Es war ein später Nachmittag, wie es viele gab in jener Übergangszeit, wenn der Tag noch hell war, doch die Schatten schon länger wurden. Die Taverne war fast leer – nur leise knarzte das Holz, wenn ein Windstoß durch die undichten Stellen im Gebälk fuhr. Ich war gerade dabei, Gläser zu trocknen und den Tresen zu wischen, als ein rhythmisches Pochen an der Tür erklang. Nicht grob, nicht zaghaft – eher wie ein Klopfen mit Absicht. Ich rief ohne aufzublicken:
„Es ist immer offen!“
Doch wer immer dort draußen stand, nutzte den Moment, um noch einmal – beinahe spielerisch – mit den Knöcheln eine kleine Melodie auf das Türholz zu klopfen. Ich richtete mich auf, die Schürze glatt streichend, und wandte mich zur Tür, als sie sich öffnete.
Ein junger Mann trat ein, staubig von der Straße, mit ledernen Taschen und einem beschnitzten Stab. Die Art, wie er sich bewegte, ließ vermuten, dass ihm das Gehen wie ein Tanz war – leichtfüßig, suchend, zugleich von einer gewissen Theatralik durchzogen.
„Salve, guter Mann – willkommen in der Taverne!“, sprach ich ihn an.
„Geschichten und Melodey mit euch“, erwiderte er, wenngleich er sich räuspern musste. Der Staub seiner Reise schien nicht nur an der Kleidung zu haften.
Ich schenkte ihm wortlos frisches Quellwasser ein und reichte das Glas über den Tresen. Der Fremde – die grünen Augen kurz enttäuscht, dann schalkhaft blitzend – griff danach, hielt jedoch inne.
„Ich… vermag gerade nicht dafür zu zahlen“, murmelte er.
Ich lachte, ehrlich und unbesorgt. „Macht euch hier keine Sorgen über offene Rechnungen. Setzt euch! Trinkt!“
Er tat, wie geheißen, ließ sein Gepäck und den Stab sorgfältig nieder, nahm das Glas und leerte es mit wenigen Zügen. Als ich ihm erneut einschenkte, stellte er sich schließlich vor: „Man ruft mich Melion… und ich rieche sonst auch deutlich besser.“
Was folgte, war ein Schlagabtausch aus Worten, wie ich ihn liebe: leicht, schalkhaft, aber nicht ohne Tiefgang. Wir sprachen über Nachbarn, verlorene Geldkatzen, über das Wesen der Gäste und das Gewicht von Namen. Ich nannte ihn bald „Geschichtenweber“ – ein Titel, den er mit einem schelmischen Lächeln annahm.
„So wie ihr euren Stenz samt Packen zur Ruhe gelegt habt, dürft auch ihr euch erst einmal ausruhen“, sagte ich ihm schließlich.
Melion fragte, ob Gäste zu erwarten seien. Ich antwortete wahrheitsgemäß – dass die Taverne zwar offen, aber oft leer war. Dass bald ein Fest geplant sei, doch oft nur ein Fischer oder eine einsame Seele den Weg fände. Er schien weder enttäuscht noch überrascht. Vielmehr schien ihm die Einsamkeit fast willkommen.
Als ich ihm eine Mahlzeit anbot, rang ich ihm ein weiteres Lächeln ab. Er bestand auf Genügsamkeit, doch ich winkte nur ab.
„Genügsamkeit gibt es zur Genüge… wonach sehnt sich euer Gaumen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Da braucht es kein fürstliches Mahl.“
Ich bereitete dennoch eines – während er in der leeren Stube eine leise Melodie summte, erst pfeifend, dann trommelnd mit den Fingern auf der Theke. Als ich ihm das große Brett mit Früchten, Käse, Brot und Fleisch reichte, riss er die Augen auf.
„Ich erwähnte, dass ich kein Herr bin?!“
„Ein einfaches Mahl für einen willkommenen Geschichtenweber“, erwiderte ich. Und als er dann aß – hungrig, als sei es Tage her – goss ich süßen Most mit Lavendelduft in zwei Gläser.
Wir stießen an. Auf neue Bekanntschaften, auf unerwarteten Besuch. Er lächelte. Ich beobachtete.
Dann, nach dem Mahl, als er sich den Mund wischte und beiläufig in seinem Ranzen kramte, blitzte etwas aus Holz und Leder hervor. Röhren, Zapfen, ein seltsames Konstrukt. Ich fragte.
Er grinste, baute es zusammen. Ein Instrument, laut und brummend – eine Art Dudelsack. Und dann begann Melion zu spielen.
Die Melodie erfüllte den Raum, wuchs an, trug sich selbst wie der Wind, der durch offene Türen weht. Ich lauschte – und wippte mit.
Und vielleicht, ganz vielleicht, war es in diesem Moment nicht wichtig, wie viele Gäste draußen blieben.
Denn hier, in der fast leeren Taverne, spielte einer den Ton.
Und ich hörte zu.
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Melion spielte lange. Erst für sich. Dann für mich. Und irgendwann – ich bemerkte es kaum – war die Taverne nicht mehr leer.
Der alter Fischer trat ein, dann ein Kräuterweib mit Korb, später ein junger Bursche, der mehr humpelte als lief. Einer nach dem anderen blieb stehen, lauschte, lächelte – und setzte sich. Manche nickten im Takt, andere schlossen die Augen. Es war, als hätte die Musik einen unsichtbaren Faden ausgespannt, an dem all diese Seelen wie von selbst hereingezogen wurden.
Ein Pärchen auf der Durchreise nahm Platz, rutschte näher zusammen, ein müder Händler lehnte sich an die Wand, und sogar Nicoletta kam aus der Küche, wischte sich die Hände an der Schürze ab und blieb stehen. Ein Moment der Gemeinsamkeit entstand, ohne dass jemand ihn heraufbeschworen hätte.
Es war, als hätte die Musik die Schwelle geöffnet, nicht nur die Tür – und all die Geschichten, Sorgen und Träume, die draußen gewartet hatten, fanden nun Platz im Klang.
Als Melion schließlich, fast eine Stunde später, mit einem tiefen, langen Ton sein Spiel beendete, lag für einen Moment Stille in der Luft. Eine jener stillen Sekunden, in denen alle noch festhielten an dem, was gewesen war – ehe es verfliegt.
Dann kam der Applaus. Zögerlich zuerst, ein einzelnes Klatschen hier, ein weiteres dort – dann fester, einmütiger, aufrichtiger. Ein Klatschen, das ehrlicher nicht hätte sein können. Keine Bühne, kein Gold. Nur Beifall. Und Blicke, die ihm mehr sagten als Worte es vermocht hätten.
Ich trat an den Tresen heran, ließ meine Finger über das Holz gleiten, sah ihn an – ein wenig verschwitzter nun, aber nicht weniger lebendig – und sagte mit leiser, aber fester Stimme:
„Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr mir helfen könntet, ein paar der größeren Probleme dieser Taverne zu lösen.“
Er hob eine Braue. Es war kein misstrauischer Blick – eher einer voller stiller Neugier. Dann lächelte er.
Und ich wusste, das war nicht das letzte Lied gewesen. Nicht von ihm. Und nicht an diesem Ort.