Alniira Vrammyr

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Alniira Vrammyr
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Alniira Vrammyr

Beitrag von Alniira Vrammyr »

Die Yathrin und der Fluch der Lüge

Man sagt, mein Lachen sei gemalt, meine Haltung eine scharfe List. Sie haben recht.
Die Wahrheit war schon immer tief hinter meinen Augen verborgen, selbst als ich noch nicht wusste, was Wahrheit überhaupt bedeutet.

Alles beginnt dort, wo du fällst. Und im Underdark fällst du unaufhörlich.

Meine erste Bühne war Arach-Tinilith, die Akademie der Priesterinnen. Ein Theater aus feuchtem Stein, wo Lügen wie Seide glänzen.
Man lehrte mich die Dogmen der Lloth. Die Spinnenkönigin verlangt keinen Glauben, sie verlangt Unterwerfung.
Sie liebt den Verrat, sie nährt sich von der Intrige. Das ist ihr "Spinnengift" – die süße Paranoia, dass jeder Dolch im Rücken ein Akt der Frömmigkeit ist.

Ich lernte, dass das Lächeln eine Waffe ist. Ich lernte, wie man Illusionen webt, wie man Vertrauen gegen Goldesketten tauscht.
Ich lernte, dass Stärke Verrat bedeutet.

Und ich war eine Musterschülerin. Das war meine erste, meine große Lüge.

Ich trug meine Maske mit einer Perfektion, die mich selbst erstickte. Eine Maske aus schwarz wie Onyx für den Gehorsam und Rubinrot für die Frömmigkeit, geschnitten für das Gesicht einer Priesterin, die ich nie sein wollte.
Während sie uns lehrten, das Spinnengift in die Herzen anderer zu träufeln, sammelte ich es in meinem eigenen.

Ich sah meine Schwestern fallen – für ein falsches Wort, einen Moment der Aufrichtigkeit.
Jede Lektion war ein Spiel, und die Spinne änderte die Regeln nach Belieben. Sie verwandelte die Königinnen von gestern in die Narren von heute.

Ich tanzte. Ich tanzte auf den Geheimnissen, die ich tief in mir verschloss. Mein größtes Geheimnis? Der Ekel.

Er wuchs in mir wie ein kaltes, kristallines Herz. Ich hasste ihre Doktrin. Ich verachtete die Forderung, die Schwachen zu zertreten.
In mir regte sich etwas, das im Underdark keinen Namen haben durfte – ein Funke, der Mitgefühl ähnelte.

Das ist der wahre Fluch der Lüge, den sie uns auferlegten: Nicht, dass wir andere täuschten. Sondern dass wir gezwungen wurden, unsere Maske so lange zu tragen, bis wir vergaßen, welches Gesicht darunter zu Staub zerfiel.

Und da erkannte ich es. Um Lloth zu entkommen, musste ich ihre beste Schülerin sein. Ich musste all das, was sie mich gelehrt hatte, gegen sie selbst anwenden.
Mein Verrat musste reiner sein als jeder andere.

Meine Intrige war meine Maske. Meine Lüge war, dass ich vorgab, eine ihrer treuesten Priesterinnen zu sein. Ich betete lauter, ich lächelte schärfer, ich plante meinen Abstieg von ihrem Altar mit der gleichen Hingabe, mit der andere den Aufstieg planten.

Ich beschloss, das Buch meines Lebens selbst umzuschreiben.

Meine Flucht war mein erstes, wahres Ritual. Kein lauter Akt der Rebellion.
Es war ein Meisterstück der Täuschung, ein leises Gleiten durch die Risse des Systems.
Ich nutzte die Illusionen, die kalte Magie und das Spinnengift der Intrige, das Arach-Tinilith mir eingeflößt hatte.

Ich verriet sie. Ich nutzte ihr eigenes Gift, um mich aus ihrem Netz zu schneiden.

Ich stieg auf. Durch eine Ewigkeit von erstickendem Fels, getrieben von einem Instinkt, den ich nicht verstand. Hinauf zu dem Ort, von dem die Priesterinnen nur mit Verachtung sprachen: die Oberwelt.

Das erste Licht war ein Schmerz. So rein, so weiß, dass es mich fast verbrannte.
Doch die Freiheit war nur eine weitere Illusion. Eine Drow, allein an der Oberfläche, ist Beute.

Ich brauchte eine neue Maske. Die alte, die der Priesterin, hatte ausgedient.

Gerüchte, aufgeschnappt in den Hallen von Arach-Tinilith, führten mich zu einem Haus, das versuchte, die alten, grausamen Regeln unter dieser Sonne zu spielen: Haus Ky'Alur.

Zerschlissen, aber ungebrochen trat ich vor ihre Tore. Ich nannte ihnen meinen neuen Namen, eine Erfindung aus Spott und Notwendigkeit: Vrammyr.

Ich bot ihnen meine Dienste an. Ich log. Ich sagte, ich sei eine Schmiedin, eine, die mit Metall und Feuer umgehen könne – eine Lüge, so weit von der kalten, göttlichen Magie einer Yathrin entfernt, wie es nur ging.
Ich tauschte meine Vergangenheit gegen eine neue Kette, in der Hoffnung, meine wahre Identität – meinen Ekel, meinen Verrat an Lloth – tief unter Ruß und Schweiß zu verbergen.

Ich nahm die Hand, die man mir reichte, wohl wissend, dass ich nur ein neues Spiel betrat. Die Karten waren neu gemischt, das Schicksal kollidierte.
Ich setzte die Maske der "Vrammyr" auf, und betete zu einer Göttin, die ich nicht kannte, dass ich nie vergessen würde, dass ich sie trug.
Alniira Vrammyr
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Die zweite Flucht

Beitrag von Alniira Vrammyr »

Die Maske der "Vrammyr" war anders. Sie war nicht aus kalter Göttlichkeit gewebt, sondern aus Ruß und Schweiß.
Ich hämmerte Metall in der Schmiede von Haus Ky'Alur, und der Lärm war ein Segen. Er übertönte das Echo der Gesänge aus Arach-Tinilith.

Ich dachte, ich hätte eine Zuflucht gefunden. Ich dachte, die Oberwelt wäre anders. Wie naiv ich war. Es war das gleiche Spiel, nur die Regeln waren neu.

Das Flüstern in den Hallen von Ky'Alur hatte dieselbe Melodie wie im Underdark:
Sie sprachen von Ehre, aber sie meinten Dominanz.
Sie sprachen von Stärke, aber sie meinten Grausamkeit.

Ihr Lachen war bemalt. Ihre Freundlichkeit war nur ein Dolch, der noch in der Scheide steckte.

Ich versuchte, mich zu integrieren. Ich spielte meine Rolle als Vrammyr, die Schmiedin.
Aber die ehemalige Yathrin in mir dürstete nach Wissen, nicht nach Stahl.
Ich suchte nach etwas, das das Spinnengift in meinen Adern verdünnen könnte. Ich suchte nach einer Wahrheit jenseits von Lloths Netz.

Also stahl ich. Ich stahl Bücher aus der Sorcere, dem Schatz der Ilharess Ky'Alur. Alte Folianten über die Oberfläche, über Götter, die nicht im Schatten lauerten.
Es war ein verzweifelter, stiller Verrat, geboren aus Notwendigkeit.

Man entdeckte mein Handeln.

Ihr Lächeln war eine scharf geschliffene Klinge, als sie mich mit den gestohlenen Schriften konfrontierte. Sie hatte keine Beweise für meine Vergangenheit als Yathrin gebraucht; dieser Diebstahl war Beweis genug für meine Natur.

"Eine Viper," zischte sie, ihre Augen kalt wie Obsidian. "Wir gaben dir Zuflucht, und du beißt die Hand, die dich füttert."

Dieser Moment war ein zerspringender Spiegel.

Die Ilharess hatte recht, aber sie verstand die Lüge nicht. Sie dachte, ich hätte für die Spinne gestohlen, um ihre Intrigen voranzutreiben. Sie sah nicht, dass ich gestohlen hatte, um der Spinne zu entkommen.

In ihren Augen war ich das Gift. Für mich war sie das Gefängnis.

Haus Ky'Alur feierte denselben Hass wie einst in der Arach-Tinilith, nur nannten sie ihn "Tradition".
Der Ekel, den ich im Namen Lloths gefühlt hatte, war zurück, brennend und klar.

Ich hatte nur die Kette gewechselt. Die Arach-Tinilith war ein Käfig aus göttlicher Paranoia gewesen; Ky'Alur war ein Käfig aus weltlichem Misstrauen. Beides waren Gefängnisse.

Die Maske begann zu bröckeln. Die Viper war entlarvt.

Die Karten waren wieder neu gemischt, das Schicksal kollidierte erneut. Ich wusste, ich hatte keine Zeit mehr. Ich würde nicht auf den langsamen, kalten Biss ihrer Gerechtigkeit warten.

Ich würde das Spiel nicht noch einmal spielen. Ich würde das Spielbrett verlassen.

Von meinem unerschütterlichen Widerwillen getrieben, traf ich die Entscheidung. Ich würde ein zweites Mal fliehen. Nicht in ein anderes Haus, nicht in eine andere Stadt. Sondern dorthin, wo es keine Häuser, keine Ilharess und keine Lügen mehr gab.

Ich würde meine Heimat – diese ganze vergiftete Zivilisation der Drow, ob oben oder unten – endgültig verlassen. Ich würde verschwinden. Und diesmal würde ich keine neue Maske aufsetzen. Ich würde mein wahres Gesicht finden, oder im Versuch sterben.
Alniira Vrammyr
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Re: Alniira Vrammyr

Beitrag von Alniira Vrammyr »

Ich webte Illusionen, Seid' und Flamm', Spielte nie zweimal dasselbe Spiel.

Meine zweite Flucht war mein Meisterstück der Täuschung, so dachte ich. Ich trat vor die Ilharess Ky'Alur, dieser Monster, dass sich von Hoffnung nährte in Seide, und senkte demütig mein Haupt. Ich bat nicht um Freiheit. Ich bat um einen Auftrag.

Ich log. Ich log mit der Kunstfertigkeit, welche die Arach-Tinilith mich gelehrt hatte.

Ich wusste, was sie begehrte: obskure Macht. Also erfand ich eine Geschichte. Ich sprach von Gerüchten über ein legendäres Gift, das nicht den Körper, sondern den Willen tötet. Ich sah die Gier in ihren Augen.

