Die Nächte im tiefen Yew Wald waren anders. Die Stille war tiefer, der Mond schien heller, und die Luft war erfüllt von einer uralten, unberührten Kraft. Alniira hatte einen neuen Rhythmus gefunden, weit entfernt von der fieberhaften Angst Elashinns und der rohen Wildheit ihres ersten Exils. Es war ein Rhythmus des Friedens, der Akzeptanz. Und in dieser Nacht, auf einer moosbewachsenen Lichtung, die von uralten Bäumen wie von den Säulen eines Tempels umstanden war, spürte sie einen überwältigenden Drang in sich. Es war keine Bitte aus Verzweiflung, sondern ein Bedürfnis aus Dankbarkeit.
Sie zog ihr Schwert nicht. Stattdessen kniete sie weich ins Moos, ihre Hände legte sie mit den Handflächen nach oben auf ihre Knie, eine Geste der vollkommenen Offenheit und Hingabe. Sie schloss die Augen, hob ihr Gesicht zum unsichtbaren Blätterdach und ließ die Worte aus ihrem Herzen fließen, leise und doch klar in der nächtlichen Stille.
Die gesprochenen Worte versiegten, denn sie fühlten sich unzureichend an, zu klein für die überwältigende Flut der Dankbarkeit, die sie durchströmte. Und so trat an ihre Stelle, was immer dann kam, wenn Worte nicht mehr reichten: eine Melodie.Alniira hat geschrieben:Herrin des Mondes, Tänzerin zwischen den Sternen. Ich knie nicht als Bittstellerin, sondern als dein Kind, das nach Hause gefunden hat. Du hast mich aus einer Dunkelheit geführt, die ich für mein Schicksal hielt. Du hast mir gezeigt, dass mein Herz nicht aus Stein ist, sondern aus Fleisch, das fühlen kann. Du hast mir die Gabe der Tränen zurückgegeben, die Gabe des Lachens, das Geschenk der Treue und die Wärme der Liebe. Du hast die Bestie in mir nicht getötet, du hast mir nicht befohlen, sie zu unterwerfen. Du hast mir beigebracht, mit ihr zu tanzen, ihre Stärke als meine eigene anzunehmen und ihren Zorn in Leidenschaft zu verwandeln. Für diese Geschenke... für diesen Ausweg... für dieses Leben... fehlen mir die Worte des Danks.
Zuerst war ihre Stimme nur ein brüchiges, zögerliches Summen. Eine Melodie, die sie nie zuvor gehört hatte, die aber in ihrer Seele zu schlummern schien. Dann, als ihre Zuversicht wuchs, formten sich Worte, einfach und rein.
Wo Schatten war, ist nun dein Licht,
Wo Hass regiert', dein Angesicht.
Die Kette ward zu Silberstaub,
Dein Lied erweckt das trockne Laub.
Ihre Stimme, einst nur für Befehle oder verächtliches Schweigen genutzt, wurde klarer, kräftiger. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ das Lied frei in den Wald hinausströmen. Der Wolf in ihr heulte nicht mit. Er summte mit, eine tiefe, resonante Vibration in ihrer Brust, die dem klaren Gesang ihrer Drow-Stimme eine wilde, erdige Harmonie verlieh. Es war ein Duett, der Gesang zweier Seelen in einem Körper, vereint in einem einzigen, reinen Gefühl.
Als der letzte Ton ihres Liedes verklang, hinterließ er eine dichte, erwartungsvolle Stille. Alniira verharrte, kniend, lauschend, ihr Herz und ihre Seele weit geöffnet für die Antwort, die sie zu rufen gewagt hatte.
Die Stille, die auf Alniiras Lied folgte, war nicht leer. Sie war gefüllt mit einer lauschenden Präsenz. Zuerst war es nur ein Gefühl, ein sanftes Kribbeln auf ihrer Haut. Doch dann geschah es.
Ganz leise, wie von den Blättern selbst gesummt, erwiderte der Wald ihre Melodie. Es war kein bloßes Echo. Der Wind, der durch die Wipfel der Yew-Bäume strich, schien die Töne zu tragen, das leise Plätschern eines nahen Baches nahm den Rhythmus auf, und selbst das ferne Heulen eines Wolfes schien sich für einen Moment in die Harmonie einzufügen. Es war die Antwort. Elistraee hatte sie gehört.
