Sziedeyna

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Sziedeyna
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Sziedeyna

Beitrag von Sziedeyna »

Vorgeschichte: Die Nacht der Spaltung

Es heißt, manche Ereignisse bringen eine Seele dazu, zu zerspringen. Sie fragmentiert – in zwei oder gleich mehrere Stücke. Meist resultiert dies darin, dass sich in einem Wesen mehrere Persönlichkeiten bilden, die sich den Platz teilen. Die Ursache besteht oft darin, dass das Ereignis zu viel für eine Persönlichkeit war, um verkraftet zu werden. Und so bildet sich eine Persönlichkeit, die den vollen Schmerz in sich trägt, sich aber gleichzeitig in die hinterste Ecke eines dunklen Zimmers zurückzieht und von nun an anderen Persönlichkeiten den Vortritt lässt, mit der Welt in Kontakt zu treten.

Bei Sziedeyna schien jedoch etwas anderes passiert zu sein. Vielleicht war es eine kosmische Intervention, vielleicht aber auch ein perfides Experiment einer höheren Macht. Nachdem Sziedeyna in ihrer Jugend ihre Eltern im Affekt ermordet hatte, war das für sie eigentlich zu viel, um damit leben zu können. So entstand irgendwo in einer anderen Welt ein Abbild von ihr, das diese Last an sich nahm. So gab es fortan zwei Sziedeynas, die nichts voneinander wussten.

Die Sziedeyna, die wir kennen, wurde damals von ihrer Last befreit. Sie empfand Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Tat und lernte, damit zu leben. Die andere Sziedeyna, die ihre volle Last trug, war jedoch von einer Dunkelheit beherrscht, die sie nur zu gut verbergen konnte. Äußerlich glichen sich beide Sziedeynas bis aufs Haar. Sogar ihr Lebenswandel unterschied sich nicht. Beide bestritten ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsaufträgen, die meist die Besorgung von Zaubermaterialien für zwielichtige Auftraggeber beinhalteten. Aber tief in ihrem Inneren unterschieden sie sich. In der einen loderte Selbsthass, in der anderen herrschte eine innere Leere vor – so, als wäre ihr einst etwas genommen worden, das ihr seitdem fehlte.

Die Sziedeyna mit dem Selbsthass trug auch jenen Hass in sich, der sie damals zu der grauenvollen Tat angestiftet hatte: die Verachtung für die profane Welt ihrer Eltern, in der sie aufgewachsen war. Sie hatte keinen Sinn in ihr finden und es nicht ertragen können, wie sich alle in dem kleinen Dorf nur um Dinge wie die nächste Ernte gekümmert hatten. Die Menschen dort waren ihr wie eine Herde Schafe vorgekommen, deren einziger Sinn eigentlich darin bestanden hatte, irgendwann zur Schlachtbank geführt zu werden. Sie hatte stattdessen von Unsterblichkeit geträumt – vom ewigen Leben. Sie hatte sich vorgestellt, wie alle, die sie gekannt hatte, irgendwann ihr sinnloses Leben ausgehaucht hätten, während sie geblieben wäre. Sie hatte dazu recherchiert und sich u. a. mit dunklen Ritualen beschäftigt. Ein Verfahren, Unsterblichkeit zu erlangen, war bei ihr allerdings nachhaltig hängen geblieben: Vampirismus.

In jener Nacht eskalierte die Situation. Sie hatte zuvor schon oft gegen die Vorgaben ihrer Eltern verstoßen und war trotz Hausarrests nachts heimlich davongeschlichen. Doch nun erwarteten ihre Eltern sie, als sie von ihrer nächtlichen Eskapade zurückkehrte. Sziedeyna war fuchsteufelswild, als ihre Eltern ihr erneut damit drohten, sie ins Kloster zu schicken. Voller angestauter Wut und Verachtung griff sie im Affekt zu einem großen Küchenmesser und erstach diejenigen, die in dem Moment für sie nichts anderes gewesen waren als die Ursache all ihrer Unzufriedenheit. Vielleicht war sie in dem Moment nicht sie selbst, sondern ein dunkler Engel in sie gefahren, der sie im entscheidenden Moment befähigte, diese schreckliche Tat zu vollüben.

Nur eine Sziedeyna trug das volle Ausmaß ihrer Tat mit sich herum. Sie hielt an ihrem sehnlichen Wunsch nach Unsterblichkeit fest – vielleicht, weil nur das ihrer Schuld einen Sinn geben konnte. Und vielleicht wollte sie auch, dass der Vampirismus ihre Seele für immer verdammen würde. Ihrer Tat folgte die sofortige Flucht. Sie packte ihre sieben Sachen. Doch als ob ihre Tat nicht schon schlimm genug gewesen wäre, schnitt sie ihrem Vater noch das Herz aus der Brust, wickelte es in ein Tuch und steckte es ein. Es sollte ihr Andenken an ihre Schuld sein, die sie sich niemals zu vergessen erlauben wollte. Und so lebte sie die nächsten Jahre ein unscheinbares Leben in Britain, wo sie inzwischen ein kleines, bescheidenes Haus bewohnte. Im bunten Treiben der Stadt würde niemand vermuten, welches dunkle Geheimnis sie tief weggeschlossen in sich trug.

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Sziedeyna
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Rückblick: Der Beginn einer Kriegerin

Beitrag von Sziedeyna »

Nachdem Sziedeyna nach ihrer schrecklichen Tat das elterliche Haus für immer hinter sich gelassen hatte, lief sie einfach los. Sie wusste nicht, wohin. Sie kannte die Welt außerhalb ihres kleinen Dorfes gar nicht, obwohl sie so viel darüber nachgedacht und fantasiert hatte. Sie hatte von großen Städten gehört. Britain war ihr ein Begriff. So entschloss sie sich, im Wald zu übernachten und dann am nächsten Tag einen Reisenden zu fragen, ob er ihr den Weg erklären könnte.

Und so geschah es. Sziedeyna wartete auf einer Weggabelung eines moderat befahrenen Weges auf die passende Gelegenheit. Irgendwann zeichnete sich am Horizont ein Pferdekarren ab, der an ihr vorbeikommen musste. Als der Karren kurz davor war, Sziedeyna zu passieren, rief sie dem Fahrer zu:
„He! Könnt ihr für einen Augenblick verweilen? Ich suche den Weg nach … Britain.“

Der Fahrer war ein jüngerer Mann, so in seinen Dreißigern, und hielt den Karren prompt an, indem er seinen Pferden das Signal gab. Er sagte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen:
„Mädchen, das ist aber ein weiter Weg, den du da vorhast.“

Sziedeyna schaute ihn etwas länger als normalerweise üblich an, da es in ihr ratterte.
„Ähm ...“, sagte sie, „wie weit denn?“, fragte sie dann zögerlich.
„Sicher eine Woche mit der Kutsche … zu Fuß entsprechend länger.“

Er musterte sie demonstrativ und fuhr dann fort:
„Und besonders reisetauglich siehst du mir auch nicht aus.“

Sziedeynas Mimik und Gestik verrieten Ratlosigkeit. Sie kratzte sich am Hinterkopf und schaute ihn fragend an.
„Aber ich kann dich ein Stück mitnehmen“, sagte der Fahrer dann und behielt sein freundliches Lächeln.

Sziedeyna presste die Lippen zusammen, während sie über das Angebot nachdachte. Daraufhin nickte sie, die Augen abgewendet, ehe sie ihn wieder anschaute.
„Gut“, sagte sie knapp und näherte sich dem Karren. Den Augenkontakt haltend, kletterte sie langsam hinauf und setzte sich neben den Fahrer, mit einem vorsichtigen Abstand. Der nickte ihr freundlich zu und gab seinen Pferden wieder das Kommando, dass es weitergehen sollte. Der Karren setzte sich langsam in Bewegung.

Sziedeyna war nicht nach Gesprächen. Sie war generell keine gesprächige Person, auch vor den Ereignissen der letzten Nacht schon nie. Dafür hatte es ihr schon immer an Verbindung gemangelt zu ihren Mitmenschen. So blieb sie stumm neben dem Fahrer sitzen und betrachtete scheinbar zufällig die Szenerie, was jedoch nur darüber hinwegtäuschen sollte, was innerlich in ihr vorging. Da durchbrach die Frage des Fahrers die scheinbare Ruhe:
„Was bringt so ein junges Ding wie dich denn dazu, die große Stadt so mutterseelenallein besuchen zu wollen?“

Sziedeyna zuckte leicht zusammen. Sie schaute ihn an, nach einer geeigneten Antwort suchend.
„Ich besuche meine Tante. Meine Eltern sind krank.“ Sie suchte etwas in seinem Blick, das ihr versicherte, dass er ihre improvisierte Antwort schluckte.

„Ah!“, entfuhr es dem Mann, „das erklärt, warum sie dich nicht begleiten.“
Sziedeyna nickte ihm zu, innerlich Erleichterung spürend.
„Ja... leider“, setzte sie noch nach. Danach verfielen sie wieder ins Schweigen.

Nach einigen Meilen kamen sie in einen kleinen Ort.
„So, Endstation, jedenfalls für mich“, sagte der Fahrer, als er den Karren zum Stehen brachte. „Wir sind angekommen. Leider nicht Britain, aber weiter fahre ich nicht.“
Sziedeyna schaute ihn an und konnte die Enttäuschung nicht ganz verbergen. Der Mann zeigte ein mitleidiges Lächeln.
„Tut mir leid.“
Sziedeyna entgegnete mit einem knappen „Macht nichts, trotzdem danke“, und stieg vom Karren.

Der Mann lächelte ihr zu, während sie ihm langsam den Rücken zudrehte und sich umschaute. Dann drehte sie sich plötzlich wieder zu ihm um und fragte:
„Ähm ... und wo geht es jetzt von hier nach Britain?“
Der Mann überlegte kurz und beschrieb ihr dann den Weg:
„Wir sind hier auf der Hauptstraße. Der folgst du einfach in die Richtung weiter“, er deutete mit dem Arm die Straße hinab, „da kommt irgendwann eine Kreuzung. Da musst du links abbiegen, Richtung Norden. Die Straße führt dann direkt nach Britain. Das ist dann auch irgendwann ausgeschildert.“
Sziedeyna folgte seinen Anweisungen in Gedanken, während sich ihre Augen in verschiedene Richtungen bewegten und sie leicht nickte.
„Gut, danke“, sagte Sziedeyna knapp und wendete sich dann wieder von ihm ab. Darauf setzte sie sich in Bewegung und begann der Straße zu folgen.

Aber nur kurz, nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatte, stoppte sie der Mann mit seinem Ruf:
„Hey, Mädchen!“ – Sziedeyna blieb abrupt stehen und drehte sich langsam um.
„In ein paar Tagen wollte ich eh einmal hoch fahren. Wenn du dich solange gedulden kannst, würde ich dich mitnehmen.“ Sziedeyna zögerte. Der Mann fuhr fort:
„Du hast auch gar keinen Proviant. Ich könnte dir etwas aushelfen.“ Sziedeyna stand vor ihm wie bestellt und nicht abgeholt und schaute ihn an. In ihr arbeitete es derweil. Sie wusste nicht ganz, was sie tun sollte. Sie wollte eigentlich so schnell wie möglich Distanz zu ihrem Zuhause gewinnen. Andererseits hatte der Mann Recht. Ohne Proviant eine so lange Reise anzutreten, wäre unvernünftig gewesen. Ihr bot sich hier insofern auch eine Chance.

Sie fragte ihn dann:
„Aber wo kann ich schlafen? Ich habe kein Geld ...“
Der Mann überlegte kurz und sofort hellte sich sein Gesicht auf:
„Das kriegen wir hin. Du kannst bei uns übernachten und im Gegenzug hilfst du uns bei der Ernte.“
Innerlich zog sich bei diesen Worten etwas in ihr zusammen. Aber sie ließ das nicht nach außen dringen und warf dem Mann nur ein knappes Lächeln zu.
„Vielen Dank“, entgegnete sie ihm dann.
Den Mann schien das alles durchaus zu freuen. Sziedeyna hingegen verstand seine freundliche Zugewandtheit nicht wirklich.

„Peter!“, rief der Mann ihr plötzlich zu, Sziedeyna schreckte aus ihren Gedanken auf.
„Peter ist übrigens mein Name.“
Sziedeyna schaute ihn etwas überrascht an und zögerte einen Moment mit einer Antwort.
„Tina“, entfuhr es ihr dann.
Peter nickte freundlich und deutete ihr an, ihm zu folgen, was Sziedeyna tat.

Die Tage vergingen unspektakulär. Sziedeyna blieb wortkarg und antwortete so, wie sie dachte, dass es erwartet wurde, ohne sich je wirklich den Leuten nah zu fühlen, die ihr hilfsbereit ein Dach über dem Kopf boten.

Sie ging tagsüber mit auf die Felder und half bei der Ernte mit. Sie tat es nicht gerne, aber doch aus Überzeugung, dass sie eben das tun musste, was sie zu tun hatte, um im Leben weiterzukommen.

Die Mahlzeiten waren schlicht, aber sättigend. Sziedeyna hatte sogar ein eigenes Bett in einem kleinen Raum bekommen. Peter hatte ihr beim Bezug des Raumes erzählt, dass das Bett eigentlich seiner vor etwas über einem Jahr verstorbenen Tochter gehört hatte. Mehr als ein knappes „Oh“ hatte Sziedeyna nicht dazu zu sagen gewusst.

„Morgen werde ich nach Britain fahren. Die Ernte ist rechtzeitig fertig geworden“, erzählte Peter nach einigen Tagen.

Und so kam es auch. Nach dem Frühstück saßen Sziedeyna und Peter bald wieder auf dem Karren, der diesmal vollbepackt mit der jüngsten Ernte war.

Die Fahrt gestaltete sich ähnlich wie beim ersten Mal. Sziedeyna schwieg die meiste Zeit. Ab und an konnte Peter die Stille anscheinend nicht mehr ertragen und durchbrach sie mit einer Frage oder einer kleinen Erzählung aus seinem Leben. Sziedeyna bemühte sich, Fragen zu beantworten und ihm ein Minimum an augenscheinlicher Aufmerksamkeit bei seinen Erzählungen zukommen zu lassen. Innerlich aber war sie mit ihren Gedanken ganz woanders.

Sie war froh, endlich den Ort nach Tagen verlassen zu haben. Stets hatte sie sich vor einem plötzlichen Ruf wie „Ergreift die Mörderin!“ gefürchtet.

Aber nichts dergleichen war passiert. Vielleicht hielten sie sie auch gar nicht für die Täterin, dachte Sziedeyna zwischendurch. Ihr würde man das nicht unbedingt zutrauen, ohne eindeutige Hinweise.

Und dabei dachte sie auch immer wieder daran, dass sie ihren Vater ohne Herz vorgefunden haben müssen. Was sie dabei wohl dachten? Sie wusste es nicht, aber sie hatte wahnsinnige Angst, dass sie plötzlich irgendwo verhaftet würde.

All das mag Außenstehenden den Eindruck beschert haben, dass über ihr eine kleine unsichtbare Regenwolke hing.

Da die Reise mehrere Tage dauern würde, mussten sie auf dem Weg Zwischenstopps machen. Peter zahlte bereitwillig für sie, und um Sziedeyna kein schlechtes Gewissen zu bereiten, sagte er ihr, dass es noch immer die Bezahlung für ihre Erntehilfe sei.

Sziedeyna war es am Ende egal. Sie bekam, was sie wollte und in ein paar Tagen würde sie diesen Peter wohl nie wieder sehen.

Die Aufenthalte in den Tavernen waren für Sziedeyna etwas Neues. Hier befand sie sich auf einer größeren Handelsroute und dementsprechend groß kam ihr das alles vor.

Sie sah Zwerge, Elfen und Menschen verschiedensten Standes als Gäste. Sie tranken Bier und Wein, spielten Würfel, hörten Barden beim Musizieren zu und aßen herzhafte Mahlzeiten, die ihnen an den Tisch gebracht wurden.

Es war eine eigene Welt, die Sziedeyna so gar nicht kannte. Es fühlte sich an, als ob alle hier etwas anders waren als zuhause.

Manchmal setzten sich aufreizend gekleidete Damen mit an den Tisch von Männern und verschwanden später mit ihnen ins Obergeschoss.

Peter hielt sich aus dem Treiben eher heraus. Er behandelte das Personal freundlich, fragte Sziedeyna nach ihren Wünschen, und so blieben die Aufenthalte ohne Zwischenfälle.

Er schien ein lieber Kerl zu sein und sah in Sziedeyna wahrscheinlich etwas seine Tochter, auf die er aufpassen wollte.

Auf der letzten Etappe ihrer Reise geschah dann etwas Unvorhergesehenes.

Während Sziedeyna etwas geistig abwesend Peter zuhörte, vernahm sie auf einmal ein kurzes Zischen, auf das Peter plötzlich verstummte. Der Karren verlangsamte sich und kam schließlich zum Stand, da Peter die Zügel scheinbar losgelassen hatte.

Sie begriff erst, was passiert war, als Peter sich ihr körperlich aufzudrängen begann. Aber nicht, weil er sie belästigen wollte, sondern weil er anscheinend tot war – von einem Pfeil in die linke Schläfe.

Sziedeyna reagierte instinktiv und glitt fast wie eine Schlange vom Karren und an seine Unterseite. Dort hing sie sich wie eine Spinne unter den Boden.

So getarnt hoffte sie, dem Angreifer nicht weiter aufgefallen zu sein, der denken sollte, Peter wäre der einzige Insasse gewesen. Von der Pfeilrichtung zu schließen, hatte Sziedeyna blitzschnell ausgemacht, hätte sie dem Schützen wohl verborgen gewesen sein können.

Woher Sziedeyna diesen Überlebensinstinkt hatte, war ihr selbst nicht klar. Manche Menschen werden vielleicht damit geboren.

So verharrte Sziedeyna eine Weile, bis sie etwas hörte. Zwei Männer näherten sich dem Karren. Sie wusste anhand ihrer Stimmen, dass es Männer mittleren Alters gewesen sein mussten. Sie dachte an Banditen.

Die Männer lösten die zwei Pferde vom Karren, stießen Peter hinunter und durchsuchten ihn. Einer schnitt ihm seinen Geldbeutel ab. An der Ernte hatten sie offenbar kein Interesse. Kurz darauf entfernten sie sich wieder.

Sziedeyna wartete noch einige Minuten ab, ehe sie es wagte, sich aus ihrem Versteck zu lösen. Sie sondierte die Lage von unterhalb des Karrens und kam dann unter ihm hervor.

Keine Pferde und kein Geld. Sie seufzte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als den Rest des Weges zu Fuß fortzusetzen. Dort bleiben konnte sie jedenfalls nicht, wenn nicht die nächste Kutsche sie für die Mörderin halten sollte.

Also nahm sie die Beine in die Hand, suchte den Waldrand auf und folgte dem Weg in einer parallelen Route.

Da sie nun deutlich langsamer unterwegs war, brach die Nacht herein, ehe sie Britain erreichen konnte.

So bettete sie sich auf etwas Moos und dachte grummelnd daran, dass sie jetzt etwas von dem Heu auf dem Karren gut hätte gebrauchen können, um nicht so zu frieren, da die Nacht echt kalt wurde.

Aber sie ergab sich ihrem Schicksal und trotzte der Kälte trotzdem, indem sie sich möglichst klein zusammenrollte und sich mit etwas Laub umgab.

Dauerhaft wäre das nichts für sie gewesen, so ohne jegliche Ausrüstung, aber diese eine Nacht würde sie überstehen, war sie fest entschlossen.

Am nächsten Morgen war sie durchgefroren, aber gleichzeitig feuerte sie auch die Aussicht an, ihr Ziel heute endlich zu erreichen.

Am späten Nachmittag war es dann tatsächlich so weit. Britains Zinnen schälten sich allmählich aus dem Horizont. Etwas später stand sie dann vor den Toren der majestätischen Stadt. Ehrfurcht durchfuhr sie. So etwas kannte sie bisher gar nicht. Diese Größe. Sie empfand zum ersten Mal wirklich Respekt vor etwas. Hier gab es was zu holen, dachte sie sich. Hier fand das Leben statt. Nicht wie in ihrer Heimat, in der die Menschen in ihren Augen ein Leben in der Bedeutungslosigkeit führten. Wenn es irgendwo Bedeutung gab, dann hier, da war sich Sziedeyna sicher.

Mit neuem Mut betrat sie daraufhin die Stadt. Es fühlte sich magisch an. Ob es jedem Landei so erging, fragte sie sich. Sie kam an einem Anschlagbrett vorbei und las die Anschläge. Viele Aufträge. Manche seltsam kryptisch. Sziedeyna dachte sich: „Wäre doch gelacht, wenn ich hier kein Geld verdienen kann.“

In ihrem Übermut riss sie einen der kryptischen Anschläge vom Brett und nahm ihn mit. Sie suchte umgehend die darauf genannte Adresse, fragte dazu ein paar Mal Passanten und stand schließlich vor einer kleinen schwarzen Tür. Sie war aus schwerem Holz und wirkte hochwertig, ohne gleich aufzufallen. Sie drückte dagegen und dachte erst, sie sei verschlossen, bis sie doch langsam nachgab.

Sie folgte einem Gang im Innenhof und suchte nach jemandem, den sie ansprechen konnte. Da fasste sie plötzlich eine Hand von hinten auf die Schulter. Sie erschrak, weil sie damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Ein alter berobter Mann mit langem Bart stand vor ihr.

„Mädchen, hast du dich verirrt?“, fragte er sie mit sonorer Stimme, sie gleichzeitig freundlich, aber auch etwas lauernd anschauend.

Sziedeyna musste sich erst etwas sammeln, bevor ihr eine Antwort gelang. Schließlich entgegnete sie: „Ähm, ich glaube nicht.“ und dann zeigte sie dem Alten den Anschlag.

Er erkannte sofort, worum es ging, und schaute Sziedeyna sehr zweifelnd an. Sziedeyna verstand die Geste und legte nach:
„Ich möchte arbeiten, nein, ich möchte Geld verdienen“, wurde sie langsam mutiger.

„Ah“, entfuhr es dem Alten, „bei Ersterem hätte ich dich vielleicht fortgeschickt. Wer will schon arbeiten? Aber Geld, ja, das wollen sie alle. Du bist mutig, hier so aufzutauchen. Weißt du überhaupt, wer ich bin?“

Sziedeyna schüttelte den Kopf, hatte aber das Gefühl, hier an der richtigen Adresse zu sein.

Der Alte lachte kurz auf. Sziedeyna fuhr aber sofort fort:
„Das ist mir eigentlich egal, ich will den Auftrag.“

Nun schaute sie der Alte anerkennend nickend an:
„Das ist eine weise Einstellung, Mädchen. Damit wirst du es vielleicht weit bringen.“

Sziedeyna hing an seinen Lippen, während er fortfuhr:
„Aber schau dich an. Wie willst du den Auftrag erfüllen, so wie du aussiehst? Keine Ausrüstung? Was kannst du überhaupt?“

Sziedeyna zögerte kurz und sagte dann entschlossen:
„Ich kann vielleicht nicht viel, aber alles lernen.“

Der Alte schmunzelte.
„Du hast Schneid, kleines Ding, das muss man dir lassen.“ Daraufhin lachte er nochmal. Kurz überlegte er anscheinend, bis er Sziedeyna dann sagte:
„Ich will dir eine Chance geben. Gehe in die Schmiedegasse und frage nach Dorkan. Sage ihm, Thalkor von Schwarzbrunn schickt dich, und er solle dich ausrüsten. Nun geh, Mädchen, und enttäusche mich nicht.“

Sziedeyna nickte ihm bekräftigend zu und machte kehrt, um das Anwesen wieder geschwind durch die schwere schwarze Tür zu verlassen. Wieder draußen wagte sie es zum ersten Mal, ihre Emotionen rauszulassen. Sie sprang in die Luft. Sie hatte es geschafft. Sie hatte den Fuß in der Tür von Britain und jemand war bereit, ihr zu helfen … wenn sie ihm half. Und das wollte sie.

Ausrüstung wartete auf sie. Sie fragte sich durch zur Schmiedegasse und dem Mann namens Dorkan. Irgendwann stand sie vor einem Haus mit einer Schmiede im Hinterhof. Sie betrat selbigen und schaute sich um, suchte nach dem Mann. Niemand schien da zu sein. Sie näherte sich dem Bereich mit Schmiedeerzeugnissen. Sie sah ein paar Rüstungen und Waffen. Diese übten auf sie fast eine magische Anziehungskraft aus. Sie fuhr mit der Hand über das Leder und den Stahl der Rüstungen, fühlte prüfend die Klingen und wollte gerade nach dem Heft eines Kurzschwertes greifen, da stoppte sie der plötzliche Ruf eines Mannes hinter ihr.

„Halt!“ Sziedeyna wandte sich abrupt um und erblickte überrascht den Mann, von dem der Ruf wohl ausgegangen war. Er fuhr fort:
„Auf frischer Tat ertappt. Mach dich auf Ärger gefasst, freches Gör!“

Sziedeyna schaute ihn mit weiten Augen an und fand dann erst ihre Worte wieder:
„Äh, ich wollte nicht stehlen, äh, Tha... Thalku, Thalkor von Schwarz...“

Der Mann unterbrach sie. „Thalkor hat dich geschickt?“
Sziedeyna fand nun ihre Sicherheit wieder:
„Ja, genau. Ich solle hier ausgerüstet werden.“

Der Mann lachte. „Du? Du willst Aufträge für Thalkor erledigen? Du bist doch noch ein halbes Kind!“
Sziedeyna entschied sich für dieselbe Masche, die schon bei dem Alten funktioniert hatte, und sagte nun selbstsicher:
„Was ich noch nicht kann, kann ich lernen!“

Der Mann lachte wieder.
„Kannst du denn mit einem Schwert umgehen?“

Sziedeyna zögerte. „Nun ... Erfahrung habe ich damit noch keine.“

Der Mann kratzte sich am Kopf und ging zu den Waffen.
„Nun gut, dann komm mal her. Das Schwert hier hattest du eben schon anvisiert, korrekt? Da hast du schon nicht schlecht gewählt. Vielleicht hast du ja so etwas wie eine natürliche Begabung. Ganz ehrlich, ohne die gebe ich dir keine Chance. Aber überrasche mich vom Gegenteil, oder eher, überrasche Thalkor. Falls du das nicht kannst, wirst du es nur einmal merken, weil du dann nämlich tot bist. Ist nicht mein Problem. Kapiert? Also das Schwert hier. Hm, bei deiner Größe passt keine der Rüstungen. Das muss ich anpassen. Ich würde dir zu dieser hier raten. Ist nicht zu schwer, viel Leder, aber an den entscheidenden Stellen auch Stahl. Du musst nicht gegen Menschen kämpfen, sondern dich nur gegen dummes Gesocks verteidigen. Wenn du das nicht kannst, Pech gehabt.“

Sziedeyna wurde der Ernst klar, mit dem sie es hier zu tun hatte. Die beiden Männer waren bereit, ihr Arbeit zu geben, aber wenn sie dem nicht gewachsen war, dann würden sie ihr keine Träne hinterherweinen. Sie atmete einmal durch und nickte ihm zu.

Er schloss dann das Gespräch ab:
„Geh einmal dort hinein und lass dir von meiner Frau die Maße nehmen. Dann komm in zwei Tagen wieder, dann kannst du alles abholen.“

Sziedeyna folgte dem, ließ die Maße nehmen und verließ daraufhin das Anwesen des Schmieds wieder. Nun musste sie die Zeit irgendwie überbrücken. Geld hatte sie noch keines. Aber die Ausrüstung bekam sie umsonst. Sie entschied sich, die zwei Nächte irgendwo in einer abgelegenen Ecke zu verbringen. Keinen falschen Stolz jetzt, dachte sie. Und so lebte sie für zwei Tage wie eine Obdachlose, aber mit der Hoffnung, bald etwas aus ihrem Leben machen zu können.

Die zwei Tage vergingen wie im Flug. Sie nutzte die Zeit, die Stadt zu erkunden und die Stimmung der Stadt einzufangen. Wieder in der Schmiedegasse betrat sie den Innenhof und fand den Schmied diesmal in seiner Schmiede vor. Laut erklang der Hammer auf dem Amboss. Sziedeyna nutzte eine Klangpause und räusperte sich. Der Schmied wandte sich um zu ihr.

„Ah. Du bist zurück. Ich habe mit Thalkor gesprochen und er hat bestätigt, dass er dich geschickt hat. Rüstung und Schwert sind fertig.“ Er deutete zu einer Puppe, die die Rüstung trug. Sie gefiel Sziedeyna. Sie war an ihre Größe angepasst und wirkte unscheinbar im Farbton, wie ein mattes Bronze mit dunklen Lederverbindungen. Dann holte er das Schwert und reichte es ihr, indem er ihr das Heft hinhielt. Sziedeyna ergriff das Schwert und hielt es vor sich. Sie versuchte dabei möglichst so zu wirken, als ob sie wusste, wie man ein Schwert führte.

Der Schmied schmunzelte leicht und fragte:
„Bist du sicher, dass du damit umgehen kannst?“
Sziedeyna schaute ihn an und konnte ihre Unsicherheit nicht ganz verbergen.

„Komm mal her, ich zeige dir, wie du es halten musst. Siehst du da die Übungspuppe?“ Er deutete auf eine zerschlissene Puppe, die wohl schon so manches abbekommen hat. Er führte sie an die Puppe heran und hielt ihre Hand mit dem Schwert darin mit seinen Händen umschlossen. „Kampfhaltung ...“

Es verging der ganze Nachmittag, den der Schmied mit Sziedeyna verbrachte, ihr das Wesentliche beizubringen. Ganz so egal war sie ihm vielleicht doch nicht. Vielleicht regte sich auch in ihm ein väterlicher Instinkt.

„Gut so, du machst das schon ganz gut. Jedenfalls nicht so, als sei es dir völlig fremd. Vielleicht hast du ja wirklich Talent. Deine größte Stärke ist deine Intuition. Anderen muss man das erst mühsam beibringen. Aber merk dir: Talent allein macht noch keine gute Kriegerin. Wenn du dein erstes Geld verdient hast, solltest du es für weitere Übung nutzen. Vor dir liegt ein langer Weg, sofern er nicht abrupt zu einem Halt kommt. Nun geh und stell dich Thalkor mit der Ausrüstung vor.“

Sziedeyna hatte in der Zwischenzeit auch die Rüstung angezogen und machte sich nun auf den Weg zur schwarzen Tür.

Dort angekommen, betrat sie das Anwesen wie bereits vor zwei Tagen geschehen. Wieder fand sie niemanden vor und wieder stand der Alte plötzlich hinter ihr, als hätte er sich aus dem Nichts manifestiert. Das war ihr unheimlich, aber sie versuchte es abzuschütteln.

„Gut, hat Dorkan dir was Schönes gemacht“, sprach er mit gewohnt sonorer Stimme. „Dann kannst du ja nun deinen ersten Auftrag erledigen.“

Sziedeyna versuchte möglichst selbstsicher zu wirken und nickte ihm nur zu. Nach einer kurzen Pause fragte sie aber:
„Und was wäre das genau?“

Der Alte schmunzelte leicht und fuhr dann fort:
„Du sollst den alten Friedhof außerhalb von Britain besuchen und dort etwas für mich finden.“

Sziedeyna schaute ihn fragend an:
„Und was genau?“

Der Alte reagierte prompt:
„Knochen, alte Knochen.“

Sziedeyna warf ihm einen skeptischen Blick zu:
„Dafür habe ich nun diese Ausrüstung bekommen, um lediglich ein paar alte Knochen auszubuddeln?“

Der Alte betrachtete sie amüsiert und entgegnete:
„Nun, nicht alle Knochen lassen sich freiwillig aufsammeln. Manche wollen sich wehren.“

Sziedeyna dachte nach und kurz darauf verstand sie.
„Ah.“

Weitere Worte brachte sie nicht raus.
„Kannst du das tun, Mädchen?“
Sziedeyna fasste sich ein Herz:
„Ja, ich werde euch nicht enttäuschen.“

Sziedeyna war bereits dabei, sich umzudrehen in Richtung Ausgang, da fragte der Alte sie noch:
„Wie ist eigentlich dein Name?“

Sziedeyna zögerte. Sollte sie ihm auch sagen, sie hieße Tina? Oder ihm reinen Wein einschenken? Hier war sie einerseits weit von der Heimat entfernt, und so wie ihr dieser Mann vorkam, hatte er sicherlich selbst etwas auf dem Kerbholz. Wer benötigt schon alte Knochen? Sie fühlte sich insofern sicher und entgegnete knapp:
„Sziedeyna.“

Dann wandte sie sich um und ging.

Sie fragte wieder ein paar Passanten, wo es denn zu jenem Friedhof ginge, und war nach einer knappen Stunde dort.

Verfallen und sich selbst überlassen lag er dort, die eine Hälfte des Eingangstores fehlte. Sie betrat den Totenacker mit vorsichtigen Schritten und schaute sich um. Das Schwert steckte noch in der Scheide. Sie ging weiter. Die Gräber wirkten uralt. Moos bedeckte die Grabsteine, deren Inschriften sich kaum noch entziffern ließen.

Sie visierte ein Grab an, das ihr intuitiv „gefiel“, und begann zu graben. Dazu hatte sie eine kleine Schaufel dabei. Tief genug stieß sie endlich auf Skelett-Überreste im Boden. Sie packte in einen Sack, was sie bergen konnte, und wollte sich gerade an das nächste Grab machen, da erhob sich der Boden plötzlich neben ihr.

Zuerst erblickte sie eine knöcherne Hand, dann einen Arm und schließlich erhob sich ein ganzes Skelett aus dem Boden. Sziedeyna erschrak. Das war es also, warum sie Rüstung und Schwert bekommen hatte. Aber wie „tötete“ man so ein Skelett? Es war doch schon tot. Das hätte man ihr vielleicht früher sagen sollen.

Instinktiv zog sie ihr Schwert und nahm eine Kampfhaltung ein. Das Skelett bewegte sich behäbig und langsam auf sie zu. Sie versuchte, das Skelett zu treffen, striff aber nur eine Hand, die aus vielen kleinen Knochen bestand, die sich wie eine Einheit leicht bewegten.

Dann versuchte das Skelett, sie zu schlagen. Sie wich zurück und schlug mit dem Schwert zu. Sie traf den Brustkorb, dem dies aber kaum etwas ausmachte. Sie überlegte angestrengt, während sie immer wieder zurückwich, was sie tun konnte. Das Skelett war nicht so schnell wie sie.

Nachdem das Skelett wieder versucht hatte, sie zu treffen, schlug sie gezielt mit dem Schwert durch den Hals des Skeletts und trennte dadurch den Schädel vom Rest. Sie wunderte sich, dass das klappte, da ja vorher eigentlich nichts wirklich die einzelnen Knochen zusammenzuhalten schien.

Als der Kopf zu Boden plumpste, wollte das Skelett nach ihm greifen, aber Sziedeyna war schneller und schnappte ihn sich. Sie rannte einige Schritte zum Tor zurück und sah, wie der Körper des Skeletts in sich zusammenklappte. Nach lautem Klappern kehrte wieder Ruhe ein.

Der Schädel jedoch wollte nach ihr schnappen. Sie erschrak und warf ihn auf den Boden. Dieser Aufprall schien das letzte verbliebene „Leben“ aus ihm herausgeprügelt zu haben, denn er blieb regungslos liegen. Sie hob den Schädel wieder auf und steckte ihn in den Sack mit den anderen Knochen.

Nun näherte sie sich wieder dem Knochenhaufen, der sie zuvor noch angegriffen hatte. Nichts mehr. Es war nur noch ein Haufen Knochen. Sziedeyna packte diese Knochen auch noch in den Sack, der ihr schon fast zu schwer geworden war. Sie achtete vorsichtig darauf, ob sich in dem Sack wieder etwas regte, aber er blieb ruhig. Die Kraft, die die Knochen einst beseelte, musste durch die Schläge vertrieben worden sein.

So machte sich Sziedeyna voll bepackt auf den Rückweg. Stolz kam in ihr auf. Sie hatte es geschafft und sogar einen Kampf erfolgreich gemeistert.

Zurück beim Alten lieferte sie den Sack ab. Dieser schmunzelte und nickte ihr anerkennend zu.
„Habe ich dich richtig eingeschätzt. Aus dir könnte was werden.“

Daraufhin übergab er ihr einen kleinen Beutel mit Goldmünzen. Als Sziedeyna das Gewicht in ihrer Hand spürte, konnte sie es kaum glauben. So viel Gold und so schnell verdient. Das sollte von nun an ihre Einkommensquelle werden.

Sziedeyna bezahlte anfangs eine Herberge und steckte das meiste von ihrem Einkommen in ihre Kriegerausbildung. Einige Jahre später konnte sie ein kleines Haus beziehen und lebte dank der unorthodoxen Tätigkeiten in relativ stabilen finanziellen Verhältnissen.

Sie hatte es geschafft und war in Britain sesshaft geworden.

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Zuletzt geändert von Sziedeyna am 06 Aug 2025, 16:50, insgesamt 2-mal geändert.
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Vor einem Jahr: Der Turm

Beitrag von Sziedeyna »

Die Ereignisse in diesem Beitrag passieren in einer Parallelwelt.

Sziedeyna war wieder unterwegs. Sie hatte jüngst einen ihrer Aufträge erledigt und war auf dem Rückweg von Minoc. Sie wählte diesmal ihre Route nördlich des Schwarzsteingebirges. Die Rückwege nutzte sie immer zur Erkundung von ihr bisher unbekannten Gebieten. Es war wichtig, dass sie stets neue Quellen erschloss für die Art Materialien, die sie für ihre Auftraggeber besorgte. Insofern war Sziedeyna nicht bloß Auftragnehmerin, ihre Arbeit machte sie auch zu einer Abenteurerin. Sie hatte vor einer Weile mal gehört, dass es irgendwo nordwestlich des Gebirges Ruinen geben solle. Die örtliche Nähe wollte sie nutzen.

Es wurde langsam dunkel. Ihr bescheidenes kleines Lager schlug sie am Fuß des Gebirges auf. Zum Glück hatte es eine Weile nicht mehr geregnet und die Nächte waren verhältnismäßig warm. Ein Feuer benötigte sie dennoch, wenn sie am nächsten Morgen nicht durchgefroren sein wollte. Sie ging etwas trockenes Feuerholz sammeln und schaute sich aufmerksam um. Zunächst war nichts Auffälliges zu beobachten. Ein offener Wald befand sich um sie herum. Die Bäume standen in kleinen Gruppen und ließen immer wieder Freiräume. Für einen Vogel mag es von oben wie eine von Geröll durchzogene Fläche mit vielen gelbgrünen Tupfen gewirkt haben.

Als Sziedeyna schon etwas geeignetes Holz gefunden hatte, fiel ihr etwas auf, das sie zuvor nicht bemerkt hatte. In einiger Entfernung schien etwas hinter einer jener Baumgruppen hervorzuragen, das größer war, aber sich gleichzeitig leicht dem Blick verweigerte, da es mit dem grauen Hintergrund des Gebirges optisch gut verschmolz. "Ein... Turm", dachte Sziedeyna. Das weckte ihr Interesse, aber da es immer dunkler wurde und sie noch etwas Holz sammeln musste, beschloss sie, dem Turm erst am Morgen einen Besuch abzustatten.

Nachdem sie genug Holz gefunden hatte, kehrte sie zu ihrem Lager zurück, stapelte einen Teil des Holzes über einer kleinen ausgehobenen Mulde pyramidenförmig auf und erweckte erste Flammen mit Hilfe eines Zunderschwamms und Zündhölzern. Sie holte sich etwas Proviant aus ihrer Tasche und genoss den Moment der Ruhe, während ihre Gedanken sich um den Turm drehten, den sie morgen näher erkunden würde.

Inzwischen war es schon komplett dunkel geworden und die Sterne standen am Himmel. Der Mond versteckte sich jedoch zu dieser Zeit des Monats. Sie legte letztes Holz auf und bereitete sich für die Nacht vor. Sie breitete die Schlafrolle aus und entfaltete ihre Decke, da meinte sie plötzlich etwas im Augenwinkel bemerkt zu haben. Sie wendete den Kopf ruckartig zur Seite, zu dem Ort, wo sie glaubte, dass dort etwas gewesen sein musste. Aber nichts. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. War es Einbildung? Für gewöhnlich war sie nicht schreckhaft, wenn sie allein irgendwo in der Wildnis übernachtete. Sie neigte nicht zu Einbildungen. Aber vielleicht war es diesmal eine, fragte sie sich.

Das Feuer war inzwischen nur noch eine schwache Glut, die Nacht im vollen Gang. Da wachte Sziedeyna plötzlich auf. Ihr Schlaf war diese Nacht ohnehin leicht gewesen, auch weil sie die "Einbildung" nicht ganz losgelassen hatte. Sie hatte ein seltsames Gefühl... als ob sie nicht allein wäre. Sie lauschte, nichts. Es war still. Da fiel es ihr auf: Vielleicht zu still. Keine Nachttiere waren zu hören. Sie erwartete sicher kein Vogelgezwitscher um diese Zeit, aber sie hörte keine Eulen, kein leises Rascheln im Gehölz, absolut nichts. Selbst der Wind schien stillzustehen. Vorsichtig, fast unmerklich änderte sie ihre Position, um ihre Umgebung zu sondieren. Die Sterne gaben ihr immerhin etwas Hilfe und ließen die Umgebung nicht in völliger Dunkelheit verschwinden.

Die glimmenden Reste des Feuers zogen automatisch Sziedeynas Blick auf sich, als es sie wie ein Ruck durchzog. Auf der anderen Seite, hinter der Glut, meinte sie plötzlich eine dunkle Gestalt ausfinding zu machen. Sie schreckte hoch und griff suchend hinter sich schauend nach ihrem Schwert. Als sie es innerhalb weniger Sekunden in der Hand hatte und in Kampfhaltung auf den Beinen war, das Herz pochend und den Körper von Adrenalin geflutet, fand sie jedoch niemanden mehr vor. Ihr Blick wanderte suchend umher, sie lauschte immer wieder. Aber es schien, als wäre da nie etwas gewesen.

Eine Sache hatte ihr jedoch gezeigt, dass es keine Einbildung gewesen sein konnte. Nachdem sie das Schwert langsam wieder gesenkt und es zögernd in die Scheide zurückgeschoben hatte, fiel ihr auf, dass diese Totenstille verschwunden war. Der Wald, der sich im blassen Sternenlicht um sie herum wie übergroße Wattebäusche manifestierte, war in einen Zustand zurückgekehrt, der ihr wieder vertrauter vorkam. Ab und an ein Rascheln am Boden, das wohl nur von einem sehr kleinen Tier stammen konnte, oder der Ruf eines Nachtvogels. Diese Nacht konnte sie nicht mehr richtig schlafen, sondern versuchte, in einem Dämmerzustand eine Grundwachsamkeit zu bewahren, während sie sich dennoch bestmöglich ausruhte.

Die Nacht verlief ohne weitere Zwischenfälle und wich allmählich dem Morgengrauen. Sziedeyna stand auf, aß noch etwas und packte ihre Ausrüstung zusammen. Sie schaute sich um und machte den Turm in der Ferne aus, der ihr in diesen Sichtverhältnissen wohl niemals aufgefallen wäre, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er da war. So machte sie sich auf den Weg...

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Zuletzt geändert von Sziedeyna am 11 Okt 2025, 04:35, insgesamt 2-mal geändert.
Ancanagar Tyenes
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Der Turm.

Beitrag von Ancanagar Tyenes »

         
         
Der Turm.

         
         
Das zerklüftete Massiv, das im Herzen der Grafschaft Wolfenreich eine einsame Herrschaft führt, wird von Reisenden und Händlern gern gemieden und umgangen. Die auf den meisten Karten als Schwarzsteingebirge bezeichneten dunklen Gipfel und Zinnen, die sich wild in die Himmel strecken, verbergen ihr innewohnendes Unheil nicht. In den verlassenen Stollen und trügerischen Pässen haben ungezählte Schrecken und Ungeheuer Heimat gefunden, und selbst die wenigen noch bewirtschafteten Minen sind vom Blut der häufig überfallenen Arbeiter getränkt. Die wenigen sturen, abgeschiedenen Gehöfte fristen ein karges Überleben im Schatten der schwarzen Basalttürme, die von den abergläubischen Einwohnern als die zerrissenen Berge bezeichnet werden.
         Die nördliche Flanke fällt steil in ein praktisch kaum bewohntes, wildes Niemandsland ohne Weg und Weisung ab, dichter Mischwald, der sich nach einigen Meilen bereits in den salzigen Wassern der Bucht der Gier verliert. Der Landstrich ist von den Mächtigen der Welt vergessen und ignoriert, die Mühe, einen Weg durch die Wildnis zu schlagen, erscheint zu groß, wenn die südliche Route so viel besser und sicherer zu bereisen ist.
         Die nordwestlichsten Ausläufer des Gebirges sind etwas heller, weicher abfallend, weniger zerrissen, und die Drachen und Chimären der dunklen Berge sind hier ein wenig seltener anzutreffen. Dort, weit unter der Baumgrenze, da, wo gerade die ersten wirklichen Felsen durch trockenes Gras brechen, steht ein einsamer Turm inmitten der Zypressen und Eichen, Pinien und sporadischer Eschen.
         Der Turm, erbaut aus dem verwitterten Gesteinen des nahen Gebirges, ist alt. Vertrocknete Ranken klammern sich an die gerundeten Steine, ein mutiger, junger Baum kämpft nahe dem Sockel um Halt, und Flechten zieren die verbleibenden Zinnen wie Bärte. Die kleinen, gedrungenen Fenster sind so unregelmäßig angeordnet, dass sich entweder drei oder vier Stockwerke vermuten lassen. Einem aufmerksamen Betrachter fallen sicherlich die architektonischen Besonderheiten auf, ein winziger Balkon in der Höhe führt über eine schmale Außentreppe ohne Sicherung auf das flache Dach der Struktur, ein weiterer Balkon über dem Erdgeschoss endet in einem abrupten Abbruch, als wäre er einst eine Brücke zu anderen Zimmern gewesen.
         Denn wo der Turm recht intakt aussieht, von der Verwitterung der Quader einmal abgesehen, bietet das Areal um das Gebäude herum ein anderes Bild. Die verblichenen Reste einer vergangenen Architektur lassen nur noch erahnen, dass es hier einst ausgedehnte Strukturen gab, von denen nur noch Grundmauern und zerbrochene Pfeiler übriggeblieben sind. Schutt zerbrochener Steinmetzkunst, schlanke Bögen, am Boden zerbrochen, grasüberwucherte, gesprungene Bodenplatten – die Idee einer geplanten, kunstvollen Anlage liegt sicher nicht fern. Hier ist ein anderer Stein verwendet worden, heller Marmor, der, wer weiß, aus welchen Brüchen Velmorras, hierher transportiert wurde. Die Diskrepanz zwischen augenscheinlicher, ferner Vergangenheit und einer Natur, die nur äußerst zögerlich diesen Ort für sich zurückerobern will, ist tief.
         Zumindest das Schwarzsteingebirge hat sich Mühe gegeben. Ein ebenfalls lange vergangener Felssturz hat einen größeren Teil der angedeuteten Anlage unter Lawinenschutt begraben, ein aus hohen Gletschern stammender Abfluss strahlend blauen Wassers formt inmitten der alten Säulen einen kleinen Teich, bevor der Überfluss seinen Weg durch den Wald zum Meer hin sucht.
         In diesen Tagen gibt es weitere ungewöhnliche Merkmale: Der Turm selbst ist mit einer stabilen Holztür verschlossen, die sicher nicht älter als einige Jahrzehnte sein kann, zwischen den Pfeilern finden sich kaum sichtbare Pfade, die vom sturen, harten Unterholz befreit wurden, und am Teich findet sich eine kleine Sitzbank, ebenfalls nicht älter als nur ein Herzschlag im Dasein des Turmes. Und es ist still um diese alte Anlage, Vogelstimmen sind gedämpft, die Schreie der Füchse in der Nacht klingen nur von der Ferne herbei, und selbst die kundigsten Spurensucher finden keine Anzeichen von Wild, das den Teich als Tränke nutzt.
         Auffällig sind die hell gefärbten Eichhörnchen, die in größerer Zahl in den Bäumen umherspringen, Pinienkerne horten, und Wanderer mit unbesorgten, schwarzen Augen beobachten, während ihr ungewöhnliches Fell, hellgrau und unmeliert, sie eigentlich zu leichter Beute für Raubvögel machen sollte. Diese sammeln sich gelegentlich in größeren Schwärmen über einem nahen, niedrigen Gipfel, dem letzten sich hochstreckenden Finger des Gebirges, den sie zu diesen Zeiten eifrig umkreisen. Nur ein Vogelkundiger würde wohl vom Turm aus erkennen, dass es sich hierbei vor allem um Aasfresser handelt.
         Die Ruine wirkt trotz der neueren Details unbewohnt. Im Sommer saugt der dunkel gewitterte Granit die Hitze der Sonne ein, Zikaden singen unablässig, und die Büsche und Ranken sind gelb und dürr. Im Winter wandelt tiefer Schnee die marmornen Bruchstücke zu tückischen Stolperfallen, es ist still, still, still und der Turm lädt niemanden ein, denn die unbeleuchteten Fenster sind so kalt wie der erstarrte Teich.
         Bei Tag ist der Ort einsam, ein Grabmal vergessener Tage, abweisend und schroff.
         Bei Nacht erblüht düstere Romantik und vom Mond verwunschene Erker werfen tiefe Schatten über den Ruinengarten.

Hier, Wanderer, Schatzsucher, Glücksritter, ist nichts zu holen.
Ancanagar Tyenes
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Sziedeyna
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Beitrag von Sziedeyna »

Bevor hier weitergelesen wird, bitte auch dieses Thema lesen: Die Vernichtung einer Vampirin - Blaugraue Flüsse in der Mündung der blutigen See

Alicia stand wie jeden Tag reglos vor dem bodentiefen Fenster im Erdgeschoss des Sanatoriums. Zu dieser Jahreszeit bot sich ein schöner Ausblick in den Garten. Ein ganzes Team an Gärtnern war damit betraut, den Garten stets gepflegt zu halten und voller Blütenpracht. Ob Alicia all das aber überhaupt wahrnahm, wusste niemand. Sie redete nicht und funktionierte eher nur als dass sie lebte. Sie war vor einigen Jahren in das Sanatorium gebracht worden. Seitdem gab es keine Fortschritte. Apathisch und fast wie ein Geist wirkte sie. Dünn und blass. Alles an ihr wirkte leblos. Sie lächelte nie, zeigte nie irgendeinen Affekt, so sehr es die Menschen um sie herum auch versuchten, aus ihr herauszukitzeln. Das hatte ihr den Spitznamen "Gespenst" eingebracht. Aber ob sie darum überhaupt wusste, konnte ebenso niemand sagen. Vielen war sie unheimlich, anderen Patienten wie auch dem Pflegepersonal.

Immer wenn sie besonders lange vor dem farblosen Glas stand, hatte sie zuvor wieder eine Episode erlebt. Niemand wusste, was in ihr wirklich geschah. Ob es Entwicklung gab, Fortschritte. Aber tatsächlich, in ihr tobte ein Krieg, der in so barschem Widerspruch zu ihrer äußeren Erscheinung stand. Dieser Krieg zerrüttete sie nun schon seit Jahren. Aspekte ihres wahren Lebens fanden sich in Fragmenten und Allegorien in ihrer inneren Kriegslandschaft wieder. In dieser Landschaft stand sie, war jemand anderes. Sie hatte ein Schwert und einen anderen Namen: Sziedeyna.

Maladaptives Tagträumen. So wurde es genannt. Aber bei ihr hatte es ein Ausmaß angenommen, dass sie selbst darin verschwand. Es war, als würde ihr Geist in einer anderen Welt verweilen, während ihr Körper in der wahren Welt nur noch über seine Grundfunktionen verfügte. Diese geistige Abwesenheit war es, die auf andere so unheimlich wirkte. Niemand wusste, wer da wirklich in diesem kleinen Kopf unter den langen schwarzen Haaren steckte. Sie hatte sich nie gezeigt. Sie bewachten eine Hülle.
Die Ereignisse in diesem Beitrag passieren in einer Parallelwelt.

Sziedeyna konnte es nicht begreifen. Sie saß da, einige Meter fortgeschleudert durch die Druckwelle, aber es war mehr als diese physische Wucht, das sie bewegungsunfähig machte. Sie musste mit ansehen, wie das Wesen, zu dem sie eine nie dagewesene Verbindung gefühlt hatte, einfach ausgelöscht wurde. Noch ein paar Stunden zuvor hatten sie gekuschelt, hat sie die Nähe förmlich in sich aufgesogen, als wäre ihr über Jahrzehnte entstandener innerer Eiskern endlich aufgetaut und durch Wärme und Geborgenheit ersetzt worden. Sie kannte Ancanagar nicht mal 24 Stunden, jedoch war dieser Kontakt an Intensität nicht zu überbieten gewesen. Es war eine Wiedergeburt. Eine Chance auf neues Leben in einer innerlich von schwerer Schuld geplagten Sziedeyna. Sie hatte so viele... Emotionen gehabt. Ihr kühles abgeklärtes Wesen war wie verwandelt. Sie war so vieles zugleich. Kind, das seine Mutter, Schwester, die ihre große Schwester gefunden hatte. Und auch eine Geliebte. Ancanagar war für Sziedeyna alles geworden. Alles, was sie zuletzt gewollt hatte, hatte sie nur wegen ihr gewollt. Da gab es nichts anderes mehr.

Und jetzt hatte er es ihr entrissen. Der Ordensmann namens Kaimond. Es war der erste Ausflug für Sziedeyna als Vampirin unter Ancanagars Fittichen gewesen. Eigentlich sollte Sziedeyna nur lernen, wie man sich in Gegenwart von Menschen verhält, sie gefügig macht, um von ihnen zu trinken, möglichst ohne Zwischenfälle. Aber alles kam anders. Der Mann an sich wäre nicht das Problem gewesen. Aber er hatte ein Artefakt an sich, das er wie ein Ass im Ärmel bei sich trug. Einen magischen Dolch, den er im entscheidenen Moment, als er eigentlich schon den beiden Vampirinnen unterlegen war, hervorholte und damit alle Macht auf sich bündelte. Er konnte nicht nur Geschöpfe des Untodes auf Abstand bringen, wie es mit Sziedeyna passiert war, sondern auch untotes Leben völlig auslöschen.

Als sich das makabre Schauspiel vollzog, war Sziedeyna wie versteinert. Ihre rasende Wut auf den Mann war blankem Entsetzen gewichen. Ein Rest Überlebenswille in ihr hatte jedoch verstanden, dass Ancanagar sich für sie geopfert hatte. Und so sehr sie in diesem Moment am liebsten mit ihr vergangen wäre, um wenigstens in diesem Ende für immer vereint zu bleiben, so sehr ruckte auch auf einmal die Erkenntnis an ihr: "Ich muss hier weg!" Vom vielen Blut, das sie kurz zuvor dem schrecklichen Widersacher noch durch seine Halsschlagadern geraubt hatte, als sie noch die Oberhand hatte, waren ihre Kräfte nun maximal ausgebildet. Aber sie nutzte sie nicht mehr, um ihn zu bekämpfen. Nein, sie wusste, dass sie dieser Kraft des Dolches nicht gewachsen war. Also floh sie. Und in einem Augenschlag war sie von der Bildfläche verschwunden und ließ den Mann allein mit dem leeren Kleid Ancanagars, in dem sich nur noch ein Haufen Asche befand.

Sziedeyna war zu keinem klaren Gedanken in der Lage. Sie lief nur, sie rannte, in übermenschlicher Geschwindigkeit. Durch die Gassen, durch die sie dem Mann einst gefolgt waren, bis zum Hafen Skara Braes. Sie sprang ins Wasser, schwamm wie ein Pinguin über die Wasseroberfläche und kam irgendwann wieder am Festland an. Dort rannte sie einfach weiter. Durch Wälder und Sümpfe, über Seen und Flüsse. Bis sie irgendwann Britain erreichte und wie eine Verrückte gewirkt haben musste für jeden, der sie unter dem Nachthimmel erspähen konnte. Bis sie ihr Haus erreicht hatte und mit einem dumpfen Türschlag wie in einem Schneckengehäuse verschwunden war.

Es war ein Instinkt, der sie nach Hause geführt hatte. Der einzige Ort, der ihr jetzt Sicherheit versprach. Sie saß nun da, auf dem Boden, allein. Starrte mit leeren Augen, die schon alle Tränen verweint hatten, vor sich hin. Fixierte nichts, als wäre da auch nichts mehr. So saß sie Stunden, Tage, Wochen da. Regungslos als wäre mit Ancanagar jeglicher Lebenswille aus ihr gefahren. Aber etwas gärte in ihr. Hass. Rache. Dieser Mann, der ihr alles genommen hatte, der würde büßen. Nicht einfach büßen. Sziedeyna verlor sich in Rachefantasien und was sie ihm antun würde. Hass, Hass, nichts als Hass war in ihr. Der Hass überlagerte die tiefe Trauer, die sie gleichzeitig in sich trug. Es war, als hätte ihr Wesen und ihr Überleben jener Nacht nur noch einen Verwendungszweck. Diesen Mann auszulöschen, koste es was es wolle. Ihr war egal, was mit ihr passieren würde. Es gab kein Leben danach für sie. So weit reichte ihr hyperfixierter Horizont nicht mehr. Ihre einzige Sorge war, dass sie es nicht vermasseln durfte.

Als sie ihren Plan innerlich ausgearbeitet hatte, kam wieder Leben in sie. Sie bewegte sich nach Wochen zum ersten Mal. Ihre Glieder knackten und ächzten. Das Blut war inzwischen längst verbraucht und sie brauchte dringend Neues. Vor allem musste sie in Topform sein für Kaimond. "Keine. Fehler." fuhr es verbal aus ihr heraus. Dies war auch das erste Mal, dass sie seit damals überhaupt den Mund öffnete. Der Hass nährte auch eine kalte Rationalität, die sich jetzt in ihr manifestierte. Sie musste es genau planen, diesen Mann studieren, sich zuvor andere als Opfer zur Übung suchen. All die Vorsicht, all der Wunsch, nicht unbedingt töten zu wollen für ihren Hunger, das war völlig verschwunden. Ihr war es völlig egal, mit wie vielen Leichen ihr Weg zur Rache gepflastert sein würde. Menschen hatten für sie jetzt keine Bedeutung mehr. Nichts hatte mehr Bedeutung, außer ihre Rache.

Ihr erstes Opfer suchte sie außerhalb von Britain auf einem Waldweg. Ein ahnungsloser Wanderer wählte diesen Weg zur falschen Tageszeit. Sie schlich sich von hinten an, nahezu lautlos, und befiel direkt und zielsicher seine Kehle. Er hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Sie saugte ihn komplett leer. Zurück blieb ein schlaffer blutleerer Sack, den sie etwas weiter im Wald entsorgte wie Müll. Sie trat ihn noch. In ihr war ein Gefühl erwacht, das sie bis dahin gar nicht kannte. Es war als wären ihre Opfer eine Art Substitut für ihre Rachegelüste.

Das nächste Opfer war eine jüngere Frau. Es war in der Stadt und die Frau musste auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen sein. Sziedeyna saß auf einer Mauer wie ein Geier, als sie die Schritte vernahm. Als die braunhaarige Frau ihr auf der Straße näher kam, kein Mensch sonst weit und breit, dachte sie für einen kurzen Moment, es wäre Ancanagar. Als sie jedoch erkannte, dass es nur irgendeine Frau war, packte sie eine Wut. Sie stellte sich vor sie hin und versperrte ihr den Weg. Die Frau zuckte zusammen, wusste beim Anblick der körperlich etwa gleich ausgeprägten Gestalt Sziedeynas jedoch nicht ganz, wie sie das einzuordnen hatte. Sziedeyna schaute sie für einige Augenblicke an, in der die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Dann durchfuhr sie ein Ruck und alles geschah lediglich in Sekundenbruchteilen. Ihr Gesicht wandelte sich zu einer Fratze, den Unterkiefer riss sie weit nach unten und es offenbarten sich in ihrem Schlund hungrige Eckzähne. Aber diesmal hatten sie es nicht zuerst auf den weichen und blutdurchpumpten Hals abgesehen. Sie biss der Frau ins Gesicht. Sie fraß regelrecht ihre Visage. Ehe das elende Opfer überhaupt reagieren konnte, durchtrennten Sziedeynas Reißzähne bereits die Halsschlagadern und zogen den Lebenssaft mit einer Kraft aus ihr heraus, dass lediglich ein venöses Vakuum übrig blieb. Sie steckte die leeren Überreste in einen Sack und entsorgte sie außerhalb der Stadt.

Eigentlich brauchte sie kein Blut mehr. Sie war regelrecht übersättigt. Aber es war mehr als bloßer Blutdurst, der sie hier antrieb. Sie wollte vernichten. Und mehr noch. Ihr drittes Opfer war ein Obdachloser, der am Rande der Kanalisation sein Lager hatte. Sie näherte sich ihm, als er sich schon zur Ruhe gebettet hatte unter einer alten mottenzerfressenen und vor Dreck starrenden Decke. Sie ging ganz ruhig zu ihm hin. Stand eine Weile da. Er schlief. Als in ihrem Kopf Szenarien abliefen, was sie mit ihm tun könnte, befiel sie ein diabolisches Lächeln, voller Verachtung und Tötungslust. Mit der Hand schlug sie ihn zielgerichtet bewusstlos und trug ihn weiter in die Gänge der Kanalisation. Dort legte sie ihn fast schon zärtlich ab und strich ihm übers schüttere Haar. So als sollte diese Milde nur den Kontrast zeichnen zu dem, was sie eigentlich mit ihm vorhatte. Dann schöpfte sie mit der Hand etwas der stinkenden Brühe, die zäh und gärig durch die Rinne floss, und spritzte sie ihm ins Gesicht. Als er nicht gleich aufwachte, wiederholte sie dies. Mehrmals. Dann schreckte der verwirrte Mann endlich auf. Weite Augen der Verwunderung starrten Sziedeyna an. Und ihre ungeduldige Mimik wich einem teuflischen Grinsen. "Na? Endlich aufgewacht?", entfuhr es ihr, nun wissend, dass ihr Spiel beginnen konnte. "Für dich habe ich mir was ganz Besonderes ausgedacht", fuhr sie fort. Der Mann, voller Panik, wollte sich aufrichten, aber Sziedeyna stoppte dieses Bestreben umgehend, indem sie ihn mit ihrem Fuß niederdrückte. "Na, wer wird denn hier gehen wollen? Hiergeblieben!" Der Mann rührte sich nicht mehr und brachte auch kein Wort mehr heraus, so sehr ließ ihn die Angst erstarren, als würde er begriffen haben, dass ihn hier etwas anderes angrinste als ein bloßer Mensch. Fast wie das Böse selbst, das sich ihm hier offenbarte.

"Dich werde ich langsam sterben lassen", sagte Sziedeyna ihm in kalten klaren Worten. Ihr Blick war jetzt völlig emotionslos. Doch nicht ganz, als lauere hinter dieser Maske noch etwas anderes. Sie beugte sich zu ihm hinab und sagte fast wie bei einem Gebet: "Mein Schmerz zu deinem Schmerz." Diese Worte wiederholte sie ein paar Mal mantraartig. Dann nahm sie ihre Hand und griff nach seinem linken Auge wie nach einer Frucht. Einfach so. Sie griff in die Höhle, zog den weißen Apfel heraus, bis es Peng sagte und nichts mehr das Sehorgan mit dem Schädel verband. Der Mann wollte zu einem schmerzverzerrten Schrei ansetzen, da hielt Sziedeyna mit der anderen Hand den Kiefer des Mannes fest und riss ihn mit einem brutalen Ruck aus der Verankerung. "Sei ruhig!", entfuhr es ihr. Ihr Opfer verlor das Bewusstsein, sei es vor Schmerz oder Entsetzen. "Verdammt!", rief Sziedeyna, "mach doch nicht schon jetzt schlapp!" Wütend nahm sie seinen Kopf und zerschlug den Schädel des Mannes auf dem Gestein der Kanalisation wie eine Vase aus Ton. Entstellt und entmenschlicht lag der reglose Leib da. Sie hatte nicht mal mehr das Bedürfnis, von ihm zu trinken.

Innerlich war sie aber nun bereit, ihre eigentliche Rache zu vollziehen. Sie war satt, sie hatte mit verschiedenen Opfern experimentiert und wollte nun nicht länger warten. Sie konnte nicht länger warten. Die kühle Rationalität übernahm wieder die Führung bei ihr. Sie wusste, wo der Mann in Skara Brae lebte. Also würde sie dort im Ort ein Zimmer mieten und erstmal seine Routinen studieren, von sicherer Distanz bei Nacht. Ein paar Nächte vergingen. Ihrem Blutdurst begegnete sie diesmal ganz anders als die grausamen Male davor. Sie hatte hier ein anderes Ziel vor Augen und so trank sie sich an einem betrunkenen Seemann satt und entsorgte das Opfer einfach in der Brandung. Keine Hass, keine Wut, kein Sadismus. All diese Qualitäten hob sie sich nun für Kaimond auf. Diese Energie sollte ihr die maximale Kraft verleihen, die wollte sie jetzt nicht mehr an irgendwelchen dahergelaufenen Opfern vergeuden.

Kaimond schien ein Mann mit Gewohnheiten zu sein. Sein Tagesablauf unterschied sich kaum von Nacht zu Nacht. Sziedeyna fiel vor allem auf, dass er den todbringenen Dolch nicht mehr bei sich zu haben schien. Denn dieses unheilvolle Artefakt war es am ehesten, das sie fürchtete. Sie hatte all die Macht mit ihren eigenen Augen bezeugt, die von diesem Ding ausging. Wenn sie ihn da sah, wie er allabendlich den Schlüssel in das rostige Schloss steckte, sah sie nur das Ziel ihrer Rache. Das war kein Mensch, das war eine Maus. Und sie die Katze. Und sie wollte mit der Maus spielen, ehe sie sie verschlingen wollte.

Aber sie ging es geschickt an, nicht zu übereilt. Skara Brae war kein Nest der Ordnung. Es war ein Ort voller zwielichtiger Gestalten. Und so fielen Sziedeyna beim Erkunden des Ortes bei Nacht immer wieder Menschen auf, die sie vielleicht für ihre Zwecke einspannen konnte. Da war dieses Mädchen in den zerschlissenen Hosen, das ihr besonders auffiel. "Sst!", warf Sziedeyna dem Mädchen eines Nachts zu. Es wandte sich unverrücks um und blickte in die dunkle Ecke, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien. "Sst! Hier." Sziedeyna trat etwas aus dem Dunkel und offenbarte sich dem Mädchen. Dieses betrachtete sie mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier. "Du könntest mir einen Gefallen tun, dann bekommst du das hier." Sziedeyna zeigte dem Mädchen eine Handvoll Goldmünzen. Mit derlei Geschäften vertraut entspannte sich die Haltung des Mädchens und sie fragte schlicht: "Was soll ich dafür tun?" Sziedeyna antwortete: "Mir einen Dietrich für das Ordenshaus der Gemeinschaft der Flamme anfertigen." Das Mädchen lachte verschmitzt und entgegnete: "Da wird es aber nicht mehr viel zu holen geben, aber bitte, in einer Nacht hast du deinen Schlüssel." Sziedeyna nickte ihr zu und daraufhin verschwanden beide.

In der folgenden Nacht trafen sie sich wieder und das Mädchen übergab ihr wie versprochen einen Schlüssel. Sziedeyna hielt sich ebenfalls an die Abmachung und übergab ihr die Münzen. Dabei blieb es. Sie sollte jetzt Zugriff auf das Gebäude haben, in dem Kaimond regelmäßig schlief. Sie ließ nichts anbrennen und probierte noch in dieser Nacht aus, ob der Schlüssel hielt, was das Mädchen ihr versprochen hatte. Zuvor hatte sie beobachtet, wie Kaimond wie üblich das Gebäude betrat und die Tür hinter sich schloss. Nicht viel später erlischte wie erwartet das Licht in einem bestimmten Raum. Das musste sein Schlafgemach gewesen sein. Sziedeyna wartete ab, bis die Straßen vor dem Eingang leer waren, schlich zur Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte um. Es funktionierte. Die Tür war auf. Diebische Freude überkam sie. Kaimond durfte friedlich schlummern und sie war in seinem Haus, mit ihm allein. Zur Sicherheit schloss sie die Tür von innen wieder ab und ließ den Schlüssel stecken. Niemand sollte von außen zur Hilfe eilen und ihren Plan durchkreuzen. Ihr eigener Fluchtweg? Unwichtig.

Sie zog ihre Stiefel aus und schlich in Strümpfen durch die dunkle Eingangshalle, in der sie dank ihrer Vampirkräfte alles taghell erkennen konnte. Sie trug nichts als leichten Stoff, um so beweglich und leise wie möglich zu sein. Durch die Strümpfe hinterließen ihre Schritte nichtmal mehr ein leichtes Patschen. Sie überlegte kurz, wo sich der Raum befinden musste, den sie von außen als sein Schlafgemach ausgemacht hatte. Wie eine stille Schlange bahnte sie sich durch die Windungen des Gebäudes. Ähnlich witterte sie ihre Beute, nur anstatt einer gespaltenen Zunge war es eher ihre Nase oder ihr vampirischer Instinkt, dem sie folgte. So fand sie den Raum ihrer Begierde auch bald und hörte ein leises Schnarchen hinter der angelehnten Eichentür. Sie schob sie minimal weiter auf, sodass sie gerade hindurchpasste. Sie wollte keine unnötigen Geräusche verursachen und Türen entfuhr schnell ein unerwartetes Quietschen oder Knarren. All das hatte sie bedacht bei ihrem Vorgehen. Und dann stand sie da. Vor ihm. Dieser Mann, den sie zuletzt wie ein nicht zu bändigendes Monstrum erlebt hatte, lag nun friedlich da. Sie beobachtete ihn eine Weile lang, als wollte sie den Moment der Antizipation genießen.

Kaimond drehte ihr den Rücken zu. Optimal. So konnte er sie auch nicht als Schatten aus dem Unterbewusstsein spüren. Sie fühlte sich sicher. Den Dolch fühlte sie auch nicht. Der hätte ihr wirklich Angst gemacht. Aber heute war hier nichts weiter als ein Mann, der jetzt sterben musste. Sie beugte sich langsam und vorsichtig über ihn, spürte wie ihre Eckzähne sich in ihrem Mund geschwind Raum nahmen und visierte seinen Hals an. Dieser Hals, in den sie schon einmal ihre Zähne versenkt hatte, bevor er diese verdammte Superwaffe zog. Aber jetzt hatte er sie nicht dabei. Sziedeyna schlug mit voller Kraft ihre Hauer in den Hals des Mannes und saugte mit einer sich nun explosionsartig entfesselten Kraft, dass ihm förmlich das Blut aus dem Hirn gezogen wurde. Er konnte sich nicht wehren. Weil sie eigentlich satt genug war, ließ sie aber rechtzeitig von ihm ab, um ihn nicht zu töten. Sie wollte ihn wehrlos haben und das war ihr gelungen.

Daraufhin floss wieder genug Blut in seinen Kopf und er kam zu Bewusstsein, aber so geschwächt, dass er kaum eine Silbe rausbrachte. Er ächzte und schaute erschrocken in Sziedeynas teuflischen Blick. Er war wie die Fliege in ihrem Netz und sie war dabei, ihn nach ihrem Biss einzuwickeln in ein Gespinst aus Qual. "Na? Hast du etwa geglaubt, du würdest damit davonkommen?" Sie grinste genüsslich. Aber sofort veränderte sich ihr Ausdruck und sie gab ihr wahres Gesicht preis. Hass. "Du wirst büßen, du wirst winseln, du elender Wicht!" Jetzt wich die hasserfüllte Fratze für einen Moment der noch tiefer liegenden Wahrheit: Trauer. Ihre Gesichtszüge flossen förmlich der Schwerkraft folgend dahin und offenbarten ein unendliches schwarzes Loch aus Schmerz und Verlust. Aber als würde der Hass ihre entgleiste Grimasse nun wieder notdürftig hochreißen, entfuhr ihr: "Du hast mir alles genommen, alles!" Sie wollte, dass er versteht. Dass er ihren Schmerz versteht. Dass er versteht, was er ihr angetan hat.

Schwach und kaum bei Bewusstsein blickte er sie nur leer an. Dann brachte er doch ein paar leise Silben heraus: "Du armes Mädchen." Sziedeyna taumelte innerlich ob dieser Worte. Was sagte er da? Das war nicht, was sie hören wollte. Ihre innere Festigkeit, die ihre Rachelust um ihren inneren Zustand aus Trauer, Wut und Hass wie ein Band um ein Reisigbündel geschnürt hatte, geriet ins Wanken. Für einen Moment war so etwas wie Hilflosigkeit in ihrem Blick auszumachen, die sie jedoch schnell wieder unter den gewohnten Emotionen begrub. "Was sagst du da?", brach es zornig aus ihr heraus. "Du wirst..." Das letzte Wort flachte seltsam im Affekt ab und übrig blieb ein leises "...büßen." Seine Worte wirkten wie eine Injektion Gift, immer mehr. Als würde in ihr nun ein innerer Kampf toben, mit dem sie nicht gerechnet hatte, ließ sie von ihrem ursprünglichen Plan ab. Mit leeren Augen schaute sie ihn nur an, schien seinem Blick kaum standhalten zu können und machte sich lethargisch wieder an seinem Hals zu schaffen, um ihm den Rest an Lebenskraft zu entziehen. Kurz darauf lag der leblose Körper ihrer einstigen Erznemesis nur noch wie eine weitere Bettdecke vor ihr.

Er hatte ihr den Triumph verwehrt. Einfach so. Mit so einfachen Worten, die aber so tief trafen. Sie hatte ihr Werk vollendet, aber nicht so wie gedacht. Sie wollte ihn winseln sehen, sie wollte mit ihm spielen. Sie wollte ihn das Leid spüren lassen, das er ihr zugefügt hatte. Aber jetzt war da nur innere Leere. Sie verließ den Raum mit hängenden Schultern, zog ihre Stiefel an wie eine Marionette, schloss die Tür auf und ging.

Soundtrack: https://youtu.be/tgpdEWoxbd4

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Ein Jahr später

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Sziedeyna wachte schweißgebadet auf. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, dass sie nur geträumt hatte. Aber dieser Traum beschäftigte sie, weil er sich so real angefühlt hatte. Es kam ihr fast vor, als hätte sie bis vor kurzem ein anderes Leben gelebt und wäre dann durch ihr plötzliches Erwachen wieder in ihr gewohntes zurückgeholt worden. Aber es fühlte sich eher an, als hätte man sie unter Wasser gehalten und erst kurz vor dem Ersticken wieder herausgezogen. Ein Druck lastete auf ihr. Ihr Herz pochte. Es ließ sie nicht los. Das kannte sie so nicht. Sie kannte es durchaus, von einem Albtraum aufzuwachen und eine Weile zu brauchen, um die initiale Verwirrung und Aufregung abzuschütteln. Aber irgendetwas war diesmal anders.

Sie setzte sich aufrecht auf die Bettkante, atmete tief durch und rieb sich die Wangen. Danach schaute sie, noch immer in Gedanken versunken, in ihrem Zimmer umher – als suchte sie etwas, das aber gar nicht physisch in diesem Raum präsent war.
Es war so real!

Jetzt begann sie, in einem etwas wacheren Zustand, angestrengt in ihrer Erinnerung an den Traum zu kramen. Etwas fiel ihr auf, und sie fixierte für einen Moment mit den Augen einen imaginären Punkt im Raum. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und stand dann auf.

Der Traum würde sie noch den restlichen Tag beschäftigen. Es vergingen ein paar Tage, bis es wieder passierte. Sie wachte erneut schweißgebadet auf und merkte sofort, was passiert war. Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie das letzte Mal ebenfalls ein seltsames Gefühl im Magen verspürt hatte – so wie diesmal auch. Damals verspürte sie seltsamen Appetit auf Fleisch, briet sich eine besonders große Portion Speck mit Eiern. Aber erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bereits vor dem Braten große Lust verspürt hatte, das Fleisch zu verzehren – ja, regelrecht zu verschlingen.

Oder war es das Fleisch?
War es nicht vielmehr der Saft darin?

Sie hatte das ignoriert, weil es ihr absurd vorkam – und sicherlich auch nicht gesund gewesen wäre. Aber jetzt war es wieder da, dieses Gefühl, diese Lust auf...

Sie hatte jedoch kein Fleisch mehr im Haus und musste zuerst den Markt besuchen. Da sie ansonsten eh nur noch etwas vertrocknetes Brot dahatte, beschloss sie, den Markt kurz darauf aufzusuchen.

Auf dem Marktplatz angekommen, schaute sie sich um. Da war ein Stand mit Fleisch- und Wurstwaren. Sie ging eiligen Schritts zum Stand und begutachtete das Warenangebot. Dort fiel ihr eine Wurst ins Auge, die sie früher immer ignoriert hatte, da sie sie nicht als besonders appetitlich empfunden hatte. Aber diesmal erschien es ihr, als würde diese rötlich-schwarze Wurst sie förmlich dazu aufrufen, sie zu essen.

Sie wies den Händler an, ihr drei dieser Würste einzupacken, die sie mit ein paar Münzen quittierte. Mit den Würsten in der Tasche machte sie sich direkt wieder auf den Weg nach Hause. Dort knallte sie die Würste auf den Tisch, schnitt die erste gierig an und biss direkt ab – fast wie ein Tier.

Sie hatte die halbe Wurst im Eiltempo heruntergeschlungen, da fiel ihr erst auf, was sie da eigentlich tat. Das ließ sie etwas über sich erschrecken.

Was mache ich hier eigentlich? dachte sie irritiert. Dieser seltsame Traum wieder...

Sie verfiel wieder ins Grübeln und Kramen. Dann schaute sie zu den Würsten. Die angeschnittene Wurst fixierte sie für einen Moment, hielt inne – als würde sie einen inneren Konflikt austragen, der nur für sie existierte. Dann schlang sie den Rest hinunter. Danach war ihr schlecht. Ihr Frühstück war also einfach eine ganze Blutwurst gewesen. Ihr kam das im Nachhinein absurd vor.

Sie war gleichzeitig seltsam erleichtert, dass sie noch zwei dieser Würste hatte. Sie kamen ihr wie kleine Schätze vor, die sie jetzt in den Keller brachte, damit sie nicht so schnell verdarben.

Es vergingen wieder ein paar Tage. Jeden Tag aß sie morgens eine Wurst und ging regelmäßig zu jenem Stand, um sich erneut einzudecken. Und wie es kommen musste, wachte sie wieder von diesem Traum auf, der sie anscheinend nicht loslassen wollte.

Aber sie war inzwischen mental vorbereitet und wollte den Traum – sobald sie wachen Verstands war – quasi wie eine Katze ihrer Beute auflauern und ihn zu packen kriegen. Sie spürte, dass dieser Traum irgendetwas von ihr wollte. Sie hatte früher nie mit wiederkehrenden Albträumen zu kämpfen gehabt. Sie wusste: Wenn man den gleichen Traum immer wieder träumt, dann wollte er einem etwas Wichtiges mitteilen.

Aber was?

Ihr Plan ging auf. Dieses „Packen des Traums“ hatte Erfolg. Sie konnte ihn jetzt besser greifen, und er verflüchtigte sich nicht so rapide wie zuvor.

In dem Traum fühlte sie sich wie sie selbst, nur anders. Im Traum – das fiel ihr jetzt auf – aß sie keine Würste, sondern... hatte ein unbändiges Verlangen nach... Blut. Aber sie trank es nicht. Und das war offenbar Teil der Problematik, die den Traum zu einem Albtraum machte. Sie schlussfolgerte, dass sich dieses Verlangen in ihrem Heißhunger auf Blutwurst äußerte. Zuerst war der Speck das Nächstbeste, was sie unmittelbar greifbar hatte. Der Fleischsaft war es eigentlich, den sie plötzlich so verlockend fand – aber sie entschied sich dann aus Vernunft fürs Braten. Und dann lockte sie dieses Gefühl auf den Markt, wo sie die Blutwürste entdeckte.

Sie merkte auch jetzt, wie ihre Gedanken – neben dem Traum – darum kreisten, in den Keller zu gehen und sich wieder eine Wurst zu holen. Ihre tägliche Dosis. Vorher fand sie keine Ruhe.

Sie bemerkte noch mehr, als sie darüber nachdachte, wie sie im Traum war. Sie war zwar sie, aber auch nicht. Oder eher: anders. Im Traum fühlte sie sich schwach und... ausgehungert. Sie belastete ein Gefühl der Verzweiflung, und sie bemerkte die Zerrissenheit zwischen etwas, das sie wollte – und sich gleichzeitig verbot. Ein inneres Verbot aus Überzeugung. Oder eher: aus einem verzweifelten Festhalten an etwas. Dieses Gefühl wurde irgendwann so unerträglich, dass sie davon aufwachte – und es in ihr nachhallte.

Sziedeyna fragte sich, ob sie vielleicht verrückt wurde. Sie führte sich ihre Besessenheit mit den Würsten vor Augen und wusste, wie absurd das eigentlich war.
Was war da mit mir los?
Was wollte mir dieser Traum sagen, der sich so real anfühlte?

Sie hatte Gerüchte aufgeschnappt über die jüngsten Ereignisse. Leute berichteten unter vorgehaltener Hand, dass mitunter seltsame Dinge passierten. Menschen änderten sich über Nacht. Vergaßen Dinge. Erinnern sich plötzlich an Dinge, die ihrem Umfeld gänzlich unbekannt waren. Einmal sogar hielt ein Mann eine fremde Frau für seine Ehefrau und musste von den Wachen abgeführt werden, weil sie Stein und Bein schwor, dass sie ihn nicht kannte.

Könnte so etwas auch mit mir passieren?

Diese Zeiten waren seltsam. Anfangs gab sie nichts auf dieses Gerede alter Waschweiber. Aber jetzt – da war sie sich nicht mehr so sicher. Diese Träume fühlten sich für sie nach mehr an als nur Träumen. Und dann war da ja noch dieser eigenartige Appetit auf Blutwurst.
Oder... war es eigentlich das Blut darin, was sie wirklich reizte?

Jetzt stellte sie sich bewusst diese Frage und dachte an Blut. Frisch, noch warm. Erst von Tieren. Dann von... Menschen.

Und da durchzuckte es sie. Blut... von Menschen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie leckte sich die Lippen. Dabei tastete ihre Zunge auch über ihre Eckzähne, die aber keine Besonderheiten aufwiesen. Sie atmete tief durch. Irgendwas war da mit ihr los.

Und da machte es plötzlich Klick. Sie öffnete den Mund und machte ein total überraschter Gesicht – als hätte sie plötzlich eine Wahnsinnsidee.

Und ja, Wahnsinnsidee im doppelten Sinne. War das die Idee des Wahnsinns?

Ihr fiel nämlich ein, wie sie als Jugendliche einen Plan hatte, den sie in den letzten Jahren eher verdrängt hatte. Ihr Leben hatte sich stark gewandelt, und ihr altes Leben schien überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Aber jetzt war es wieder präsent. Damals hatte sie ihre Eltern ermordet, weil sie besessen davon war, unsterblich zu werden. Und damals träumte sie davon, den Vampirkuss zu empfangen. Aber sie fand keinen Vampir.

Obwohl... das stimmte nicht ganz. Da gab es ein Ereignis, das sie nicht ganz einordnen konnte. Aber danach passierte... nichts. Und dann passierten ganz andere Dinge, die ihr Leben komplett durcheinanderwirbelten. Danach war dieses Gefühl, das sie damals angetrieben hatte, irgendwie verflogen. Heute lebte sie ein eher normales, langweiliges Leben. Eigentlich viel zu langweilig. Sie schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und kam so über die Runden. Ihr Leben fühlte sich leer und sinnlos an. Mit ihrer dunklen Vergangenheit hatte sie abgeschlossen. Dennoch war sie auch desillusioniert – und wusste eigentlich gar nicht, wofür sie lebte.

Und da stellte sie die These auf, dass der Traum vielleicht so etwas wie ein Blick in eine andere Wahrheit war – eine andere Welt, in der es sie auch gab, aber in der sich gewisse Dinge anders entwickelt hatten. So wie es aussah, war darin ihr Wunsch, den Vampirkuss zu empfangen, in Erfüllung gegangen. Aber glücklich hatte es sie offenbar überhaupt nicht gemacht. Wobei dieses Unglück anscheinend davon rührte, dass sie sich verweigerte, Blut zu trinken.

Warum nur? Warum trank ich nicht?
Und woran hielt ich dabei fest?

Jetzt verstand sie: Sie hielt an ihrer Menschlichkeit fest.
Ich war damals so leer und so dumm, dass ich mich dafür hergeben wollte, dachte sie zu sich.

Und jetzt stieg in ihr ein Gefühl von Mitleid hoch, das sie mit ihrem Traum-Ich fühlte.
Irgendwo da draußen... ist sie. Bin ich. Vielleicht. Und muss das durchmachen.

Mit leeren Augen nickte sie ein paar Mal gedankenverloren. Was sie gerade am meisten beschäftigte, war eine Erkenntnis:

Wenn da draußen die Menschen sich tatsächlich verändern, dann könnte das auch mit mir passieren.

Sie erinnerte sich an eine Erzählung, die sie vor einer Weile ein paar Gassen weiter aufgeschnappt hatte. Da war bei einem Mann plötzlich eine Narbe verschwunden, die er vor Jahren bekommen hatte.

Was also, wenn... ich vielleicht auch mehr zu dieser anderen Sziedeyna werde?
Und das vielleicht der wahre Grund für meinen seltsamen neuen Appetit ist?

Sie atmete erneut tief durch. Das machte ihr alles Unbehagen.

Und dann stattete sie dem Keller wieder einen Besuch ab...

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Erwachen

Beitrag von Sziedeyna »

Die Ereignisse in diesem Beitrag passieren in einer Parallelwelt.

Und wieder wachte Sziedeyna plötzlich aus dem Schlaf auf. Die tägliche Routine mit den Blutwürsten am Morgen war inzwischen zur Gewohnheit geworden. Aber etwas war anders. Sie war weder schweißgebadet, noch war jener Traum präsent, der sie inzwischen regelmäßig aus dem Schlaf hochschrecken ließ. Sie hatte einfach irgendwann die Augen geöffnet – und war einfach ... wach. Keine Müdigkeit, kein Verlangen, noch im Bett zu verweilen. Aber etwas, das sie inzwischen gewohnt war, war weiterhin da. Nein, es war viel mehr. Der Appetit auf die Blutwürste schien sich gewandelt zu haben. In ihr war in etwa der gleiche Hunger, aber viel stärker. Wenn sie jedoch an die Würste dachte, befiel sie fast so etwas wie Ekel. Sie stellte sich andere Lebensmittel vor und empfand bei allen das Gleiche. Etwas stieß sie ab.

Dennoch, eine Sache, die sie essen konnte, näherte sich ihren Gedanken gerade wie eine Schlange. Oder eher: etwas, das sie trinken konnte. Blut. Das war das Einzige, das sie nicht abstieß. Und sie spürte den Hunger mit jeder Minute mehr. Sie fühlte sich ausgehungert und leer. Jetzt fiel ihr auf, dass das genau das Gefühl war, das sie aus ihrem Traum kannte. Dieser grenzenlose Hunger und das mit der Verweigerung verbundene Leiden.

Aber wie konnte das sein? Sie war doch gerade aufgewacht. Jetzt schaute sie an sich herab. Sie trug nicht das, was sie vor dem Schlafengehen angezogen hatte. Ihr beiger Schlafrock war jetzt weinrot – und wesentlich aufwändiger hergestellt. Und ihre Hände ... sie waren seltsam blass. Sie musterte den Rest von sich selbst – und vom Raum. Jetzt fiel ihr auch auf, dass ihr Zimmer anders aussah. Es war stockdunkel – und dennoch sah sie alles.

"Ich bin sie …", sprach sie verblüfft laut zu sich selbst.

Nachdem sie endlich begriffen hatte, was los war, spürte sie ihren Hunger wieder mehr. Es fühlte sich an, als wäre sie mit Bleigewichten beschwert. Ihre Gedanken waren gedämpft, eine innere Leere pochte in ihr, und ein Gefühl von Schwindel befiel sie periodisch.

"Jetzt bin ich sie." Sie schaute sich ungläubig um.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Der Moment überforderte sie. Noch ein paar Minuten saß sie da – und stand dann langsam auf. Die Fenster waren von innen mit lichtdichten, schweren Vorhängen zugezogen. Ohne großartig darüber nachzudenken, ging sie zu einem Fenster und zog den Vorhang etwas zur Seite. Das Licht des Tages traf sie ins Gesicht – und sofort bereute sie die Tat. Ein stechender Schmerz im Gesicht, verbunden mit einem leichten Zischen, ließ sie zurücktaumeln, wodurch der Vorhang wieder zurückfiel und das Licht wieder aussperrte.

Orientierungslos für einen Moment kam sie wieder zur Besinnung – und merkte erst jetzt die vollen Konsequenzen dessen, was mit ihr passiert war. Und der Hunger … dieser Hunger. Ihr Gesicht schmerzte weiterhin. Vorsichtig tastete sie es mit den Fingern ab und merkte, dass sich Blasen gebildet hatten und sich an einigen Stellen das Fleisch zeigte.

"Heilt das bei Vampiren nicht sofort wieder?", fragte sie sich irritiert und mit verzerrtem Gesichtsausdruck.

Ihre ganze Existenz wirkte auf sie wie eine einzige Last. Da kam ihr ein Gedanke: Vielleicht brauchte sie nur Blut. Nur Blut? Nur? In ihrem Traum hatte sich die andere Sziedeyna unter Schmerzen geweigert, welches zu trinken. Vielleicht sollte sie nicht denselben Fehler begehen – und es trotzdem tun. Aber wie ein kleiner Wurm bohrte sich der Gedanke in ihren Kopf, dass es bestimmt unendlich erleichternd wäre. Ob Blutwurst oder Blut ... nein, da war schon ein Unterschied.

Und woher wollte sie überhaupt Blut bekommen? Das verkaufte schließlich niemand als Getränk auf dem Marktplatz. Und dann hätte sie auch gar nicht rausgehen können, außer sie wollte auf dem Weg zu ihrem Ziel unter der Sonne verdampfen. Verdammt! Das war ein echtes Problem. Und bei dem Gedanken an das Blut eines Tieres kam ihr auch nicht ansatzweise derselbe Appetit auf wie beim Gedanken an Menschenblut.

"Menschenblut." Bei dem Gedanken stieg eine Wärme in ihr empor.

"Aber woher Menschenblut?" Und wie viel? Musste sie jemanden dafür töten? Das ... hätte Konsequenzen. Darüber hatte sie sich früher, als sie davon träumte, den Kuss zu empfangen, nie wirklich Gedanken gemacht. Sie hatte jetzt echt ein Problem – und musste eine Lösung finden. Durch den Traum hatte sie zu schätzen gelernt, dass sie dieses Schicksal verschont hatte, obwohl sie sich einmal so sehr danach gesehnt hatte. Und jetzt das.

Sie fragte sich, ob sie vielleicht mit etwas Glück morgen wieder als Mensch in ihrem gewohnten Bett aufwachen würde. Das war aktuell ihre einzige Hoffnung. Aber falls nicht, musste sie handeln. Ihre Gedanken begannen zu rasen. Und dann kam ihr die Idee, die ihr ohne den Nebel im Kopf eigentlich auch hätte viel schneller kommen können. Sie musste sich nur noch etwas gedulden. Und der Rest ... der würde sich schon ergeben.

So saß sie dann einige Stunden fast regungslos auf dem Boden – und sehnte den Sonnenuntergang herbei. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, aber dann war es endlich so weit. Erst wurde es langsam immer dunkler, während sich die Sonne stetig weiter senkte – und dann war sie verschwunden, dieser helle Ball, der ihr Verderben gewesen wäre. Nun blickte sie zum ersten Mal seit ihrer schweren Verbrennung wieder aus dem Fenster. Diesmal kein Schock – nur der Mond, der ihr wohlgesonnen zu sein schien.

Sie schlich langsam zur Haustür, neben der ein Mantel hing, in dem sie ihre Gestalt gut verbergen konnte – besonders in der Nacht. Sie zog ihn an und wollte die Tür öffnen. Allerdings war sie verschlossen. Nachvollziehbar – sollte doch sicher kein ungebetener Gast die bei Tage schlafende Vampirin wecken. Doch der Schlüssel steckte in der Tür, so war es leicht, sie zu öffnen.

Der erste Schritt nach draußen kam Sziedeyna unheimlich vor. Es war ihr Haus – und es war der Ort, an dem ihr Haus stand. Aber dennoch sahen einige Dinge anders aus. Nicht grundsätzlich – aber im Detail. Zum Beispiel fehlte dieser eine Stein nicht im Mauerwerk der Treppe. Sie schloss die Tür hinter sich und steckte den Schlüssel ein.

Nun musste sie nur noch – der Gedanke ging ihr nicht ganz leicht durch den Kopf – ein ... Opfer finden. Aber wie wollte sie das überhaupt anstellen? Von hinten anschleichen, bewusstlos schlagen und dann ... anbeißen und ... saugen? Sie wusste ja gar nicht, wie das geht. Und was, wenn ihr der Angriff nicht gelang und das Opfer Alarm schlug? Dieses Risiko war enorm. Vielleicht musste sie die Umstände möglichst zu ihren Gunsten wählen. Vielleicht eine einsame Seele, entfernt von der Stadt.

Und dann auch die Frage: Wie viel sollte sie überhaupt trinken? Und konnte sie das Opfer überhaupt am Leben lassen? So völlig allein auf sich gestellt fühlte sich Sziedeyna nun völlig überfordert. Sie wollte schließlich leben – und nicht für einen kurzen Höhenflug mit dem Leben bezahlen.

"Leben?", dachte sie, lebte sie überhaupt? Vampire waren doch Untote, das wusste sie eigentlich. Sie fühlte ihren Puls. Nichts. Dann eine Hand aufs Herz. Wieder nichts. Ja, sie musste tatsächlich tot sein. Beziehungsweise: untot. Sie wunderte sich ein wenig über die eher nüchterne Erkenntnis. Jetzt hatte sie eine Idee: Sie konnte vielleicht erst einmal nur prüfen, wie sie auf einen Passanten wirkte – in der Hoffnung, dass sie irgendetwas spürte, was ihr weiterhelfen konnte.

Sie musste nicht den Erstbesten anfallen wie ein tollwütiger Hund. Nein, eher vorsichtig umschleichen wie eine Raubkatze. Dieser Gedanke fühlte sich plötzlich ganz natürlich an. Erwachten da in ihr bereits gewisse Instinkte?

Also ging sie leise durch die Straßen, in der Hoffnung, dass Menschen ihren Weg kreuzten. Um diese Zeit war nicht viel los. Das war einerseits gut, andererseits auch schlecht – wenn das hieß, dass sie niemanden fand.

Doch dann geschah es. Erst das Geräusch von Schritten, dann ein schwacher Schatten, der hinter einer Ecke auftauchte. Sie konnte sehen, als ob es taghell wäre. Es war ein Mann mittleren Alters, der beim Gehen etwas schwankte. Wahrscheinlich auf dem Heimweg von einer Schänke. Sie ließ ihn zunächst an sich vorbeigehen. Als nichts passierte, rief sie ihm leise hinterher:

"Entschuldigt, gnädiger Herr."

Der Mann blieb stehen und drehte sich abrupt um. Sziedeyna fuhr fort:

"Ich bin fremd in der Stadt und habe mich verirrt. Könnt ihr mir den Weg erklären, wie ich zum Stadtzentrum finde?"

Ihre Augen fixierten dabei die seinen – und sie versuchte, irgendein Gefühl in diesen Blick zu legen. Da spürte sie etwas. Tatsächlich regte sich in ihr irgendeine Kraft. Der Mann setzte zunächst zu einer Antwort an, verstummte dann aber abrupt. Sziedeyna hatte ihn offenbar in eine Art Trance versetzt. Aber was nun? Was machte sie damit? Der Mann stand wie eine Statue vor ihr und rührte sich nicht.

Sziedeyna näherte sich ihm und versuchte dabei, den Fokus nicht zu verlieren. Sie spürte nur – dachte nicht mehr. Da stand sie direkt vor ihm, und er stand vor ihr wie eine reife Frucht an einem Baum, die sie nur pflücken musste. Sie wendete den Blick kurz ab, um zu sehen, was passierte. Der Mann verharrte in seiner Haltung. Das sah Sziedeyna als Zeichen, dass ihre Wirkung auf ihn nicht gleich verschwand, sobald sie ihm nicht mehr in die Augen schaute.

Aber sie wollte kein Risiko eingehen. Zuerst berührte sie den Mann vorsichtig. So, dass es nicht unbedingt verdächtig wirkte, falls er doch plötzlich aus seinem Zustand erwachen sollte. Nichts passierte. Nun tastete sie vorsichtig seinen Hals ab. Er reagierte nicht. Sie schaute zur Sicherheit noch einmal in seine Augen – mit diesem Gefühl. Jetzt war es so weit. Sie musste die Chance nutzen.

Sie ertastete die Halsschlagader, die warm und lebendig pulsierte. Da regte sich etwas in ihr. Diese Lust, diese Gier. Sie bemerkte, wie sich in diesem Moment wie von selbst ihre Eckzähne ausfuhren. Sie setzte zum Biss an – da hörte sie etwas. Schritte. Eine weitere Person, die sich näherte. Sie musste improvisieren. Die Person kam schnell näher – sie musste jeden Moment um die Ecke biegen. Sziedeyna hatte blitzschnell einen Einfall: Sie umarmte den erstarrten Mann eng und küsste ihn auf den Mund, in der Hoffnung, der Neuankömmling würde beide für ein Liebespaar halten.

Dieser Plan ging auf. Sie hörte nur ein leises Schmunzeln, als der Fremde an ihr vorüberging. Als er weit genug entfernt war und seine Schritte verhallten, versuchte sie es erneut. Sie suchte die Schlagader, leckte sich einmal über die Eckzähne, um ein Gefühl für sie zu bekommen – und setzte dann zum Biss an.

In ihr regten sich tausend Gefühle. Sie war plötzlich wie im Rausch. Sie öffnete den Mund weit, legte die Eckzähne an die Ader und biss zu. Sie hatte es geschafft – und spürte das warme Blut in ihren Mund sprudeln. Sie schluckte gierig jede Füllung herunter. Dabei fühlte sie sich fast wie bei einem Orgasmus. Es war einfach fantastisch. Sie trank, und trank, und trank. Sie konnte nicht aufhören. Es war einfach zu schön. Sie trank immer weiter – bis sie satt war. Richtig satt.

Da ließ sie von ihrem Opfer ab. Erst dann merkte sie, was passiert war. Der leblose, verblasste Körper sank zu Boden.

"Verdammt!", dachte sie, genau das sollte nicht passieren.

Was nun? Zum Glück war die Straße noch immer menschenleer. Einerseits noch immer auf eine gewisse Weise betrunken, andererseits alarmiert, entschied sie instinktiv, dass die Leiche verschwinden musste. Wenn jemand sie fand – blutleer und mit Bissverletzung am Hals –, dann würde man früher oder später nach einem Vampir suchen. Das konnte gefährlich für sie werden.

Als sie den erschlafften Leichnam packen wollte zum Transport, merkte sie, wie leicht er sich anfühlte. War er so leicht, weil ihm das Blut fehlte – oder war sie stärker als gewohnt? Vielleicht traf beides zu. Also schulterte sie den Mann ohne Probleme und trug ihn, immer vorsichtig spähend, ob jemand kam, langsam Richtung Stadtrand.

Da sie sich in der Stadt auskannte, fiel ihr ein guter Ort ein, um die Leiche verschwinden zu lassen. Dort, wo die Kanalisation aus der Stadt floss. Da würden Ratten und anderes Getier die Leiche so schnell so verunstalten, dass niemand mehr erraten würde, auf welche Weise er umgekommen war. Ein Mann würde ihn wahrscheinlich für einen Trunkenbold halten, der in seinem Rausch in die stinkende Brühe gefallen und dort umgekommen war. Ein Unfall also. Diese Perspektive erleichterte sie – und so setzte sie den Plan ohne weitere Zwischenfälle um.

Danach ging sie mit kleinen Umwegen nach Hause, ging die kleine Treppe hoch, zog den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür, huschte hinein, schloss die Tür – und sank erstmal zu Boden.

Sie hatte es wirklich geschafft. Erstmal war sie satt. Richtig satt. Aber wie lange hielt das jetzt an? Und so konnte es nicht jedes Mal laufen. Es konnte nicht jedes Mal eine Leiche geben. Und jedes Mal konnte etwas passieren. Aber das war ein Problem für die zukünftige Sziedeyna. Jetzt wollte sie erstmal ihren kleinen Triumph sacken lassen.

Es war einfacher, als sie gedacht hatte. Auf die übernatürlichen Kräfte, die ein Opfer willenlos machten, hatte sie intuitiv Zugriff erlangt. Vielleicht lag es daran, dass ihr Körper – dieser Körper – schon Erfahrung mit derlei Vorgängen hatte und fast von selbst funktionierte.

In diesem Zustand der Entspannung fiel ihr auf, dass ihr Gesicht gar nicht mehr brannte. Sie tastete es mit den Fingern ab und bemerkte, dass es vollständig geheilt sein musste. Jetzt wurde ihr klar, warum das vorher nicht funktioniert hatte. Ihr fehlte die Energie in Form von Blut. Die Schwere, die sie zuvor wahrgenommen hatte, war auch verschwunden. So funktionierte das also. Sie sollte am besten nicht mehr in so einen ausgehungerten Zustand kommen, um es sich bei der Jagd nicht unnötig schwer zu machen.

Jetzt kam ihr auch plötzlich eine Frage in den Sinn. Wenn sie jetzt in der Haut ihres vampirischen Traum-Gegenstücks steckte, erging es diesem dann umgekehrt genauso? War die ausgehungerte Vampirin, die sich weigerte, Blut zu trinken, jetzt über das Wunder überrascht, von ihrem Fluch geheilt zu sein?

Fluch … ja, den hatte sie jetzt dafür. Und ja, sie hatte begriffen, dass es einer war – auch wenn sie es gerade nicht spürte, dank des vielen Bluts, das sie in sich trug. Sie musste sich immer wieder versorgen – und das brachte sie in Gefahr. Andernfalls erging es ihr wie ihrem Gegenstück – und das elendige Gefühl verfolgte sie seit den ersten Träumen irgendwann.

Aber warum weigerte sich ihr Gegenstück so vehement, zu trinken, während sie gerade ihre erste Mahlzeit zu sich genommen hatte? Irgendwas musste die beiden unterscheiden – nicht nur, wer von beiden Vampir war. Sziedeyna fühlte sich jetzt irgendwie schmutzig. Als hätte sie ein Tabu gebrochen – und dafür für immer etwas verloren.

Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, wie leicht ihr das alles eben gefallen war. Sziedeyna lebte vielleicht ein einfaches Leben, aber ihr Verstand machte immer wieder mal kleine Höhenflüge. In ihr kam die Frage auf, ob dieser Tausch vielleicht etwas geradegerückt hatte. Vielleicht waren sie vorher vertauscht – und jetzt sind beide am richtigen Ort. Ihr fiel es offenbar leichter, sich dem Vampirismus hinzugeben, und ihr Gegenstück, das darunter litt, wurde von dieser Qual erlöst.

Aber war das hier wirklich ihre Welt? Und wie sollte es weitergehen?

Sie hatte gar nicht bemerkt, wie bereits wieder der Tag anbrach. Doch als sie das tat, legte sie sich erst mal schlafen. Ihr letzter Gedanke war, dass sie irgendwie froh war, keine Blutwürste mehr essen zu müssen. Doch ob ihr neues Schicksal wirklich besser war?

So verließ sie das Bewusstsein – mit einem leisen Schmunzeln.

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Ein anderes Erwachen

Beitrag von Sziedeyna »

Sziedeyna wachte auf. Sie ... wachte ... auf. Sie spürte, wie die Müdigkeit noch in ihren Gliedern steckte, und sie verspürte den Impuls, sich etwas zu recken und zu strecken. Ein Gähnen überkam sie. Das war ... neu. Oder alt. Je nachdem, wie man es betrachtet. Sie hatte nicht einfach von jetzt auf gleich die Augen geöffnet und war voll da, wie das zuletzt bei ihr stets der Fall gewesen war. Sie fühlte sich ... menschlich?

Zuerst fuhr sie mit ihrer Zunge über die Eckzähne und versuchte sie auszufahren, aber nichts passierte. Sie fasste sich ans Handgelenk – und sie spürte ... einen Puls. Ihre Haut war rosiger. Und vor allem ... sie verspürte diesen Hunger nicht mehr. Sie konnte es kaum glauben, aber alles sprach dafür, dass sie wieder ein Mensch war. Ein Mensch! Ein ganz normaler Mensch ohne diesen elenden Hunger, den sie sich nicht zugestanden hatte und deswegen Höllenqualen gelitten hatte. Aber all das war jetzt weg. Sie fühlte sich ... friedlich.

Sie schaute sich im Raum um und bemerkte, dass es zwar ihr Raum zu sein schien, jedoch anders. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren durch leichte ersetzt worden, die mehr Licht durchließen. Und jetzt wollte sie es wissen! Sie zog den Vorhang zur Seite, und die Sonne fiel in ihr Gesicht. Sie wollte zuerst instinktiv zurückschrecken, merkte aber sofort, dass ihr die Sonne nichts anhaben wollte. Sie war ... warm ... und freundlich. Sie war wirklich ein Mensch.

Das muss ein Wunder gewesen sein, dachte sie zu sich selbst. Ein Wunder, das einem das Leben kein zweites Mal schenkt.

Einst war sie wie besessen davon gewesen, ein Vampir zu werden. Und als sie dies endlich geschafft hatte, durch einen puren Zufall, indem sie Ancanagars Turm gefunden hatte, war ihr Glück nur von äußerst kurzer Dauer gewesen. Nach der Rache an Kaimond für Ancanagars Tod war nur noch innere Leere übrig und sie hatte sogar die Lust verloren, Blut zu trinken. Ihr zunächst so vielversprechendes unsterbliches Leben war zu einer Falle geworden, in der sie nur noch vor sich hin vegetiert war. Aber jetzt hatte sie diese zweite Chance bekommen.

Ihre Gedanken hatten sich die letzten Wochen intensiv um ein Leben als Mensch gedreht. Sie hielt krampfhaft an der Vorstellung fest, wie ihr Leben als Mensch wäre, und flüchtete sich in diese Fantasie. Doch diese Fantasie war nun Wirklichkeit geworden. Wie und warum, das wusste sie nicht. Aber es war am Ende auch egal. Hauptsache war, dass sie wieder leben konnte. Wirklich leben.

Sie blickte zur Tür und sah einen Mantel daneben hängen. Das war nicht der Mantel, den sie kannte. Er war leichter, unscheinbarer. Ein Alltagsgegenstand zum Schutz vor Witterung. Sie fragte sich, wer vor ihr hier gewohnt haben mochte. Vieles war so ähnlich und auch ... vertraut. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie kannte den Mantel eigentlich. Es war ihrer – vor der Wandlung. Nicht alles war exakt gleich, aber sie erkannte das Muster. Niemand anderes außer ihr oder einer Art Zwilling konnte hier gewohnt haben.

Hatte sie mit diesem Zwilling die Plätze getauscht? Vielleicht waren ihre intensiven Fantasien nicht bloß das, überkam sie ein Gedanke. Vielleicht steckte mehr dahinter. Das wäre nicht ganz unplausibel, dachte sie, in Anbetracht der aktuellen Ereignisse, von denen die Leute berichtet hatten, denen sie des Nachts heimlich gelauscht hatte – nicht weil sie ihr Blut hatte trinken wollen, sondern weil sie Gesellschaft gesucht hatte. Menschliche Gesellschaft, von der sie dennoch fundamental getrennt war. Durch den Verlust Ancanagars hatte sie sich als das einsamste Wesen auf der Welt gefühlt und irgendwann begonnen, ihrer menschlichen Existenz hinterherzutrauern. So hatte sich neben dem körperlichen Hunger noch dieser emotionale Hunger dazu gesellt.

Aber jetzt war alles anders. Sie musterte ihre neue alte Garderobe und zog sich an. Das gab ihr ein Gefühl, fast wie in eine alte Haut zu schlüpfen. Doch fühlte sie sich anders als früher. Ein innerer Frieden war hinzugekommen, der ihr vor der Wandlung fehlte und der sie überhaupt erst dazu getrieben hatte, die Unsterblichkeit zu suchen.

Passend für den Tag gekleidet schritt sie zur Tür und öffnete sie langsam. Da öffnete sich vor ihren Augen eine ganze Welt. Eine bekannte und dennoch neue Welt. Sie trat vor die Tür und schloss sie behutsam hinter sich. Nun stand sie da, auf der kleinen Treppe, ging sie hinunter und drehte sich noch einmal um. Sie konnte es immer noch kaum fassen. Sie bemerkte, dass da ein kleiner Stein im Mauerwerk der Treppe fehlte.

Hmm, kleine Unterschiede, dachte sie. Es war nicht nur sie selbst, die sich verändert hatte, sondern auch ihre Welt. Aber nicht zu sehr, um sich nicht grundsätzlich unvertraut zu fühlen.

So ging sie los, die warme Sonne im Gesicht. Sziedeynas erster Tag unter der Sonne seit rund einem Jahr. Nachdem sie vor die Tür ihres kleinen Hauses getreten war, fühlte sie eine Euphorie in sich aufsteigen, mit der sie längst nicht mehr gerechnet hatte. Die Hoffnungslosigkeit, die noch gestern jede Faser ihres Körpers chronisch durchzogen hatte, wich einer neuen Lebensbejahung – einer, die sie so überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben spürte.

Sie labte sich an der Wärme, die die Sonne auf ihr Gesicht und ihren Körper legte. Es fühlte sich fast an, als würde sie mit Energie aufgeladen. Sie war ganz im Moment. Sie spürte den Wind sanft durch ihre Haare streichen, hörte den Vögeln beim Singen zu, beobachtete Bienen und Schmetterlinge – und liebte in diesem Augenblick einfach alles, was um sie herum geschah. Es waren banale Dinge. Aber es waren auch Dinge, die für ein Jahr lang völlig unerreichbar gewesen waren.

Sie hatte den Vampirfluch verloren. Oder besser gesagt: Sie war in einer anderen Welt aufgewacht, in einem anderen Körper, der dennoch ihrer war. Ein Wunder – unmöglich eigentlich. Kein Vampir wagte je, davon zu träumen. Und doch war es geschehen. Sie hatte alle Erinnerungen behalten. Sie war sie selbst. Wieder sie selbst.

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Zuletzt geändert von Sziedeyna am 11 Okt 2025, 04:33, insgesamt 7-mal geändert.
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Beitrag von Sziedeyna »

Sziedeynas anfänglicher Rausch war inzwischen verflogen. Allmählich machte sich in ihr wieder der Hunger breit. Ihre Gedanken hatten sich für eine Weile nicht um Blut gedreht. Jetzt stellte sie sich wieder die Frage, wie sie an welches kommen konnte, möglichst ohne wieder eine Leiche entsorgen zu müssen. Sie seufzte. Ihr wurde in der Nüchternheit klar, was ihr Zustand in Zukunft für sie bedeutete. Unsterblichkeit. Aber zu welchem Preis?

Diese Gedanken nahmen sich jetzt mehr und mehr Raum in ihrem Kopf. Nachdem sowohl die völlige Aushungerung als auch der Rausch nach der Blutmahlzeit verflogen waren, reflektierte sie zum ersten Mal ihre Situation richtig. Gerade als Vampir erwacht war es der Hunger gewesen, der ihre Gedanken auf eine einzige Sache fokussiert hatte. Danach hatte der Rausch ihr jede Notwendigkeit genommen, über ihre Situation nachzudenken.

Alles hatte mit ihren Träumen angefangen, die immer mehr ihr Leben bestimmt hatten, und am Ende sah sie sich plötzlich in einer anderen Welt wieder und war zu dem Ebenbild aus ihrem Traum geworden. Niemand hatte sie gefragt, ob sie das auch wollte. Eigentlich hatte sie mit dem Wunsch, ein Vampir zu werden, längst abgeschlossen. Ihr wurde klar, dass das alles keine Dauerzustände sein konnten und sie sich immer wieder an diesem Punkt befinden würde, an dem ihr ihre Existenz vor Augen geführt wurde.

Diese Gedanken ließen sie in ein Loch fallen. Woraus sollte ihr Leben künftig bestehen? Sollte alles, wofür sie lebte, darin bestehen, sich die nächste Blutmahlzeit einzuverleiben – gegebenenfalls unter hohen Risiken? Sie fühlte sich wie eine Drogenabhängige in einem Moment der Klarheit. Bloß, dass sie keine Aussicht darauf hatte, von dieser Droge loszukommen, da sie notwendig für ihre Existenz war. Und so breitete sich in ihr ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Leere aus, das sie in den nächsten Tagen auch nicht verlor.

***

Sziedeynas anfängliche Euphorie wich allmählich einer Gewöhnung an den Alltag. Die Bienen und Schmetterlinge oder die Wärme der Sonne nahm sie jetzt nicht mehr so wahr wie zuletzt noch an ihrem ersten Ausflug als Mensch. Sie brauchte Geld. Also musste sie arbeiten. Nur wusste sie überhaupt nicht, was ihr Gegenstück zuletzt gemacht hatte. Zu welchen Auftraggebern hatte sie Kontakt gehabt? Welche Aufträge waren noch offen? Es fiel ihr daher schwer, wieder in ihr altes Leben vor der Vampirwandlung zurückzufinden.

Sie klapperte Anschlagsbretter ab, aber es war kein Auftrag für sie dabei. Sie beschloss, ihren ehemaligen Auftraggebern einen Besuch abzustatten und sich dabei möglichst nicht anmerken zu lassen, dass sie sie eigentlich seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Einer hatte tatsächlich einen Auftrag für sie, den sie bereitwillig und voller Erleichterung annahm. Es war das Übliche: Irgendein Schwarzmagier benötigte wieder Reagenzien für seine Experimente. Sie hatte endlich den Fuß wieder in der Tür. Normalität schien einzukehren.

Eines Morgens jedoch wachte sie schweißgebadet auf. Ein Albtraum. Darin war sie wieder die Vampirin, die sie bis vor kurzem noch gewesen war. Träume waren offenbar ein Nebeneffekt ihrer zurückgewonnenen Menschlichkeit. Aber dieser Traum machte ihr Angst. Was, wenn es kein bloßer Traum war, sondern eine Erinnerung daran, dass sie vielleicht genauso unverrücks wieder zu dieser Kreatur werden konnte, wie sie sich plötzlich in der Haut eines Menschen wiedergefunden hatte? Was, wenn diese Rückverwandlung nicht endgültig war? Was, wenn sie wieder in diesen elenden Zustand zurückkehren musste, der für sie die reinste Qual gewesen war? Sie hoffte Gegenteiliges, aber bei diesem einen Traum blieb es nicht.

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Und dann passierte es. Genauso plötzlich wie das Mal zuvor. Sziedeyna wachte wie aus einem Traum auf und spürte sogleich, dass sie kein Vampir mehr war. Sie blickte sich um, und der veränderte Raum bestätigte ihr dies. Keine schweren Vorhänge. Ihr Schlafrock hatte wieder das sachte Beige statt dem intensiven Weinrot. Aber anstatt sich über die wundersame Wendung zu freuen, stieg Unbehagen in ihr auf.

Sie war skeptisch. Was sie zuletzt als endgültiges Schicksal begriffen hatte, war nun, durch den erneuten Wechsel, grundsätzlich infrage gestellt worden. So konnte es nicht weitergehen. Würde sie die nächste Nacht wieder Vampir sein? Sie musste dem, was mit ihr passierte, endlich auf den Grund gehen. Aber sie wusste nicht, wo sie überhaupt anfangen sollte. Die Geschehnisse schienen sich in einem viel größeren Rahmen abzuspielen, als für sie greifbar war.

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Und dann geschah es. Genauso plötzlich wie das Mal zuvor. Sziedeyna wachte nicht aus ihrem Traum auf, sondern war zu ihrem Traum geworden – der Vampirin. Was sie sofort merkte, da sie den Zustand inzwischen kannte und er in so barschem Kontrast zu ihrem menschlichen Lebendigfühlen stand, das sie zuletzt wieder wertzuschätzen gelernt hatte.

Sofort brach in ihr ein Gefühl von Ausweglosigkeit aus. Wie konnte ihr das Schicksal so einen Streich spielen? Als hatte es ihr grausam mit einem kleinen Appetithappen vor Augen führen wollen, was sie doch nicht mehr haben sollte. So fühlte es sich für sie an. Aber sie fragte sich nun auch, ob sie vielleicht morgen doch wieder als Mensch aufwachen würde. Diese Ungewissheit konnte sie nicht länger akzeptieren. Sie musste dem, was mit ihr geschah, endlich auf den Grund gehen. Selbst ihren Hunger schien dieses Gedankenkarussell vorübergehend zu überdecken.

***

Es war wieder passiert. Sie hatte keinen Herzschlag mehr und spürte den Hunger nach Blut. Die Abstände zwischen den Wechseln schienen sich zu verringern. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als hätte sich etwas in ihrem Augenwinkel bewegt. Sie schaute hin. Da hing ihr Spiegel an der Wand. War es Einbildung? Da konnte doch nichts gewesen sein.

Sie stand trotzdem auf, stellte sich vor den Spiegel und schaute hinein. Da sah sie etwas!

***

Es war erneut geschehen. Sie spürte ihr Herz pochen nach dem Aufwachen. Als Allererstes ging sie zum Spiegel an der Wand, um sich zu sehen. Es verlangte sie innerlich nach dieser eindeutigen Bestätigung. Da war aber nichts. Der Spiegel war... leer. Sie zweifelte an ihrem Verstand, wandte sich ab und rieb sich die Augen. Was war nur los?

Sie versuchte es nochmals. Und als sie diesmal in den Spiegel schaute, sah sie jemanden!

***

Als sich beide erblickten, begriffen sie gleichzeitig: Es war nicht ihr eigenes Spiegelbild, das sie sahen – es war ihr Gegenstück. Vampirin und Mensch blickten einander wie erstarrt in die Augen, als könnten sie ihren Blicken nicht trauen. Ein Sog schien von der spiegelnden Fläche auszugehen, und beide verspürten wie in Trance den Drang, das Bild zu berühren.

Sie streckten eine Hand aus – langsam, fast zögerlich – und berührten gleichzeitig die Oberfläche.

Da vollzog sich etwas Unglaubliches.

Ein einziger, greller Lichtblitz – ein Knall, der kaum länger als ein Herzschlag andauerte – und beide Sziedeynas verschmolzen zu einer.

Weder vollständig Mensch, noch ganz Vampir – und doch beides irgendwie.

Damit stand das Pendel still. Ein kosmischer Ausgleich hatte stattgefunden.

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Zuletzt geändert von Sziedeyna am 11 Okt 2025, 04:34, insgesamt 5-mal geändert.
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