Die kahlen Zweige des Riesen waren von Weitem immer wieder für einen flüchtigen Moment erkennbar, wenn sich der Wald stellenweise lichtete. Nun, am Fuße des Giganten angekommen, der ihr die letzten 120 Jahre Unterschlupf gewährt hatte, war das Ausmaß unübersehbar:
Das Immergrün der gigantischen Baumkrone, das bei ihrer Abreise noch Schutz vor Sonne und Regen für ihr Nachtlager spendete, bedeckte nun den umliegenden Waldboden mit einem dicken Teppich aus leuchtendem Gelb.
Von ihren Streifzügen an den Grenzen Yews, wurde der Waldelfe schon mehrfach das selbe Bild vor Augen geführt: Die Giganten, die nicht einmal im Herbst oder Winter ihre Blätter verfärbten, standen nun in sattem Gelb, als ob sie über die Jahrhunderte hinweg nur vergessen hatten den Jahreszeiten zu trotzen. Dazu kamen die Berichte einiger Brüder und Schwestern, die sogar Setzlinge in der Nähe der Baumriesen auffinden konnten. Der Wald schien im Wandel, schien sich auf ein großes Ereignis vor zu bereiten. Die fallenden Sterne, von denen die Tala des Paladinordens berichtet hatten, mochten sehr wohl Grund dafür sein. Auch wenn der nächste Einschlagort unersichtlich sein mochte, hatten doch Pflanzen und Tiere einen sechsten Sinn für diese Katastrophen. Und auch ein solch naturverbundenes Volk wie ihr eigenes konnte sich dem nagenden Gefühl der Ungewissheit nicht entziehen.
Besorgt trat Irâ näher an den Stamm ihres jahrelangen Gefährten heran. Liebevoll lehnte sie Stirn und Arm an die raue Barke des Yen Baumes, und schloss ihre Augen. Das innere Lied ihres alten Freundes war nur noch leise spürbar, aber vorhanden. Kein Schmerz, aber dennoch hatte der Riese seine gesamte Kraft aus seinen Blättern und Geäst zurück in seinen Stamm gezogen. Aber warum erklang sein Lied dann nur noch wie ein verschlafenes Flüstern?
Irâ verharrte noch einige Augenblicke und lauschte der heimisch-vertrauten Melodie, wie sie es seit über hundert Jahren fast täglich getan hatte. Dann löste sie sich.
Es war Zeit weiter zu ziehen, denn der Bund, sowie der Orden würden in den folgenden Wochen jede helfende Hand benötigen. Die Bevölkerung des Zauberwaldes wurde bereits in Kenntnis von dem bevorstehenden Unheil gesetzt. Auch hatte der Bund nicht vergessen den versteckten Völkern des Zauberwaldes Nachrichten und Bündnis Vorschläge zukommen zu lassen. Baumhirten, Feen, Nympfen, Waldgeister und Dryaden waren seit Jahrhunderten schon kein alltäglicher Anblick in Yen mehr gewesen, aber zumindest Erzählungen wie man mit einigen von ihnen im Falle eines Falles in Kontakt treten konnte, wurden zumindest noch mündlich überliefert. Es würde sich zeigen, ob sie reagierten.
Die Handgriffe und Tritte, mit denen die Waldelfe geschickt in die Baumkrone hinauf kletterte, waren ebenso flink wie routiniert. Äste flogen förmlich an ihr vorüber, als sie, elegant wie eine Katze, ihrer Lagerstätte hoch oben in der Baumkrone entgegen schoss.
Sie konnte sich dem Gefühl der Melancholie nicht entziehen, als sie ihr Lager, normalerweise mit üppigem Grün umschlossen, erreichte und nichts weiter als kahle Äste vor fand.
Ihre wenige Habe, die sie zurück gelassen hatte, war schnell zusammengepackt: Eine Harfe, die Laute, die sie von Ya’ranêl als Geschenk vor ihrem Auftritt erhalten hatte, ein lederner Trinkschlauch, schlichte Kleidung in elbischer Machart, einen ledernen Schriftrollenbehälter in dem sie Pergament, sowie Zeichenutensil aufbewahrte. Wenn der Wald alles zum Leben notwendige zur Verfügung stellte, war nicht sonderlich viel mehr von Nöten, als man am eigenen Leib tragen konnte.
Nachdem alles in ihrem Bündel verstaut war, ließ sich Irâ mit ihrer Laute auf einem der breiten Äste unter ihrer Ruhestätte nieder, und schmiegte sich mit ihrem Rücken an den breiten Stamm des Yew Baumes.
Nicht wissend, was sie das nächste Mal vorfinden würde, wenn sie nach dem Unheil zurückkehren würde, begann sie zu spielen. Die melancholischen Klänge wurden von der leichten Abendbrise weit über das Blätterdach des Zauberwaldes getragen. Irâ wusste nicht, wie lange sie sich ihrer Musik hingab. Lieder ihrer alten Heimat ertönten mit den Klängen der Instrumente, die ihr noch vor wenigen hundert Jahren fremdartig vorkamen, wechselten sich ab mit den traditionellen Melodien Yews, den Liedern, die sie mit Ya’ranel vor wenigen Monden vorgetragen hatte bis hin zu den Melodien der Druiden, denen sie in ihren Ritualen beiwohnte. Ihre bisherige Reise in Liedform.
Als sie schließlich ihre Laute bei Seite legte, um sich auf den Ast empor zu ziehen, den sie gewöhnlich zum Ruhen nutzte, bot sich der Elfe ein unerwarteter Anblick:
Eine Samenkapsel lag, wie ein kostbares Geschenk, an der exakten Stelle, auf der sie sich sonst zur Nachtruhe zurück zog.
Als sie das kostbare Gut ehrfürchtig mit beiden Händen umschloss, konnte sie das vertraute Lied ihres Gefährten spüren. Langsam und ruhig, aber jeder Aspekt der Melodie deutlich und voller Leben. Die Kraft des Baumriesen in einer faustgroßen Kapsel. Irâ legte ihre Hand liebevoll auf den Ast auf dem sie saß. Sie würde die morgige Reise nicht alleine antreten.