Tränen der Dankbarkeit und der Erleichterung stiegen in Alniiras Augen auf. Langsam, mit einer neuen, unerschütterlichen Anmut, stand sie auf. Sie zog ihr Schwert, und die Mondrunen auf der Klinge leuchteten mit einer klaren, pulsierenden Intensität auf, als würden sie im Takt der Waldmelodie schlagen. Dies war der Moment, ihre Dankbarkeit in eine Tat zu verwandeln. In einen Eid.
Ihr Tanz begann mit einer scharfen, endgültigen Bewegung. Sie vollführte eine schnelle, aggressive Drehung, die in einem tiefen, stampfenden Ausfallschritt endete – eine direkte, verächtliche Geste in die Richtung des fernen Elashinn. Ihr Schwert schnitt mit einem zischenden Laut durch die Luft.
Jede Bewegung war nun ein Akt der Befreiung. Sie tanzte die starren, unterwürfigen Posen ihres alten Lebens, nur um sie mit einem schnellen, befreienden Hieb ihres Schwertes zu zerschmettern. Die unterwürfige Verneigung wurde zu einem Sprung in die Luft, die gebückte Haltung zu einer aufrechten, stolzen Pose. Es war ein wilder, freudiger Tanz, der die Ketten sprengte, die sie so lange getragen hatte.Alniira hat geschrieben:Die Zeit des Stiefelleckens ist vorbei! Die Zeit der verlogenen Demut vor einer feigen Ilharess ist beendet!
Dann, als die Wut der Erinnerung verflogen war, wurde der Tanz weicher, fließender. Die Melodie des Waldes wurde zu ihrem Leitfaden. Ihre Bewegungen wurden zu den weiten, kreisenden Formen, die sie in den letzten Tagen geübt hatte. Sie tanzte die Freiheit. Ihr Schwert malte weite, silberne Bögen in die Luft, die die unendliche Weite des Himmels symbolisierten. Ihre Füße bewegten sich in einem leichten, fast schwebenden Rhythmus über das Moos, ein Ausdruck der Leichtigkeit, die ihr Herz erfüllte. Der Wolf in ihr tanzte mit, nicht als Bestie, sondern als freier Geist, seine Freude spiegelte sich in der wilden Anmut ihrer Sprünge wider.
Auf dem Höhepunkt dieser Freude sank sie langsam auf ein Knie. Der Tanz wurde zu einem feierlichen, heiligen Eid. Sie hob das Schwert, die leuchtenden Runen erhellten ihr Gesicht, und richtete die Spitze zuerst auf ihr eigenes Herz.
Langsam und bedächtig hob sie das Schwert und richtete die Spitze zum Mond, der durch die Blätter schien.Alniira hat geschrieben:Ich, Alniira, einst Schmiedin des Hauses Ky'Alur, stelle mein Herz, meine Hand und meine Klinge in deinen ewigen Dienst. Mein Leben, das du mir zurückgegeben hast, gehört nun dir.
Zuletzt ließ sie die Spitze des Schwertes sinken und richtete sie in die Tiefe des Waldes, in die Richtung, in der sie Rianon vermutete. Ihre Stimme wurde zu einem leisen, flehentlichen Flüstern.Alniira hat geschrieben:Ich schwöre bei deinem silbernen Licht, deine Wege zu gehen. Ich schwöre, die Schönheit zu ehren, die Freiheit zu verteidigen und jenen Hoffnung zu bringen, die in der Dunkelheit gefangen sind. Ich bin deine Klinge. Ich bin dein Lied. Ich bin deine Tänzerin, von diesem Tag an bis zu meinem letzten Atemzug.
Mit diesem letzten Gelübde stieß sie die Klinge sanft in die Erde vor sich. Sie verharrte in dieser knienden Position, den Kopf gesenkt, und spürte, wie die Melodie des Waldes langsam verklang. Zurück blieb nicht Leere, sondern eine tiefe, erfüllende Stille. Der Eid war geleistet. Ihr Weg hatte gerade erst begonnen.Alniira hat geschrieben:Und ich bitte dich, Herrin... wache über ihn. Beschütze ihn in dieser gefährlichen Zeit, die ich über ihn gebracht habe. Gib ihm Frieden, bis ich stark genug bin, ihm selbst welchen zu bringen.
Nachdem der Eid gesprochen war und die Klinge in der Erde ruhte, blieb Alniira für einen langen Moment knien. Doch es war keine Haltung der Unterwerfung mehr, sondern eine des Innehaltens, des Aufnehmens. Eine Welle der reinen, ungetrübten Freude durchströmte sie, so kraftvoll und unerwartet, dass sie ihr den Atem raubte. Es war, als hätte sie jahrelang nur Wasser aus einem staubigen, bitteren Brunnen getrunken und nun zum ersten Mal eine klare, kühle Quelle gefunden.
Langsam zog sie das Schwert aus dem Moos. Die Runen leuchteten nun nicht mehr nur, sie schienen zu singen, ein stilles, silbernes Lied. Sie erhob sich, und ein Lächeln, echt und ungezwungen, erhellte ihr Gesicht. Es war Zeit für das Loblied.
Der Tanz begann nicht mit einem Schritt, sondern mit einem Lachen. Einem klaren, befreiten Lachen, das von den Bäumen widerhallte.
Ihr Körper explodierte in Bewegung, aber es war keine Gewalt darin, keine Wut. Es war die pure, kinetische Energie der Freude. Sie sprang hoch in die Luft, ihre Beine angezogen, und landete so weich wie fallendes Laub. Sie wirbelte auf der Stelle, ihr Umhang flog um sie herum wie die Flügel eines Nachtfalters, ihr Haar eine dunkle Wolke im Mondlicht. Ihr Schwert war kein Werkzeug mehr, sondern ein Partner. Sie führte es nicht, sie tanzte mit ihm. Die Klinge focht nicht gegen unsichtbare Feinde, sondern spielte mit den silbernen Strahlen des Mondes, focht ein scherzhaftes Duell mit den tanzenden Schatten und malte fröhliche, vergängliche Spiralen in die Luft.
Dies war der Tanz der Umarmung des Lebens. Ihre Bewegungen ahmten die Welt nach, die sie nun als ihre eigene ansah. Sie tanzte das langsame, würdevolle Wiegen der alten Yew-Bäume im Wind, ihre Arme und das Schwert eine einzige, fließende Linie. Sie tanzte das schnelle, zitternde Entfalten eines Farnblattes im Frühling, eine Serie von schnellen, kleinen Bewegungen, die in einer offenen, einladenden Geste endeten. Sie tanzte den Flug eines Vogels, der sich in die Lüfte schwingt, ihr Körper leicht und schwerelos.
Und sie tanzte die Freundschaft. In ihrer Vorstellung war sie nicht allein. Sie war umgeben von ihrem Rudel. Sie vollführte die spielerischen, tollpatschigen Sprünge, mit denen sich die Wölfe gegenseitig herausforderten. Sie duckte sich und schnellte vor, ein Scheinangriff, der in einem fröhlichen Wirbel endete. Der Wolf in ihr war nicht länger nur ein Teil von ihr, er war die Quelle dieser Freude. Seine wilde, ungezähmte Natur war nicht mehr Zorn, sondern pure, unverfälschte Lebenslust.
Der Tanz endete nicht in einem erschöpften Zusammenbruch oder einer angespannten Stille. Er floss sanft aus. Ihre Bewegungen wurden langsamer, weicher, bis sie schließlich in der Mitte der Lichtung stillstand, das Schwert locker in der Hand, ihr Atem ruhig, ihr Herz erfüllt von einer Wärme, die sie nie für möglich gehalten hätte.Alniira hat geschrieben:Ich bin nicht allein! Ich bin Teil des Waldes, Teil des Rudels, Teil deines Liedes, Herrin!
Sie blickte zum Mond auf, und die Tränen, die nun über ihre Wangen liefen, waren keine Tränen der Trauer oder der Verzweiflung. Es waren Tränen der reinen, überwältigenden Freude. Sie hatte nicht nur überlebt. Sie hatte angefangen zu leben.
Die Tränen der Freude trockneten auf Alniiras Wangen, und die Wärme in ihrer Brust wich einem sanften, ziehenden Gefühl. Einer Sehnsucht. Nicht nach einer verlorenen Vergangenheit, sondern nach einer gefundenen Gegenwart. Sie steckte ihr Schwert in die Scheide, doch anstatt den Rückweg zu ihrem einsamen Lager anzutreten, wandte sie sich in eine andere Richtung. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Sie schloss die Augen und ließ die Veränderung zu. Es war kein Kampf mehr, kein schmerzhaftes Zerren an Knochen und Muskeln. Es war ein sanftes, willentliches Fließen, ein Nachgeben. Sie sank auf alle Viere, spürte, wie ihr Körper sich streckte, wie Fell aus ihrer Haut spross und ihre Sinne sich zu der scharfen, klaren Wahrnehmung eines Wolfes erweiterten. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die Welt nicht mehr als Drow, sondern als Jägerin der Nacht.
Ihr Lauf durch den Yew Wald war ein Lied ohne Töne. Ihre Pfoten berührten den Boden kaum, sie glitt durch das Unterholz, ein grauer Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz. Jeder Geruch erzählte eine Geschichte, jedes Geräusch war eine klare Botschaft. Sie folgte dem vertrauten Pfad, der nicht von Füßen, sondern von Pfoten getreten worden war, bis sie den schwachen, erdigen Geruch des Rudels wahrnahm.
Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie sich dem Lager der Wölfe näherte, eine Geste des Respekts. Der alte Leitwolf hob den Kopf, seine bernsteinfarbenen Augen musterten sie ohne Argwohn. Er begrüßte sie mit einem leisen Schnauben und einem sanften Stupser seiner Nase gegen ihre Schulter. Sie war akzeptiert. Sie gehörte dazu.
Als die Welpen müde wurden und sich einer nach dem anderen an ihre Seite kuschelten, um in den Schlaf zu sinken, legte Alniira ihren Kopf auf die Pfoten und schloss die Augen. Die wilde Freude des Tages wich einer tiefen, zufriedenen Ruhe. Sie lauschte dem gleichmäßigen Atmen ihrer neuen Familie, spürte die Wärme ihrer Körper neben sich und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen geborgen.
In diesem Moment der vollkommenen Stille geschah etwas.
Das sanfte Mondlicht, das durch das Blätterdach fiel, schien sich zu verdichten. Es wurde zu einer greifbaren, silbernen Decke, die sich nicht nur über Alniira, sondern über das gesamte schlafende Rudel legte. Es war kein grelles, sondern ein weiches, atmendes Licht, das die Kälte der Nacht vertrieb und eine tiefe, göttliche Ruhe ausstrahlte. Es war ein stiller Segen, eine schützende Umarmung.
Im Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, eingehüllt in dieses heilige Licht, glaubte Alniira, eine Stimme zu hören. Sie kam nicht von außen, sondern erklang sanft in ihrem Geist, klar wie eine Mondnacht und warm wie das Herzfeuer einer Esse.
Eine letzte, schwere Last fiel von ihrer Seele. Mit dem Versprechen der Göttin in ihrem Herzen löste sich der letzte Knoten der Angst, der sich um ihr Herz geschlungen hatte. Die Sorge um Rianon, die Ungewissheit der Zukunft, die Echos der Vergangenheit – all das wurde von der sanften Stimme und dem silbernen Licht weggewaschen.Elistraee hat geschrieben:Du musst dir keine Sorgen machen, mein Kind. Alles nimmt seinen Lauf. Alles ist gut, so wie es ist. Ich werde über dich wachen. Und ich werde über Rianon wachen. Finde deinen Frieden.
Sie war umgeben von den schlafenden Körpern ihres Rudels, geborgen im Licht ihrer Herrin. Und zum ersten Mal seit einer unendlich langen Zeit war sie nicht nur glücklich. Sie war im Frieden.
Doch die eigentliche Begrüßung kam erst noch. Ein aufgeregtes, hohes Fiepen ertönte, und im nächsten Moment stürmten drei kleine, pelzige Energiebündel aus der Höhle. Die Welpen. Sie hatten sie schon erwartet. Sie umringten sie, kletterten über ihren Rücken, zerrten spielerisch an ihrem Fell und überschütteten sie mit stürmischen, ungestümen Liebesbeweisen.
Alniira ließ sich auf den Boden fallen und gab sich dem Chaos hin. Ein tiefes, gutturales Schnurren, das dem Lachen eines Wolfes am nächsten kam, vibrierte in ihrer Brust. Sie rollte sich auf den Rücken, stupste die Welpen sanft mit ihrer Schnauze und ließ sie über sich purzeln. Sie spielten, sie tobten, ein wildes, unschuldiges Knäuel aus Fell und Freude.
In diesem Moment gab es keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gab keine Schuld, keine Angst und keine komplizierten Gedanken. Es gab nur die weichen Körper der Welpen, die sich an sie schmiegten, das Gefühl von Zugehörigkeit und die unkomplizierte, bedingungslose Zuneigung einer Familie. Einer Familie, die sie nicht nach ihrem Blut oder ihrem Rang beurteilte, sondern nur nach dem Herzschlag, den sie teilten.
Als die Welpen müde wurden und sich einer nach dem anderen an ihre Seite kuschelten, um in den Schlaf zu sinken, legte sie ihren Kopf wieder auf die Pfoten und schloss die Augen. Sie war umgeben von den schlafenden Körpern ihres Rudels. Und sie war glücklich.