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Re: Die Rückkehr der Klingentänzer

Verfasst: 28 Jul 2025, 16:55
von Lirael Vanya'thiel
Auf samtigen Pfoten
Nach der Erfahrung in Yew, nach jener stillen, lichtdurchfluteten Versenkung unter den alten Bäumen, in der das Flüstern der Wurzeln zum Sprechen wurde und das Atmen der Erde wie ein fernes Lied in ihr erklang, hatte Lirael den Glauben an die Kraft von La wiedergefunden. Nicht wie ein plötzlicher Ruf oder eine lodernde Offenbarung, sondern vielmehr wie das leise, stetige Erwachen eines Samens im Verborgenen, dessen Keim in ihr bereits lange geruht hatte – wartend, schlafend, verletzt vielleicht, aber nicht tot.
In ihren Armen trug sie nun ein neues, altes Leben: den Setzling des Yew-Baums, der einst über ihre Familie gewacht hatte, dessen Zweige ihren Ahnen Schutz gespendet hatten, und dessen Wurzeln – so glaubte sie – nicht nur tief in der Erde, sondern auch im Gewebe der Erinnerung selbst verankert waren. Der junge Trieb war unscheinbar in seiner Gestalt, doch schwer an Bedeutung, und mit jedem Schritt durch das dämmernde Grün der Wälder wuchs in ihr die Gewissheit, dass er nicht beliebig gepflanzt werden durfte.
Sie musste einen Ort finden. Nicht irgendeinen, sondern jenen einen Platz, an dem La selbst ihn empfangen würde.

Gleichzeitig wusste sie – oder vielmehr: fühlte sie mit jener zarten Gewissheit, die keinem Beweis bedurfte – dass schwere und unsichere Zeiten bevorstanden.
Der Himmel mochte noch klar erscheinen, die Bäche murmeln wie eh und je, doch hinter all dem lag etwas Verschobenes, eine Ahnung von Knacken im Gefüge der Welt. Die Gespräche mit Bareti hatten es berührt, wenn auch unausgesprochen; der Sternenfall hatte es sichtbar gemacht, ein Riss aus Licht in einer Welt, die lange blind gewesen war. Und das, was in Yew geschehen war – die Stimmen der Wurzeln, die Ruhe, die nicht nur heilte, sondern forderte – all das hatte sich tief in ihr festgesetzt.

Sie dachte zurück an die alten Geschichten, die sie einst in kindlicher Neugier belauscht hatte, an jene flüsternden Stimmen, die von den Klingentänzern sprachen – den Val’La, die gekommen waren, wenn das Gleichgewicht bedroht war, wenn Worte nicht mehr genügten und der Tanz mit der Klinge zum Gebet wurde. Sie begann in Erwägung zu ziehen, dass es sie nicht nur einst gegeben hatte, sondern dass es sie wieder brauchen würde.

Die Val’La – als Antwort auf das, was sich näherte.
Nicht als Helden, nicht als Krieger um des Ruhmes willen, sondern als Ausdruck einer Notwendigkeit. Als Instrument des Waldes selbst.
Diese Vorstellung trug sie mit sich, still und unausgesprochen, wie eine Frage, die noch zu früh war für eine Antwort.

Was sie jedoch mit Gewissheit wusste: Sie musste zurück nach Yew.

Musste dort weiter meditieren, tiefer still werden, sich dem Flüstern hingeben, das durch die Wurzeln sprach. La schien sich zu regen – wie ein uralter Atem, der nach langen Jahrhunderten wieder Tiefe gewann – und sie wollte helfen, wollte das Gleichgewicht stärken, wollte zu einer Stütze werden inmitten dessen, was kommen mochte.
Sie würde Rianon fragen, ob er sie begleiten wollte. Nicht nur, weil ihr Herz sich mit dem seinen verbunden fühlte – auch wenn das stimmte, tiefer als sie es sich je hätte träumen lassen –, sondern weil sein Schweigen oft mehr bedeutete als Worte, und weil er selbst wie ein Teil jenes Waldes geworden war, mit allem, was in ihm schmerzte, lebte und heilte.

Der Weg führte sie durch einen Abschnitt des Waldes, der älter wirkte als andere – feuchter, dichter, beinahe träumend. Und als sie zwischen Farnen und Brombeerbüschen anhielt, nur für einen Moment, weil der Wind seltsam stand, spürte sie es.
Etwas war da.
Nicht nah – aber auch nicht fern.
Und als sie aufsah, entdeckte sie ihn.
Auf einem Hügelkamm, von dichten Zweigen halb verdeckt, stand ein Luchs - Zeija.
Sein Fell wirkte beinahe silbrig im Gegenlicht, seine Ohren waren aufgerichtet, sein Blick still. Er machte keine Anstalten, sich zu nähern, aber auch keine, zu fliehen.

Er sah sie.
Nicht wie ein Tier, das neugierig ist – sondern wie etwas, das wartet.
Und dann verschwand er im Dickicht, als wäre er nie da gewesen.
Lirael blieb lange stehen. Das Moos unter ihren Stiefeln nahm ihren Atem auf, das Tuch mit dem Setzling schien schwerer zu werden. Etwas in ihr hatte den Blick des Luchses nicht vergessen.

Als die Nacht fiel, kletterte sie in die Astgabel einer alten Eiche, deren knorrige Zweige ihr Schutz boten. Der Wind trug den Geruch nach Laub, nach Wasser und dunkler Erde, und sie wickelte sich eng in ihren Umhang, den Setzling nahe bei sich.
Sie konnte nicht schlafen.

Zu viel war in ihr, zu viele Gedanken, Erinnerungen, Gesichter.
Sie dachte an Rianon. An die Wärme seiner Nähe, an die leise Kraft, mit der er sie ansah, wenn er glaubte, dass sie es nicht bemerkte. Sie dachte an ihre Eltern – oder vielmehr an das, was von ihnen geblieben war. Und wieder war da das Bild des Luchses.

Und als sie schliesslich in den Schlag driftet war er in ihren Träumen zurück.
Er stand zwischen den Stämmen, klarer nun, größer, näher – doch immer noch unerreichbar. Sie versuchte, ihm zu folgen, ihre Schritte waren leicht, schnell, doch der Wald schien sich zu verändern.
Jede Bewegung ließ die Bäume enger rücken, den Nebel dichter werden, den Boden weich. Ihre Stimme blieb stumm, als wolle der Traum ihr nicht erlauben zu rufen. Der Luchs bewegte sich nicht. Er wartete. Oder prüfte. Und doch konnte sie ihn nicht erreichen.

Als sie erwachte, war der Morgen grau und still, die Blätter über ihr bewegten sich kaum, als hielten sie den Atem an.
Der Traum blieb. Klar. Unverwischt.
Nicht als Trugbild, sondern als Zeichen – von was, das wusste sie noch nicht.

Und als sie sich wieder auf den Weg machte, spürte sie es mit jeder Faser: Etwas war bei ihr.
Nicht sichtbar, nicht greifbar – aber da.

Wie ein Blick im Rücken, wie das kaum hörbare Geräusch von Fell auf feuchtem Laub.
Etwas folgte ihr. Auf samtigen Pfoten.
Nicht drohend. Aber auch nicht vertraut.
Ein Schatten im Rand ihres Bewusstseins.

Und sie wusste, ohne den Grund zu kennen: Es würde wiederkommen.