Der Regen hatte den Wald in eine stille Umarmung gehüllt, feine Tropfen glitzerten wie kalte Splitter auf dem smaragdgrünen Moos, das den Boden bedeckte, und hingen schwer an den Zweigen der uralten Eichen, deren knorrige Wurzeln wie die Finger vergessener Riesen aus der Erde ragten. Rianon bewegte sich zwischen diesen Säulen aus Holz und Zeit, so lautlos, dass selbst der Atem des Waldes ihn kaum wahrnahm. Sein Schritt war federnd, der Boden nachgiebig und feucht unter seinen Stiefeln, und jeder Laut, jedes Knacken von Holz, das unter dem Gewicht brach, jedes Zittern eines Blattes im Wind drang klar und unverfälscht in sein Bewusstsein. Es war, als sei der Wald Teil von ihm, als sei sein Herzschlag mit dem Puls der Bäume verwoben, und dennoch fühlte er sich fremd – wie ein Schatten, der seinen eigenen Körper verlassen hatte.
Die Luft schmeckte nach Regen und Eisen, nach feuchter Erde und verwittertem Holz, und irgendwo fern trug der Wind den metallischen Hauch von Blut heran, alt und schwach, vielleicht das eines Rehs, das in der Nacht gefallen war. Der Geruch legte sich wie eine Erinnerung auf seine Sinne, süß und scharf zugleich, und tief in ihm, dort, wo der Wolf schlief, regte sich das erste unstete Grollen. Sein Rudel war nicht bei ihm. Weder das leise, treue Trappeln von Koda und Naya noch der feste, bestimmte Schritt von Alniira begleiteten ihn. Auch waren seine anderen Freunde unter den Waldelfen fern. Das Lachen von Ira, die Klänge, welche Yâranel auf seinen Instrumenten hervorbringen kann oder das funkelnde Lächeln in dem lieblichen Gesicht von Lirael. Zum ersten Mal seit vielen Wochen war er allein unterwegs, ohne die Wärme derer, die ihm vertraut waren, ohne die Sicherheit, die ihr Atem in der Nacht bot. Nur er und das Wispern des Waldes, das an diesem Tag schwerer klang, als wäre selbst die Natur in eine tiefe Melancholie gefallen.
Doch die Stille brachte keinen Frieden. Sie trug nur die Stimmen seiner Erinnerungen heran, und je tiefer er in das Herz des Waldes drang, desto lauter wurden sie. Da war das leise Flehen des Yewbaum-Setzlings, dessen uralte Seele er aus den Klauen der Fäulnis befreit hatte; das Echo eines Lebens, das älter war als seine eigene Erinnerung. Er hörte den verzerrten Schrei des Mannes, der an der Schwelle zwischen Mensch und Bestie zerbrach, als hätte der Mond selbst ihn mit den Klauen der Verwandlung ergriffen und sein Fleisch aufgerissen. Und da waren die Schatten jener Nächte, in denen Untote durch den Wald gewandert waren, leere Hüllen ohne Atem, deren Kälte tiefer war als die schärfste Klinge. Alles in ihm trug diese Bilder wie Narben unter der Haut, unsichtbar, doch stets spürbar.
Und der Wolf, der Teil von ihm war, ließ sie nicht ruhen. In seinem Inneren drängte das Raubtier, ungeduldig, wild, verlangend. Manchmal war es nur ein Flüstern, wie das Knistern von Laub im Wind, und manchmal so laut wie das Heulen eines Rudels im Tal, unüberhörbar, unübersehbar. Der Elf in ihm suchte nach Ordnung, nach der klaren Linie, nach einem Weg, auf dem Vernunft die Schritte lenkte. Der Wolf aber kannte keine Pfade. Er kannte nur Instinkt. Hunger. Jagd. Freiheit. Außerdem war da noch der Adler, sein Seelentier, dessen Rufe laut hallten und nach seiner Aufmerksamkeit riefen. Und immer häufiger geschah es, dass Rianon in der Dunkelheit der Nacht aufwachte und sich selbst fragte, welche Stimme die seine war.
„Genug.“ Das Wort kam leise, kaum mehr als ein rauer Hauch zwischen den Zähnen, doch es hallte in ihm nach wie der Schlag einer Axt in Holz. Er hielt inne, legte die Hand auf die Rinde einer alten Buche und ließ die Fingerkuppen über die feuchte Oberfläche gleiten. Der Wald war alt. Er kannte den Schmerz der Zeit, das Vergehen und die Wunden, die Generationen schlugen. Und dennoch wuchs er weiter, reckte seine Äste dem Licht entgegen, so, wie er es seit Jahrhunderten tat. Vielleicht lag darin die Antwort, die er suchte.
Seine grünen Augen glitten über das Unterholz, über das zarte Spiel von Farnen und Wurzeln, die wie Adern aus der Erde brachen. Er spürte, wie der Wind seinen feuchten Atem in den Wald trug, und mit ihm kam der ferne Hauch von Harz und feuchtem Stein, der nach einem Ort roch, den er noch nicht kannte. Etwas in dieser Richtung lockte ihn, leise und doch bestimmt, wie eine Stimme, die nicht in Worten sprach, sondern in Gerüchen, in Licht und Schatten. Vielleicht lag dort Frieden, vielleicht nur eine neue Bürde – aber er wusste, dass er gehen musste.
Er zog die Kapuze seines Umhangs tiefer ins Gesicht, ließ den Kopf leicht gesenkt, um dem Wind zu lauschen, und setzte sich wieder in Bewegung. Die Schritte wurden schneller, fließender, bis sein Körper sich wie von selbst bewegte, Muskel auf Muskel, kontrolliert und doch ungebändigt, der Rhythmus des Laufens alt wie das Rudel selbst. Dann brach das Knacken eines Astes hinter ihm die Harmonie der Geräusche. Rianon verharrte augenblicklich, der Atem stockte, und für einen Herzschlag war alles still, nur das ferne Trommeln des Regens begleitete die Spannung. Seine Sinne schärften sich, der Wolf wachte, der Adler flog, beide rissen seine Gedanken fort und ließ nur das Jetzt zu. Herzschlag. Atmung. Richtung. Er roch es, lange bevor er es sah: Tier. Warm. Leben. Ein Reh, schwach und verwundet, nicht weit entfernt. Sein inneres Raubtier spannte die Muskeln, schickte Impulse durch seine Adern, verlangte nach Jagd, nach dem Blut, das er schon zu schmecken glaubte. Der Elf in ihm aber stemmte sich gegen diesen Ruf. Nicht heute. Nicht jetzt. Er suchte keinen Kampf, keine Beute, keine Bestätigung seines Überlebens. Ein leises Knurren entrang sich dennoch seiner Kehle, ungewollt, tief, kehlig, wild, ehe er die Augen schloss und die Spannung fortdrängte. „Nicht heute,“ murmelte er rau, und das leise, fast heisere Timbre seiner Stimme verlor sich im schweren Atem des Waldes. Heute würde er lediglich den Frieden jagen.