Jetzt war ich der Verrat.

Sie gaben mir Vorräte, ein Pferd und ihren Segen – eine kalte Hand auf meiner Schulter, die sich anfühlte wie die Berührung einer Spinne. Das alte Spiel, dachte ich, jetzt ändere ich die Regeln.


Ich ritt in den Yew Wald. Ich ritt meinem neuen Leben entgegen, erfüllt von der kalten Befriedigung, Lloths eigenes Gift – die Intrige – benutzt zu haben, um ihrem gesamten Volk zu entkommen. Ich war frei.

Ich hätte wissen müssen, dass die Spinne ihren Verrat niemals unbeantwortet lässt.

Der Yew Wald war nicht das Underdark. Im Underdark ist die Dunkelheit ehrlich; sie ist absolut, kalt und tödlich. Die Dunkelheit hier war anders. Sie war feucht, sie atmete, sie kroch. Sie war lebendig.

Das Flüstern kreiste, Schatten spannen sich. Zuerst war es nur ein Gefühl. Ein Kribbeln im Nacken. Der Blick eines Jägers.

Ich war eine Priesterin Lolths. Ich kenne die Stille, die einem Dolch vorausgeht. Ich dachte, es wären die Assassinen von Ky'Alur. Ich dachte, die Ilharess hätte meine Lüge durchschaut und ihre Hunde geschickt, um die "Viper" zu häuten.

Ich bereitete mich auf einen Kampf vor, den ich kannte. Klingen im Dunkeln. Das vertraute Spiel um Verrat und Tod.

Aber ich war nicht auf das Vorbereitet was dann kam…

Aus der Schwärze brach etwas, für das ich kein Wort hatte. Kein Attentäter. Keine Drow-Patrouille. Eine Lawine. Eine Lawine aus Fell und Zorn, ein Schatten, der größer war als ein Ochse, mit Augen, die das fahle Licht des Mondes fraßen.

Ein Wolf. Aber kein Wolf, den diese Welt je gesehen hatte. Er war ein Gott des Waldes, ein Avatar reiner, urtümlicher Wut.

Er traf mich mit der Wucht eines fallenden Berges. Meine Disziplin? Zerbarst. Meine Kontrolle? Eine Lüge. Meine jahrelange Ausbildung? Ein Witz.

Mein Dolch flog in die Nacht, verschlungen vom Laub. Ich wurde von den Füßen gerissen, mein Kopf schlug gegen eine Wurzel. Schmerz explodierte hinter meinen Augen. Ich war entwaffnet. Ich war nichts.

Und es tötete mich nicht. Das war die wahre Grausamkeit.

Es spielte mit mir.

Es stieß mich, warf meinen Körper durch das nasse Laub wie eine kaputte Puppe. Es raubte mir den Atem, ließ mich nach Luft schnappen, nur um mich wieder zu treffen, hart, in die Rippen, dass ich Blut schmeckte. Jede Faser meiner Drow-Erziehung schrie vor Scham.

Ich, Alniira. Eine ehemalige Priesterin der Arach-Tinilith, gehärtet in der Schmiede. Eine Überlebende von Ky'Alur. Reduziert auf Fleisch. Auf Beute. Ein Spielzeug für eine... Bestie. Die Ilharess hätte gelacht. Lloth lachte.

Ich lag im Dreck, unfähig mich zu rühren, jeder Muskel zerrissen, jeder Knochen ein Schmerzfeuer. Jede Geschichte trifft ihr End'. Das war meins. Gedemütigt. Besiegt. Ich schloss die Augen und wartete auf den Biss, der mein Leben beenden würde. Ich würde nicht schreien. Ich würde ihnen diesen Triumph nicht gönnen.

Doch der Tod kam nicht.

Ich spürte seinen Atem. Heiß und nach nassem Fell und rohem Blut riechend. Statt Reißzähnen spürte ich eine feuchte, warme Schnauze. Sie strich über meinen Hals, über meine Schulter, prüfend, intensiv. Es war keine Gier. Es war... fast wie eine... Inspektion.

Der gewaltige Kopf senkte sich, drückte seine Nase fest gegen meine Brust, direkt über mein Herz. Ich erstarrte, zu verängstigt, um zu atmen. Was war das? Es war kein Töten. Es war ein Suchen.

Ein Funken Hoffnung, so dumm und schwach. Es würde mich verschonen.

In dem Moment, als ich diese Schwäche zuließ, schlug es zu.

Nicht auf meinen Hals. Nicht, um zu töten. Es senkte seine Reißzähne tief in meine linke Schulter.

Ein Schmerz, so weiß, so absolut, dass er die Welt und alle Lügen von Lloth auslöschte. Ich fühlte, wie das Gewebe riss, wie die Zähne auf Knochen trafen. Es war kein Biss des Hungers. Es war eine Prägung. Ein Siegel aus Feuer und Instinkt, das in meine Seele gebrannt wurde. Es war eine Verletzung, die tiefer ging als Fleisch, tiefer als der Tod.

Mit einem Ruck warf es mich fort. Ich schlug gegen einen Baumstamm und landete im Morast.

Dann... Stille. So plötzlich, wie er gekommen war, war er verschwunden.

Ich lag allein in der Stille des Waldes, zitternd, gebrochen. Der Schmerz in meiner Schulter war nicht der Schmerz einer Wunde. Er brannte. Er kroch. Es war, als ob flüssiges Eis in meine Adern injiziert worden wäre, ein Gift, das ich nicht kannte.

Die Wunde heilte nicht. Sie schloss sich nicht. Sie begann, mich von innen heraus zu verändern.

Die Bestie hatte mich nicht getötet. Sie hatte mich nicht einmal beraubt. Sie hatte eine Saat in mir freigesetzt. Gegen meinen Willen. Der Verrat war vollkommen – nicht meiner an Lloth, sondern der meines eigenen Körpers an mir. Die Verwandlung hatte begonnen.
Alniira Vrammyr
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Kapitel 4: Das Licht des Mondes

Beitrag von Alniira Vrammyr »

Ich erzähle dir dies jetzt, viele Jahre später, und die Erinnerung ist immer noch wie ein Splitter aus Eis in meinem Geist. Aber damals... damals war es nur Feuer und Verwirrung.

Ich erwachte zu dem Geruch von Kiefernharz und Schafgarbe. Der Schmerz war ein dumpfes Pochen, ein fernes Echo.
Mein Körper war Blei, aber die brennende Vergiftung in meiner Schulter war einer kalten, tauben Schwere gewichen.

Und ich war nicht allein...

Der Spiegel brach, Reflexionen logen. Was du siehst, ist niemals echt.

Er kniete neben mir. Der Waldelf. Rianon.

Ausgerechnet er. Hätte ich damals gewusst, welchen Weg wir gemeinsam gehen würden, welchen Fluch wir teilen würden, wie sehr er mein Gefährte werden würde... ich hätte vielleicht anders reagiert.

Aber ich sah nicht den Elfen, den ich heute kenne. Ich sah einen darthiir. Einen Oberflächenbewohner.
Und sein Gesicht war nicht von Hass gezeichnet, sondern von... Sorge.
Wie dumm ich war. Wie tief das Gift von Lloth noch saß.

Er hatte mich gepflegt. Seine Hände hatten meine Wunden gereinigt. Sein Umhang lag über meinem geschundenen Körper. Diese Geste war keine Gnade für mich.
Sie war eine Demütigung. Ich war so in meinem Stolz gefangen, so panisch, dass ich seine Hilfe als Schwäche empfand.
Er bot mir Sanftheit, und ich sah nur eine Bedrohung.

„Was hast du mit mir gemacht?!“ Meine Stimme war ein Krächzen, ein tierisches Knurren, das ich selbst nicht wiedererkannte.
Ich glaube, ein Teil von mir hatte einfach nur Angst. Nicht vor ihm. Sondern vor der Verletzlichkeit, die er in mir sah.
Ich riss seinen Umhang von mir, als wäre er ein Netz. „Berühr mich nie wieder, jaluk!“ Ich stieß die Worte hervor, roh und voller Gift.
„Lies! Xal dos vel'uss nindel wun naut!“ Geh! Du wirst mich niemals wieder berühren!

Ich zwang mich auf die Beine. Meine Knie zitterten, aber mein Stolz – dieser letzte, zersplitterte Rest meiner Disziplin – trug mich.
Ich blickte nicht zurück. Ich stolperte, ich floh. Weg von ihm. Weg von dieser Sanftheit, die ich nicht ertragen konnte.

Ich rannte. Und während ich rannte, ergriff mich der Rausch.
Bis heute kann ich dir nicht sagen, was real war und was der Fiebertraum der Saat war. Ich erinnere mich an den Wald, der zu einem grünen und braunen Schleier verschwamm.
Ich erinnere mich an das Gefühl, dass meine Beine nicht mehr stolperten, sondern... flogen. Der Schmerz in meinen Rippen verschwand.
Habe ich wirklich den Wind durch Fell pfeifen hören? Habe ich wirklich die Erde unter Pfoten gespürt?
Oder war es nur ein Albtraum? Ein Echo des Wolfes, der mich gebissen hatte?
Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass mein Verstand, meine Kontrolle, mein ganzes Ich sich auflöste. Ich war keine Drow mehr. Ich war nur noch Instinkt. Nur noch Flucht. Nur noch... Panik.

Als der Rausch nachließ, brach ich auf einer kleinen Lichtung zusammen. Zitternd, verloren und völlig allein.
Der Schmerz war zurück, aber schlimmer war die Verwirrung. Was war ich? Ich war keine ehemalige Priesterin. Ich war keine Schmiedin.
Ich war nicht einmal mehr Alniira. Ich war ein... Ding. Ein Monster. Ein zerbrochenes Spielzeug.

Ich weinte. Nicht aus Trauer. Aus reiner, unverfälschter Verzweiflung. Ich war am tiefsten Punkt meines Lebens angekommen.
Und in dieser absoluten Stille blickte ich auf. Über mir, durch das Blätterdach, das wie ein zerrissenes Netz hing, sah ich es.
Den Mond.

Er war voll, ein perfekter, silberner Kreis. Ich kannte nur die Spinne, die fordert und bestraft. Ich erwartete, verurteilt zu werden.

