner Hand – jenes kalte, blaue Glimmen, das ihm zuerst Angst gemacht hatte. Jetzt war es ein Anker. Eine Erinnerung daran, dass etwas in ihm war, das sich nicht beugen ließ. Das nicht nur reagierte, sondern etwas das er formte. Es kam in der Dunkelheit. In Gefahr. Und wenn sein Wille klar war, antwortete es auf verlässlich weise. Wie eine Idee, die Gestalt annahm. Xemor hatte die Kontrolle.
Die anderen Diener schienen oft stumpf. Sie taten, was man ihnen sagte, ohne zu fragen. Manchmal erinnerte es ihn an Ameisen – nicht wegen der Ordnung, sondern wegen der Leere in ihren Bewegungen. Dann traf er Cassius. Unruhig, suchend, mit einem Blick, der länger verweilte, als nötig gewesen wäre. Vielleicht erkannte Xemor darin etwas Vertrautes. Einen Schatten von sich selbst. Noch wusste er nicht, ob das Vertrauen berechtigt war. Aber es wuchs.
Nat Sagosch, sein Meister war für Xemor mehr als ein Lehrer. Er wirkte wie ein fester Teil der Welt um ihn herum – unnahbar und doch allgegenwärtig. Etwas, das man nicht hinterfragen konnte, nicht weil man es bewunderte, sondern weil es einfach zu groß und zu rätselhaft war, um es zu durchschauen. Xemor spürte eine Mischung aus Furcht und Ehrfurcht, die ihn gleichzeitig lähmte und antrieb.
Der Wind strich an den Mauern vorbei, ein beständiges Geräusch in der Stille. Xemor trat ans Fenster, blickte hinaus. Das Meer lag darunter, endlos in Bewegung, aber ohne Ziel.
Er hatte sich verändert. Irgendwann, ohne es zu merken, hatte sich etwas verschoben. Er stellte keine Fragen mehr, nur um zu verstehen – sondern auch um zu prüfen. Nicht mehr als Teil eines Ganzen. Ohne sich zu beugen. Ohne mitzuschwimmen.
Er wollte nicht länger einer der Vielen sein. Sondern jemand, der sieht, wo andere nur folgen.
Wo Denken beginnt
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast