Der Baum

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Loretta von Auenstein
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Der Baum

Beitrag von Loretta von Auenstein »

Loretta war noch immer in Yew.
Ihr Aufenthalt dort hatte sich anders entwickelt, als sie es erwartet hatte. Sie war gekommen, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen – nicht um Antworten zu finden, sondern um den Fragen überhaupt erst ins Gesicht zu blicken. Dabei war sie Sa’shiya begegnet. Eine seltsam animalische Waldelfe, vor der sie gleichermaßen Angst hatte wie Faszination empfand. In Sa’shiya erkannte sie etwas Ursprüngliches, Wildes – eine Verbindung zur Natur, die über das hinausging, was sie von Waldelfen kannte. Und zugleich war da etwas Chaotisches, Unberechenbares. Immer wirkte es, als sei Sa’shiya nur einen Atemzug vom nächsten Ausbruch entfernt.

Vielleicht war es genau das, was Loretta so in den Bann zog. Diese Wildheit, die ihr selbst fremd war. Loretta, mit ihrem waldelfischen Blut, aber ohne klare Erinnerung an Herkunft oder Wurzeln. Sie war in Britain aufgewachsen, unter Menschen. Sechzig Jahre war das nun her. Ihr Vater – ein Mensch – hatte sie als kleines Kind zu sich geholt. Was davor lag, war verschwommen, überlagert von Schmerz. Erst sein Tod hatte ihr die Freiheit gegeben, die Vergangenheit nicht länger ruhen zu lassen.

Mit gemischten Gefühlen war sie schließlich nach Yew aufgebrochen. Irgendwo da draußen, im grünen Dickicht, glaubte sie einen blinden Fleck in sich selbst zu finden. Und hätte es diese innere Zäsur nicht gegeben – den Bruch mit dem Leben in Britain, mit den Spielen des Adels, der ständigen Bewertung, dem Gefühl ständiger Fremdheit – vielleicht wäre sie nie gegangen. Ihr Vater war der Anker gewesen. Ohne ihn war sie nur noch Treibgut in einer Welt, die nie wirklich die ihre war.

Und dann war da noch Sa’shiya.
Sie hatte ihr La nähergebracht – nicht erklärend, sondern auf eine Art, die Loretta nicht verstand, aber tief berührte. La war ihr immer fremd gewesen. Doch zum ersten Mal glaubte sie zu begreifen: Was sie suchte, war kein Ort auf der Karte. Nicht der Wald selbst, nicht ein bestimmter Platz. Nicht einmal ein Haus. Der Ort, an dem alles zerbrach – die Nacht, in der sie alles verlor – war längst vom Wald verschlungen worden. Sechzig Jahre Zeit hatte die Natur gehabt, zu verbergen, zu verwachsen, zu vergessen.

Sie musste einsehen: Es gab nichts mehr zu finden. Und doch hatte sie etwas gefunden. Nicht das, was sie gesucht hatte, aber vielleicht das, was sie wirklich brauchte. Die Gewissheit, dass sie nie eine „richtige“ Waldelfe sein würde. In Yew fühlte sie sich nicht zugehörig – eher wie eine Besucherin. Aber genau diese Erkenntnis ließ in ihr etwas reifen: den Entschluss, zurückzukehren. Zurück in die Welt, aus der sie kam. Und sich zurückzuholen, was man ihr genommen hatte.

Sie war schon dabei, ihre Rückkehr nach Britain zu planen, als es geschah.
Ein Spaziergang, ziellos. Erst nur ein vages Gefühl. Sie wurde langsamer, blieb stehen. Etwas war da. Sie folgte dem Impuls, tiefer in den Wald hinein, bis sie einen Baum erreichte. Einen Yew-Baum – aber anders als die anderen. Alt, mächtig, fast ehrfurchtgebietend. Etwas in ihr geriet ins Schwingen, ein inneres Erkennen. Vielleicht war das… La? Vielleicht sprach La zum ersten Mal wirklich zu ihr?

Sie betrachtete den Baum genauer. Nie zuvor hatte sie über so etwas nachgedacht, aber es schien, als trüge er Zeichen der Fortpflanzung. Ein Blitzgedanke: Was, wenn so ein Baum auch in Britain wachsen könnte? Ein Stück Heimat, das aus Yew stammte. Eine Versöhnung zweier Welten. Doch sogleich zögerte sie. Konnte man so etwas einfach nehmen? Sie wollte nicht stehlen. Wenn überhaupt, dann sollte es ein Geschenk sein.

Sie schloss die Augen, konzentrierte sich. Lauschte dem Gefühl, das sie hergeführt hatte. Es machte ihr Mut. Und so sprach sie innerlich ein Gebet:
„Lieber Baum, der du so schön und majestätisch stehst.
Lieber Baum, den ich gespürt habe.
Vielleicht gibst du mir ein kleines Stück von dir,
auf dass ich es bewahren und wachsen lassen kann.“


Die Worte kamen ihr im Nachhinein unbeholfen vor. Aber sie waren ihre eigenen. Ehrlich. Vom Herzen gesprochen. Und das allein zählte.

Sie würde wiederkommen. Wenn sie fühlte, dass der Baum sie erhört hatte.

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Loretta von Auenstein
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Re: Der Baum

Beitrag von Loretta von Auenstein »

Loretta spürte, dass sie Yew langsam verlassen musste. In ihr gärte etwas. Yew hatte ihr sicherlich dabei geholfen, an diesen inneren Entwicklungspunkt zu kommen, aber jetzt war es langsam Zeit für den Abschied.

Sie dachte an den altem Yew-Baum, zu dem sie etwas vor einiger Zeit gelockt hatte, vielleicht La selbst. Sie fragte sich, ob der Baum, La oder sonsteine Kraft ihr dieses Geschenk noch machen wollte, ihr einen Teil des Baumes zu schenken, auf dass sie sich fürsorglich darum kümmern würde. Also machte sie sich auf den Weg zu der Stelle, an der sie den Baum in Erinnerung hatte. Doch da war nichts. Oder besser: Sie fand die Stelle einfach nicht. Immer wenn sie dachte, ein Merkmal im Wald zu erkennen - einen abgefallenen Ast, andere Bäume, eine Lichtung, kam sie trotzdem nicht da raus, wo sie es erwartet hatte. Es war wie verhext. Wollte der Wald ihr Streiche spielen? Wollte er ihr damit zeigen, dass er sie nicht für würdig befand?

Sie blieb stehen. In ihr machte sich Entmutigung breit. Sie schaute umher und war frustriert, weil sie nicht das fand, was sie suchte und das ihr vorher in Aussicht gestellt worden war. Sie senkte den Kopf und schaute betrübt zu Boden. Doch da sah sie ihn, einen kleinen Yew-Setzling. Sie stutzte und ihr Blick hellte sich sofort auf. So hatte der Wald, der Baum, La oder was auch immer sich das also gedacht - sie erst an der Nase herumführen, um ihr am Ende doch das zu geben, was sie gesucht hatte. Der Wald musste ein Witzbold sein, dachte Loretta. Aber sie war vor allem froh und dankbar über die Geste.

Sie grub den kleinen Setzling vorsichtig mit den Händen aus und spürte dabei mit ihrem Tastsinn jede Wurzel, um sie nicht zu verletzen. Dabei ließ sie etwas Erde um die Wurzelknolle herum. Mit dem Setzling in beiden Händflächen tragend ging sie geschwind in das Yewer Zentrum und wunderte sich dabei, dass sie den Weg nur wenige Schritte entfernt wiederfand. Dort angekommen besorgte sie sich bei einem Händler einen großen Blumentopf, in den sie den Setzlich vorsichtig mit zusätzlicher Waldbodenerde bettete und mit ordentlich Wasser goss, damit er die Reise gut überstehen konnte.

Nun war sie wirklich bereit für die Reise zurück nach Britain, ihrer de facto Heimat, auch wenn in ihr zur Hälfte waldelfisches Blut floss. Dort wollte sie eine gute Stelle für das kleine Bäumchen finden, die ihm würdig war. Sie dachte an einen schönen Garten, in dem der Baum irgendwann majestätisch schön strahlen könnte. Aber fürs Erste würde es reichen, den Baum in seiner gewohnten Erde im Topf wachsen zu lassen. Sie wusste, dass diese Bäume nicht die schnellsten Gewächse waren, also musste sie sich nicht beeilen und konnte in Ruhe den besten Platz finden. Diese Mühe war sie dem kleinen Lebewesen schuldig, so empfand sie das jedenfalls.

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