Doch was ich spürte, war kein Urteil. Das Licht, das auf mich fiel, war... sanft. Es war nicht wie das kalte, prüfende Auge einer Göttin. Es fühlte sich an wie eine Hand.
Eine kühle Hand, die sich sanft auf meine fiebernde Stirn legte. Eine Präsenz, die sich neben mich ins feuchte Moos setzte. Sie sprach nicht. Sie forderte nichts. Sie strafte nicht.
Sie war einfach da. Sie war still. Sie war wohlwollend.

Es war, als würde eine ältere Schwester neben mir sitzen, die Hand auf meine Schulter legend – nicht auf die verwundete, sondern auf die gesunde –, während ich weinte. Sie wartete einfach, sie blieb bei mir.
Der Biss brannte noch immer, die Saat erwachte immer mehr in mir. Aber die Raserei, die Panik, die erstickende Einsamkeit – sie wichen zurück. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich keine Angst. Nur eine Stille. Eine Stille, die wie Balsam war.
Alniira Vrammyr
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Kapitel 5: Die Interpretation der Bestie

Beitrag von Alniira Vrammyr »

Heute weiß ich, dass der Wolf ein Teil von mir ist.
Aber damals, in den Wochen nach dem Biss, war er ein Eindringling. Ein Feind.
Und ich, als disziplinierte Drow, kannte nur eine Art, mit Feinden umzugehen: Man bricht sie.

Wie arrogant ich war.

Ich zog mich tief in den Yew-Wald zurück – weit weg von Rianon, weit weg von allem. Ich versuchte, den Wolf mit eisernem Willen zu unterwerfen.
Ich meditierte, bis meine Knie wund waren.
Ich fastete, bis mein Magen krampfte.
Ich behandelte meinen eigenen Körper wie einen Verräter, der bestraft werden musste.

Und der Wolf stahl mir alles. Je mehr ich ihn unterdrückte, desto lauter wurde sein Heulen in meinem Kopf.
Wenn ich die Augen schloss, sah ich nicht die Dunkelheit, sondern den Wald.
Ich roch nicht die feuchte Erde, sondern Blut. Ich spürte nicht meine Finger, sondern... Krallen.

Es war ein innerer Krieg. Ich hatte Angst, mich zu verlieren. Ich fürchtete, eines Nachts als „Alniira“ einzuschlafen und als „Es“ aufzuwachen. Dieser Kampf zerriss mich.

In meiner tiefsten Verzweiflung, als meine Disziplin am Ende war, suchte ich nicht mehr nach meiner alten Stärke. Ich suchte nach dem Mondlicht. Nach dieser stillen Präsenz, dieser „älteren Schwester“, die ich in der Nacht meiner Schande gespürt hatte.

Und sie antwortete...

Eilistraee kam nicht mit Befehlen. Sie zeigte mir, wie töricht mein Kampf war. Sie flüsterte mir nicht ins Ohr, sondern ins Herz:
Du kannst einen Sturm nicht brechen. Du kannst ihn nicht einsperren. Du kannst nur lernen, in seinem Auge zu stehen.

Sie zeigte mir, dass der Wolf kein Feind war, der unterdrückt werden musste, sondern ein Teil von mir, der geleitet werden wollte.

Wenn die Wut kochte, erinnerte mich ihre sanfte Präsenz an das ruhige Atmen.
Wenn die Panik kam, war ihre Stille ein Anker.
Sie zeigte mir, dass der Wolf auf mehr reagierte als nur auf Wut. Er reagierte auf den Mond. Und er reagierte auf mich.

Durch sie lernte ich, es anders zu versuchen. Ich konzentrierte mich – nicht, um den Wolf zu fesseln, sondern um ihn zu beruhigen.
Leise begann ich zu summen. Alte verbotene Drow-Melodien, die man in den Höhlen leise hörte, sie nahmen mir den Hass und füllten die Stille.
Ich begann, mich zu bewegen. Kein Kampftraining. Ein... Fließen zur Melodie.

Es war ein fragiler Waffenstillstand. Langsam legte sich der innere Sturm.
Und ich, in meiner unendlichen Dummheit, glaubte, ich hätte es verstanden.
Ich glaubte, ich hätte die Bestie bereits im Griff.

Dann kam der nächste Vollmond.

Das Silberlicht war keine sanfte Hand mehr – es war eine Flut, die mich verschlang.
Es war ein Schrei in meinem Blut, lauter als jede Vernunft. Meine Konzentration zerbarst wie Glas. Mein Summen wurde zu einem Knurren. Mein Fließen zu einem Krampf.

Der Schmerz war blendend. Das Geräusch meiner eigenen Knochen, die sich neu formten, war ein Schrei, den ich nie vergessen werde. Und dann... war Alniira weg.

Ich rannte. Ich rannte durch den Yew-Wald, aber diesmal war es kein Fiebertraum.
Ich war der Wolf. Ich spürte den Wind in meinem Fell, die Kraft in meinen Muskeln, die Erde unter meinen Pfoten.
Und es war... herrlich. Eine Ekstase der Macht, eine Freiheit, die jede Drow-Kontrolle wie ein enges Korsett erscheinen ließ.

Ich jagte. Ich roch die Angst eines Hirsches. Ich schmeckte sein Blut. Die Bestie in mir jubelte.
Und die Alniira in mir, das kleine, schreiende Etwas in den Tiefen dieses neuen Verstandes, ertrank.

Ich verlor mich. Ich verlor meine Existenz. Der Wolf wollte nicht teilen. Er wollte sein. Vollständig.
Der „Ich“-Gedanke verblasste, wurde zu einem Echo. Nur noch Instinkt. Nur noch Hunger. Nur noch der Mond.

Ich war an dem Punkt angelangt, an dem es keine Rückkehr mehr gab. Ich würde am Morgen nicht aufwachen. Nur die Bestie würde bleiben.

Genau in diesem Moment, als mein letzter Funke Vernunft zu verlöschen drohte, war sie da.
Nicht als sanfte Hand. Nicht als Stille.

Sie war ein Lied. Ein reines, silbernes Lied, das den Blutdurst durchschnitt. Es war lauter als das Heulen in meiner Kehle. Es hielt mich fest.

Eilistraee. Sie war nicht nur die sanfte Schwester.
In dieser Nacht war sie meine Mutter, die mich in ihren Armen festhielt, damit ich nicht in den Abgrund stürzte.
Sie war meine Freundin, die den Schmerz kannte und an meiner Seite stand. Sie war alles zugleich.

Sie bekämpfte den Wolf nicht. Sie erinnerte mich daran, wer ich war.
Sie gab mir den Anker, an dem sich mein ertrinkender Verstand festklammern konnte.

Als der Morgen graute, lag ich zitternd und nackt im Laub, bedeckt von Blut, das nicht mein eigenes war.
Ich hatte überlebt. Aber ich wusste nun: Dies war kein Fluch, den man brechen konnte. Es war ein Wesen, mit dem ich leben musste.
Das Verstehen hatte gerade erst begonnen.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag – im Laub, klebrig vom Blut. Vielleicht Stunden, vielleicht nur Minuten. Ich weiß nur, dass ich zitterte. Es war nicht die Kälte des Morgens. Es war der Ekel.

Ich kroch zum nächsten Bach, mein Körper ein einziger Schmerz. Ich schrubbte meine Haut, als könnte ich das Blut abwaschen.
Aber es war nicht das Blut des Hirsches, das ich abwaschen wollte. Es war die Erinnerung. Die Erinnerung an die Ekstase.

Wie konnte ich das genießen?
Ich, Alniira – mein Leben lang geformt von Disziplin und Kontrolle – hatte mich in einem Rausch aus Blut und Freiheit verloren.
Der Geschmack von heißem Blut... er war berauschend gewesen.

Das war die wahre Schande. Tiefer als jede Niederlage, tiefer als Rianons Mitleid.
Ich war dem Netz der Intrigen entkommen, nur um festzustellen, dass ein Monster in mir selbst lauerte.
War ich das? Diese Bestie, die Freude am Töten empfand?

Ich saß am Ufer, das kalte Wasser umspülte meine Knöchel, und starrte auf mein Spiegelbild. Ich sah die Drow, aber ich sah auch die Augen der Bestie, die knapp unter der Oberfläche lauerten.
Ich hatte alles verloren. Ich war nichts.

Und wieder war sie da. Kein Lied diesmal. Nur das sanfte Spiel des Mondlichts, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Es war fast Morgen, doch sie war noch da – eine letzte, silberne Berührung.

Ihre Präsenz war eine Frage. Keine Anklage. Nur eine stille, sanfte Frage:
Warum bekämpfst du, was du bist?

Ich hatte mein ganzes Leben gelernt, dass Kontrolle Stärke ist. Dass Instinkt eine Schwäche ist, die man ausmerzen muss. Mein ganzer Kampf gegen den Wolf basierte auf dieser alten Lehre.
Ich hatte versucht, den Wolf zu kontrollieren, ihn zu brechen, ihn zu unterwerfen.

Und ich war gescheitert.

Eilistraee hatte mich in dieser Nacht gerettet. Aber wie?
Sie hatte den Wolf nicht verbannt. Sie hatte ihn nicht mit göttlicher Macht niedergerungen.
Sie hatte mich gerufen. Sie hatte mich durch den Wolf hindurch erreicht.

Der Wolf war nicht mein Feind. Er war der Kanal.

Ich blickte auf meine Hände, dann auf den Mond.
Der Wolf ist ein Kind des Mondes. Und der Mond... war ihre Domäne.

In diesem Moment, zitternd vor Kälte und Ekel, begann ich, die Bestie neu zu interpretieren.
Das war kein Fluch. Wie konnte es auch? Es war roh, wahrhaftig und wild.

Was, wenn der Biss ein Zeichen war? Was, wenn Eilistraee mich nicht trotz des Wolfes gerettet hatte, sondern durch ihn?

Der Wolf war nicht meine Schande. Er war meine Wahrheit.

Er war all das, was ich immer unterdrücken musste: der Instinkt, die ungezähmte Freiheit, die schützende Wut.

Meine alte Disziplin hatte von mir verlangt, meine Seele zu verleugnen. Eilistraee, so schien es, verlangte von mir, sie endlich anzunehmen.

Der Wolf war kein Monster, das eingesperrt werden musste.
Er war ein Partner, der geführt werden wollte.

