Die Suche nach einem geeigneten Ort, um ungest?rt die Sterne zu betrachten, hatte sich im Osten des Kontinents bisher als fruchtlos erwiesen. Das Land war flach, D?sterhafen war ? nun ? ein Hafen, keine Gebirgsfeste. Der Versuch, an der K?ste die Himmel zu erforschen, war ebenso wenig befriedigend wie der Ausblick von einem hohen Baum. Ersteres bescherte nur einen Ausschnitt des Horizontes. Letzteres war auf andere Art unerfreulich. Wer h?tte gedacht, das Eichh?rnchen und Sperber ihre Kobel und Nester derart vehement gegen einen n?chtlichen Besucher verteidigen w?rden? Die Kratzer und Bisse waren l?ngst verheilt, aber die untote Magierin strich sich immer wieder durch das Haar, um tote Zweige und verdorrte Bl?tter zu entfernen. Und es gab ohnehin zu viele hohe, dichte B?ume, als dass sich diese Exkursion gelohnt h?tte.
Also weiter. Bar ihrer tiefsitzenden Unruhe w?ren es wundervolle Spazierg?nge geworden. Es waren laue, sternenklare N?chte. Friedliche Waldlaute und brillante Schatten woben ein romantisches Gem?lde. Ancanagar hatte sich jahrelang kaum aus ihrer Turmruine am Fu?e der zerrissenen Berge gewagt, ihr unabl?ssiges Vermengen von Einsamkeit, tr?ben Gedanken und wehm?tigen Erinnerungen hatte sie komplett im Bann gehalten. Dass sie jetzt wieder unter den brillanten Sternen wandelte, war einem Zufall zu verdanken, allerdings keinem sonderlich wohlschmeckenden. Einer der seltenen Ausfl?ge in die Stadt hatte sie mit Bekannten aus vergangenen Tagen zusammengef?hrt. Nett, im Gro?en und Ganzen, allerdings hatte sie das Ger?cht vom Verglimmen der Sterne zutiefst ersch?ttert. Sie konnte nicht einmal sagen, weshalb - doch in den letzten Tagen war dieses Wissen zu einem geifernden Wahn gewachsen, der sie immer wieder auf die Suche nach dem Anblick verlorener Sterne trieb. Nat?rlich hatte sie nichts gefunden. Der Hunger, der sie seit jener denkw?rdigen Geburtstagsfeier vor einer Woche begleitete, machte es zudem schwer, sich auf ihre alles beherrschende Suche zu konzentrieren. Als w?ren die fernen Lichter der kalten Nacht ein tats?chlicher Teil von ihr - sie f?hlte sich pers?nlich bedroht, beleidigt sogar.
Also weiter. D?sterhafen selbst war eine h?bsche Stadt am Meer. Lange Br?cken, die kleine Inseln miteinander verbanden, winkelige H?user, der Geruch von Salz, stetes Rollen von Wellen. Doch seltsam leer, selbst in Anbetracht der sp?ten Stunde. Selten, dass sie eine Stimme h?rte. Seltener noch andere Schritte, die dann verklangen, ohne einen Herzschlag preiszugeben. Sie wusste dunkel um die angespannte Diplomatie zwischen Britain und diesem Reich, aber wirkliche Gr?nde kannte sie nicht. Vielleicht Neid? Der Sichelmond tropfte unstetes Silber in die tr?ben Wasser der Kan?le, und mehr als einmal hatte sie der Anblick verzaubert stehen bleiben lassen. Aber deswegen war sie nicht hierher gekommen.
Also weiter. ?ber die letzte Br?cke, hinaus aufs Festland, in die tiefen Wege und dunklen W?lder. Vielleicht w?rde sich doch noch ein kahler H?gel f?r ihre einsame Suche finden. Die wenigen Lichter der Hafenstadt wurden still. Eine gr??ere Anlage dunkler Mauern sch?lte sich aus der schwarzen Nacht. Oh. Ein in die Himmel greifender Turm baute sich vor ihr auf. Sein Schatten hatte sich in den letzten N?chten immer wieder ?ber ihre Gestalt gelegt. Eigenartig, dass sie ihn bisher nicht als Aussichtsort in Betracht gezogen hatte. Sie trat n?her, aus den sch?tzenden Baumschatten heraus. W?rden die Bewohner, wenn es denn welche g?be, etwas dagegen haben, einen unangemeldeten Gast die hohen Zinnen erklimmen zu sehen? Ein Wall umgab das Gel?nde, alte Steine, nicht un?hnlich derer, die ihren eigene Turmruine errichteten. Etwas Verwunschenes klammerte sich an die Mauern, wie Efeu aus angedeutetem Unheil. Als w?rde die Finsternis hinter den hohen Fenstern blinde Augen verbergen, die auf einen Ungl?cklichen lauerten, der diese Treppe in die Himmel versuchte. Doch sicherlich war sie als entseelte und bluthungrige Magierin der Natur des Ortes nah genug, dass ein kurzer Ausflug in die H?he gestattet w?rde.
