Das Nackte Jetzt [Verschollen]

[Heidi von Wolfenreich]

Schnee bedeckte die Wildnis. Große, schwere Flocken sanken immer wieder tanzend vom Himmel. Heidi hatte ihre ausgediente, löchrige Kleidung längst abgestreift. Für eine Zeit lang trug sie nichts am Leib, bis es kälter wurde.

Ein Symbol für das, was sie losgelassen hatte? Nichts stand mehr zwischen ihr und der Wildnis. Das wütende Geschick und die kaltblütigen Nichtigkeiten des Hofes. Vielleicht ihre Wut und Erwartungen. Von Wolfenreich. Adel. All diese Rollen und Symbole des Status hatte sie abgestreift.

Manchmal schien es Heidi, als folgte ihr jemand. Jedoch vernahm sie bisher keine Gefahr einer lauernden Präsenz.

Einen Bärenpelz trug sie nun. Der Winter war hereingebrochen. Wölfe gesellten sich gelegentlich zu ihr, jagten mit ihr gemeinsam. Es schien Heidi, als wäre in ihrem Blut eine Urgewalt verankert, die mit ihr Grenzen überschritt.

Es war hier in der Stille der Wildnis, wo Heidi letztlich zur Ruhe fand. Es gab Tage, da erinnerte sie sich nicht einmal an ihren Namen.

Auch der rote Schleier, der sich so gern über Heidis Augen und ihren Geist gelegt hatte, verpuffte innerhalb weniger Wimpernschläge, so er denn gelegentlich kam.

Und sie begriff, ihr Denken war zu nur zwei Dingen in der Lage: Sorgen über die Zukunft, oder Wiederkäuen der Vergangenheit.

So war es die gedankenlose Stille, die sie am meisten lehrte. Wenn sie einfach nur sein konnte. In kostbaren Momenten empfing sie Anregungen, die ihr ansonsten fremd erschienen wären.

Einmal sprach ein Wesen zu ihr, als säße es ihr gegenüber:
"Trete näher." Eine markante Stimme, jedoch nicht bedrohlich.

Heidi folgte dem Ratschlag, und Schritt tiefer und tiefer in die Wildnis der Wälder, fern jeder Möglichkeit, ihr altes Leben jemals wiederfinden zu können. Etwas erlaubte ihr, Teil der Stille selbst zu werden. Und je länger sie es vermochte in der gedankenlosen Stille zuweilen, desto mehr begriff sie, dass sie dieser Stille ihr Leben widmen würde.