Ich schwor mir, als das erste Sonnenlicht den Mond verblassen ließ: Ich würde lernen, mit ihm zu tanzen.
Alniira Vrammyr
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Kapitel 6: Die Erfindung des Tanzes

Beitrag von Alniira Vrammyr »

Ich hatte mir am Ufer dieses Baches geschworen, ich würde lernen, mit dem Wolf zu *tanzen*.
Ein schönes, poetisches Wort. In Wahrheit hatte ich keine Ahnung, was das bedeutete.
Ich, eine Drow, kannte aus meiner Ausbildung nur zwei Arten von Bewegung: den präzisen, tödlichen Schlag einer Klinge und das starre, unterwürfige Ritual für Lloth.

Beides war nutzlos.

Meine ersten Versuche waren... pathetisch. Ich blicke heute zurück und muss fast über diese verbissene, kleine Kreatur lächeln, die ich damals war.

Ich stellte mich auf eine Lichtung, unter den Augen des Mondes, und versuchte, meine alten Priesterinnen-Bewegungen anzuwenden.
Präzise, eckig, jede Geste eine Demonstration eiserner Disziplin.
Ich versuchte, dem Wolf meinen Willen aufzuzwingen, ihn in eine Choreografie zu *zwingen*.

Es war ein Kampf. Sobald ich mich konzentrierte, spürte ich, wie die Bestie in mir sich sträubte. Sie wollte nicht kontrolliert werden. Sie wollte jagen.
Die Wut kochte sofort wieder hoch, die Krallen juckten. Es war derselbe Fehler, den ich schon zuvor gemacht hatte, nur mit anderen Mitteln.

Frustriert und kurz davor, erneut zu zerbrechen, sank ich auf die Knie. Ich war gescheitert. Wieder.

"Ich weiß nicht, wie!", schrie ich zur Stille empor. "Ich weiß nicht, was du von mir willst!"

Und sie kam.

Keine Stimme. Kein Donner.
Sondern ein Lied.

Ich weiß bis heute nicht, ob es real war oder nur in meinem Herzen spielte.
Eine leise, ferne Melodie, wie von einer Silberflöte gespielt. Sie war sanft, aber beharrlich. Und sie lud mich ein.

Die Lehren der Dunklen Jungfer, Eilistraees, sind nicht in Stein gemeißelt. Sie werden im Mondlicht gesungen und getanzt.
Sie war die "Große Schwester", die mir in meiner dunkelsten Stunde beigestanden hatte. Und jetzt... jetzt bat sie mich zum Tanz.

Ich stand langsam auf. Ich versuchte nicht mehr, meine alten Schritte anzuwenden. Ich versuchte nicht, den Wolf zu unterdrücken.
Ich schloss die Augen. Ich atmete. Und ich hörte hin.

Ich ließ die Musik meine Glieder bewegen. Zuerst zögerlich, dann fließender. Ich ließ die Kontrolle los.

Ich tanzte nicht mehr wie eine Priesterin. Ich tanzte wie... *ich*. Ich tanzte meine Angst heraus. Ich tanzte meine Wut heraus. Ich tanzte den Ekel meiner Vergangenheit und die Schande von Ky'Alur heraus. Ich tanzte die Verwirrung und den Schmerz des Bisses.

Und der Wolf?
Er heulte nicht mehr. Er sträubte sich nicht.

Er... tanzte mit.

Ich spürte, wie die wilde Energie in mir nicht mehr gegen mich kämpfte, sondern meinen Bewegungen folgte.
Die Wut war nicht länger Chaos; sie war der Rhythmus. Die Stärke war nicht länger Raserei; sie war Anmut.
Wenn ich meine Arme hob, war es nicht länger nur Alniira, die sich streckte, sondern auch der Wolf in mir, der den Mond anheulte – aber nicht mit einem Schrei, sondern mit einer Geste.

In diesem Tanz waren wir nicht Drow oder Bestie. Wir waren eins. Wir waren eine einzige Klinge im Mondlicht.

Als ich innehielt, keuchend, aber zum ersten Mal seit Wochen klar im Kopf, war der Wolf still. Er schlief nicht. Er ruhte. Er war im Einklang.

Und ich spürte sie. Eilistraee. Ihre Präsenz war so stark wie nie zuvor.
Es war eine Welle der Zuneigung, so rein und bedingungslos, dass es mir den Atem raubte. Sie war stolz.

In dieser Nacht fand ich meinen Glauben. Ich fand meine Göttin.

Aber sie war nicht meine Königin oder meine Herrin, wie Lloth es gewesen war.
Sie war meine Schwester. Meine große Schwester, die mich an der Hand genommen und mir gezeigt hatte, wie man sich im Mondlicht dreht, um nicht den Verstand zu verlieren.
Das war mein erstes Gebet. Und die Erfindung meines Tanzes.

Es ist seltsam, wenn ich heute daran zurückdenke. Ich hatte meinen ersten wahren Tanz beendet.
Ich hatte einen fragilen Frieden mit dem Wolf in mir geschlossen. Aber ich war damals noch so sehr die Überlebende.
Frieden ist ein Luxus, den man sich im Wald nicht lange leisten kann.

Ich war eine Drow ohne wahre Waffe.

In meinem früheren Leben, dem, das ich verbrannt und zurückgelassen hatte, waren meine Waffen Gift, Lügen und die kalte, göttliche Magie. Werkzeuge, um den Geist zu brechen, nicht den Körper. Ich war eine Intrigantin gewesen, keine Kriegerin.