Also weiter. Ein Blick in die Zinnen, vor ihrem Angriff auf die Mauern. Es w?rde ein l?ngerer Aufstieg werden, aber nichts, was ihre vom Tod gest?rkten Finger und ihr Leichtgewicht nicht vollbringen k?nnten. Noch einmal klettern, diesmal in den Fugen behauener Steine, keiner moosbewachsener Rinde. Flammenschein in der H?he. Kein Eichhorn, aber vielleicht ein wei?haariger Sperber, der da herabblickte? Ertappt. Blicke trafen sich in der Nacht. Sie, ?berrascht und ohne Erkl?rung am Fu?e des gewaltigen Turmes - Er, im Licht astralen Feuers gebadet, eine t?dliche Inquisition in grausamer H?he. Sie war verloren. Der Flammenball fiel wie ein Schwert, unmissverst?ndlich.
Die Vampirin wusste nicht, ob sie getroffen worden w?re - mit einem atemlosen Zischen sprang sie hilflos zur?ck. Vor ihr gl?hten Grashalme in strahlendem Wei? auf, bevor sie zu Asche vergingen. Die Flammen griffen rasend um sich, gierten nach Nahrung, nach Leben, nach der Untoten. Im Licht der Sterne f?gte sie dem astralen Chor ihre kleine Stimme bei, zwang kalte Nachtluft aus dem dunklen Wald heran, lies den Wind ?ber sich hinweg rollen und wies die Flammen eilig von sich. Funken und brennendes Gras stoben auf, s?ten neue Lodernester, und eine Welle aus hellem Schein brandete gegen die alte Mauer. Was f?r eine Begr??ung! Ein Blick nach oben offenbarte zwei weitere brennende Punkte, wieder Feuerrot und ein stilles, fahl-blaues Licht, durch und durch Fremdartig. Letzteres senkte sich bereits in die Abgr?nde der Nacht herab. Eigenartig, wie der wei?haarige Beschw?rer auf dem Turm so gelassen erschien, konzentrierteste Arroganz und Selbstsicherheit in jeder Regung, in jedem Schlag seines fernen Herzens.
Die fallende Sph?re kam rasch n?her, und diesmal wollte sie eine Antwort geben k?nnen. Vor langer Zeit war sie einmal einem namenlosen Schrecken gegen?bergestanden, und in ihrer eigenen ?berzeugung war es ihre Magie gewesen, was sie zum ersten Ziel des Monsters gemacht hatte. Sie war regelrecht zerbrochen worden, und ihren Freunden im Hause Jerean erging es ?hnlich. Doch sie hatte die gr??te Bedrohung dargestellt. Ein eigenartiger Stolz.
Doch nun ein Wispern unter dem Firmament. Der Ruf ins Herz der K?lte schmerzte. Das Leder ihrer Handschuhe knisterte, brach. Fahle, unstete Lichtreflexe versteckten sich drohend zwischen den erfrierenden Fingern. Der fallenden Kugel entgegen, gleich war der richtige Moment, der haltlose Fluss aus arkanem Stillstand kreischte hinter ihrer Hand, befahl seine Freiheit, befahl, sich endlich selbst zu sch?tzen, befahl, den Schmerz aus ihrem schreienden Arm zu entlassen. Und doch hielt sie stand. Das fremde, fahle Glimmen hatte nicht sie ber?hrt. Stattdessen zerfloss die Sp?hre in weichen Nebel, der lautlos das hungrige Feuer verschlang. Dunkelheit flutete die kleine Insel aus Licht.
Ancanagar entlie? die K?lte zur?ck in ihre Verbannung. Das letzte Glimmen von Magie war gestorben. Hoch oben, der stille Blick des fremden Magiers. Ein Nicken? Dann verging auch der verbleibende Feuerball im Himmel, und die Vampirin konnte dessen Abgang in die Dunkelheit erahnen. Keinerlei Eile. Perfekte Selbstsicherheit. Hatte sie das Nicken erwidert? Wurde das ?berhaupt gesehen?
Der Wunsch, die Spitze des Turmes zu erklimmen, war vergessen. Sie hatte es nicht einmal bemerkt, aber sie hatte sich wieder in den Schatten der B?ume zur?ckgezogen. Die Zinnen und Erker standen wieder in ihrer geheimnisvollen W?rde. Behutsam wanderten die Schatten der Sterne ?ber Fugen und Flechten, und die Stille war tief.
Welch ein Kontrast zu ihrem Dasein! Welch direkte Kraft, ungehindert durch Maskeraden und Schicklichkeit! Wann hatte sie sich das letzte Mal derart ausgeliefert gef?hlt? Wann hatte sie derart ehrlich sprechen k?nnen? Tr?be Erinnerungen an eine schreckliche Dunkelelfe, an die tiefen Wunden, die sie der Vampirin schlug, an ihr loderndes Blut, dass sie nach langem Ringen endlich kosten durfte, und an ihre wunderbare, einzigartige Seele, die ihr am Ende verwehrt blieb. Wie selten solche Momente doch sind, gerade in der Ewigkeit. W?rde ihr Herz noch schlagen, es w?rde jetzt toben.