„Die Welt ist nicht stumm. Sie flüstert, singt und schreit – du musst nur zuhören.“
Wie hieß das alte Sprichwort, 'Torheit kommt vor dem Fall'? Nein, das fühlte sich nicht richtig an, auch wenn es Shae's Situation gerade bestens beschrieb. Das makellos aufragende, glänzende Gebäude der Akademie überragte alle anderen Gebäude in diesem geleckten, polierten, sauberen Ort, gleich einem Spottmal, das es darauf anlegte, sie wieder und wieder an den Jammer ihres Schicksals zu erinnern.
Tante Agnes hatte immer wieder gesagt, dass die Akademie ihr gestohlen bleiben könne, und dass sie sich eher tot mit einer Ratte im Ausschnitt finden lassen würde, als auch nur einen Fuß in dieses Loch voller, wie sie sagte, verkommener Schnösel setzte. Und auch wenn Shae niemals lautstark zugestimmt hatte, so waren sie sich doch wortlos überein gekommen, dass auch die Schülerin nie einen Fuß in jenen Ort setzen würde. Ha.
Tante Agnes würde sich nun im Grab umdrehen, hätte sie den Luxus eines Grabes erhalten. Nein, soweit Shae die Dinge deuten konnte, hatte der Tod Tante Agnes derart überrascht, dass sie noch nicht einmal ihre Kleidung fertig anziehen hatte können. Und woher Shae das wusste? Nun...
Sie sah nicht hinter sich sondern hielt die Augen tunlichst auf den schläfrigen Hauptplatz mit seinen hübschen Becken und Bäumen gerichtet. Hinter ihr befand sich nichts, was eine Schamanin in ihrem Leben brauchte. Um genau zu sein, befand sich hinter ihr etwas, das keinem anderen Schamanen passiert wäre: Tante Agnes, kaum mehr als ein Hauch von Nebel, trieb stumm, aber mit eifrigem Mienenspiel, durch die Luft. Wie ein zweiter Schatten hatte sich das, was Shae für einen Geist hielt, sich an ihr festgefressen und wollte sie nun seit Tagen nicht in Ruhe lassen. Zumindest konnte außer ihr keiner die schemenhafte Gestalt sehen, und sie zu erwähnen währe dumm und selbstzerstörerisch.
Schlimm genug dass Shae von Geistern verfolgt wurde, aber musste es ausgerechnet der Geist ihrer Lehrmeisterin sein, die sie explizit vor Kapriolen gewarnt hatte? Hatte Tante Agnes nicht sogar deutlich gemacht, dass genau so ein Spuk passieren würde, wenn Shae sich willkürlich an Zaubern versuchte, die sie noch nicht sicher erlernt hatte?
Ihr einziges Glück war der Fakt, dass Tante Agnes an einer so rudimentär ausgebildeten Schamanin nicht genug Fuß fassen konnte, um ihre Umwelt gänzlich wahrzunehmen oder ihre Meinung darüber mitzuteilen, dass Shae gerade der von ihr so verabscheuten Schnösel-Akademie beigetreten war. Was auch die Frage aufwarf, ob es wirklich vernünftig gewesen war, die Lehre des Schamanismus fortzusetzen, bevor sie Tante Agnes in den Limbo abgeschüttelt hatte.
So war es allerdings um sie bestellt: Um die Tante loszuwerden, musste sie mehr vom Schamanismus verstehen. Und sobald sie genug vom Schamanismus verstand, würde Tante Agnes ihre Sinne zurück erhalten und zum Poltergeist werden. Feuer, Traufe, und dergleichen.
Leise seufzend warf Shae nun doch einen Blick hinter sich, und ja, Agnes waberte weiterhin halb in der Luft, einige Schritte hinter ihr, und dankenswerter Weise weiterhin kaum mehr als ein Hauch eines Gespenstes. Einmal mehr verspürte Shae den Drang, die Tante zu fragen was genau passiert war. Das wäre allerdings verschwendete Liebesmüh gewesen, denn Agnes konnte nicht antworten. Und selbst wenn sie es konnte, hieß es nicht, dass sie sich an ihren Tod erinnerte, oder daran was dazu geführt hatte. Es ließ allerdings nichts Gutes für das Schicksal von Buccaneer's Den vermuten.
Die Trauer wallte für einen Moment auf, brannte sich durch ihre Rippen und verschwand wieder, tief in ihr Inneres wo sie solcherlei Schwächen gut wegsperren konnte.
Ihre gesamte Familie war vielleicht tot, aber daran konnte sie nichts ändern. Was sie tun konnte, war mächtiger zu werden und einen Weg zu finden, um Buccaneer's Den wieder zu erreichen. Und sich auf die grundlegendsten Dinge zu konzentrieren: Ausbildung, Unterkunft, Unterhalt. Zumindest den ersten Teil dieser Liste hatte sie erfolgreich begonnen. Ob die anderen zwei Dinge sich ebenso einfach erreichen ließen, nun, das stand in den Sternen.
Shae warf einen letzten Blick auf den Platz, dann rückte sie ihr Kopftuch zurecht und marschierte los. Es konnte ja wohl nicht so schwer sein, in dieser gottverlassenen Ecke des Reiches Arbeit zu finden!
Man musste nur hartnäckig genug danach suchen.