Dann war ich "Alniira Vrammyr" gewesen, die Schmiedin. Ich hatte diese Maske so lange getragen, bis sie wahr geworden war. Meine Hände waren nicht mehr die einer Priesterin, die saubere Rituale vollzog. Sie waren schwielig vom Hammer, vernarbt vom Feuer. Sie wussten, wie man Stahl formt.

Ich erinnerte mich an meine Zeit bei Ky'Alur. Ich hatte Waffen geschmiedet. Ich hatte Tag und Nacht vor dem Amboss gestanden, hatte gelernt, wie man Adamant faltet, wie man eine Klinge ausbalanciert.
Ich verstand ihr Gewicht, ihr Herz, ihre Form. Ich hatte sie hergestellt, aber ich hatte sie nie geführt.

Eines dieser Schwerter hatte ich behalten. Eine einfache, saubere Klinge, die ich in meinen letzten Tagen dort fertiggestellt hatte. Sie war das einzige Stück Handwerk, das ich je geschaffen hatte, das nicht von Hass befleckt war.

Als ich es jetzt in die Hand nahm, fühlte es sich fremd an. Ein Werkzeug. Kalt, still und leblos. Der Wolf in mir knurrte.
Er verachtete es. Es war ihm zu langsam, zu künstlich. Er wollte die Hitze des Blutes spüren.

Ich stand wieder vor einer Wahl. Ich konnte die Klinge wegwerfen und ganz zur Bestie werden.
Oder ich konnte sie behalten und den Wolf in mir jedes Mal bekämpfen, wenn ich sie zog. Beides fühlte sich wie eine Niederlage an.

Ich erinnere mich an eine Nacht, der Mond war nur eine Sichel, ein silberner Haken am Himmel.
Ich hielt mein selbstgeschmiedetes Blackrock Schwert in der Hand. Es fühlte sich schwer an. Ein totes Gewicht.
Ich bat Eilistraee um einen Weg. Nicht um Macht. Um Klarheit.

"Große Schwester", flüsterte ich in die Stille. "Ich bin deine Tänzerin. Ich bin die Schmiedin, die dieses Ding gemacht hat.
Aber ich bin keine Kriegerin. Wie kann das alles wahr sein?"

Und wieder war es das Lied. Aber diesmal war der Rhythmus schneller. Fordernder.
Es war kein sanftes Wiegenlied mehr. Es war ein Herzschlag. Ein Trommeln.

Ich begann den Tanz, den ich gelernt hatte, den Tanz meines Gebets. Aber diesmal ließ ich die Klinge teilhaben.

Zuerst war es ein Desaster. Ich war ungelenk. Ich hatte keine Ausbildung im Schwertkampf. Meine alte Ausbildung lehrte mich, wie man bittet und intrigiert, nicht wie man physisch kämpft.
Meine Bewegungen waren die einer Schmiedin, die das Gewicht einer Waffe kannte, nicht die einer Kriegerin, die ihre Flugbahn lenkte.

Der Wolf in mir knurrte, er wollte die Klinge wegwerfen und seine Klauen benutzen.
Mein Körper war ein Schlachtfeld zwischen der kalten Logik der Schmiedin und der heißen Wut der Bestie.

Ich verlor das Gleichgewicht, stolperte fast. Die Klinge fühlte sich an wie ein Anker, der mich zurückhielt.

Doch ich ließ nicht locker. Ich hörte auf Eilistraees Lied. Ich ließ den Rhythmus meinen Körper übernehmen.

Und dann... fand es zusammen. Ich hörte auf, in "Schmiedin" und "Wolf" zu denken.

Meine Füße folgten dem wilden Instinkt des Wolfes. Sie tanzten nicht mehr über das Moos, sie griffen es.
Sie ließen mich springen und ausweichen, mit einer animalischen Anmut, die ich nie für möglich gehalten hätte.
Aber meine Hand, mein Arm... sie wussten, wie die Klinge ausbalanciert war. Ich hatte sie erschaffen. Ich kannte ihren Schwerpunkt.

Ich ließ die Klinge tanzen. Sie war kein Werkzeug mehr, das man stieß oder hieb. Sie war ein Partner.

Es war kein Kampfstil, den ich da erfand. Es war ein Schwerttanz.

Die Klinge schnitt durch die Nachtluft, nicht mehr mit kalter Logik, sondern mit der fließenden Kraft eines Flusses.
Die Wut des Wolfes war nicht mehr blinde Raserei; sie war die Energie hinter dem Schwung. Meine Kenntnis des Stahls war nicht mehr kalt; sie war fokussiert.

Ich wirbelte über die Lichtung. Ich war Alniira, die Schmiedin, die die Seele der Klinge kannte. Ich war der Wolf, mit der unbändigen Kraft der Wildnis. Und ich war die Tänzerin, im Licht meiner Göttin.

Ich verwandelte mich nicht. Ich verlor mich nicht. Ich... erweiterte mich.

Als ich schließlich anhielt, die Klinge vor mir im Boden versenkt, zitterte ich nicht. Ich dampfte im kühlen Nachtwind.

Der Wolf in mir heulte nicht. Er sang.

Ich war damals gefährlicher als je zuvor. Nicht, weil ich gelernt hatte, zu töten. Sondern weil ich zum ersten Mal in meinem Leben wusste, was ich schützte. Und ich hatte endlich eine Waffe, die meiner neuen Seele würdig war.
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