Ein Auftrag von Lady Bareti

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Lirael Vanya'thiel
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Ein Auftrag von Lady Bareti

Beitrag von Lirael Vanya'thiel »

Folgegeschichte auf Die Geschichte von Bareti:
Episode IX
„Pläne, Pfeifenrauch & ein Platz zum Bleiben – oder: Wie ich einen Hof teilte, bevor ich ihn verstand“
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Der Auftrag

Lirael wandelte durch die uralten Wälder von Moonglow, getrieben von einem Gemisch aus Pflicht und einer ungewohnten Sehnsucht, ihrer Schwester Ehre zu erweisen. Ihre Schritte waren geschmeidig wie die eines Luchses, und doch spürte sie in ihrem Innern eine Schwere, als trüge sie eine unsichtbare Last. Ihr Geist schweifte ab, fern der umgebenden Wildnis, sodass sie beinahe über hervorstehende Wurzeln gestolpert wäre.
Bareti hatte sie um Hilfe ersucht.

Ein Auftrag war ihr anvertraut worden, und jemand setzte seine Hoffnung in sie. Diese Empfindung lag so lange zurück, dass sie sie fast überforderte. Die Freude, die sich leise in ihrem Herzen regte, wagte sie kaum zuzulassen. Doch Bareti war ihre Schwester – so hatte sie es gesagt. War es nicht das natürliche Recht und zugleich die Pflicht zwischen Schwestern, einander beizustehen? Doch warum dann diese Aufregung über eine solch einfache Bitte?

Diese Gedanken umwoben sie wie ein unsichtbares Netz, während sie das Unterholz durchstreifte. Es war, als könnten die Antworten auf ihre Zweifel unter den morschen Blättern oder hinter knorrigen Stämmen verborgen liegen. Plötzlich durchbrach ein schriller, kreischender Schrei die Stille des Waldes und riss sie aus ihren Gedanken. Sofort wurden ihre Sinne wachsam wie die einer Jägerin. Ihre Hand glitt in die lederne Tasche, aus der sie das Pergament hervorholte, das Bareti ihr im Vertrauen überlassen hatte. Obwohl sie die Worte des Schreibens in- und auswendig kannte, suchte sie instinktiv den Trost des vertrauten Papiers, als könne sie so die Nähe ihrer Schwester spüren.

„Ich brauche Informationen. Über Junker Hagrobald von Erlengrund. Seine Bewegungen, seine Verbündeten, seine Wege. Nichts Offenes. Nur ein Bild,“ hatte Bareti gesagt.

Lirael kannte diesen Junker nicht, und ehrlich gesagt interessierte er sie kaum. Doch wenn es für Bareti von Bedeutung war, so war es auch für sie von höchster Wichtigkeit. Sie dachte an das gestrige Treffen mit ihrer Schwester. Bareti wirkte bewegt, nicht besorgt oder verzagt, doch eine Unruhe lag in ihren Augen, die Lirael nicht einzuordnen wusste. Obwohl sie ihre Schwester erst kurz kannte, fiel ihr jede noch so kleine Regung auf, und diese Erkenntnis füllte sie mit einer stillen Hoffnung auf Verbundenheit.

Ein Rascheln im Augenwinkel brachte Lirael abrupt zurück in die Gegenwart. Ihre Muskeln spannten sich augenblicklich an, doch ebenso schnell entspannte sie sich, als sie den Ursprung der Bewegung erkannte: Eine schwarze Amsel hatte sich auf einen tief hängenden Ast gesetzt. Lirael atmete tief durch, ihr Blick wurde schärfer, und sie setzte ihren Weg mit neuer Konzentration fort. Bald schon erblickte sie durch das wirre Blattwerk der uralten Bäume ein rosafarbenes Mauerwerk, das in der Ferne schimmerte. Fremdartige Laute, wie von eingesperrten Kreaturen, erreichten ihre Ohren und ließen sie innehalten.

Mit der Geschicklichkeit, die sie in unzähligen Jahren des Überlebens in der Wildnis erlangt hatte, kletterte sie auf eine schlanke Hainbuche, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Von ihrem neuen Standpunkt aus konnte sie das Anwesen erkennen – ein großes Gebäude, das von hohen Mauern umgeben war. Die Mauern selbst schienen wie eine Beleidigung an den Wald zu grenzen, zerschnitten sie doch das Gewebe der Natur, als wollten sie den Willen der Erde brechen. Efeu kletterte mutig an den Wänden empor, doch Lirael wusste, dass die Klingen der Menschen dem Triumph des Grüns Einhalt gebieten würden.

Mit einem Satz sprang sie auf einen mächtigen Eichenbaum, dessen ausladende Krone ihr einen besseren Blick auf die Szenerie ermöglichte. Der Park zwischen der Mauer und dem herrschaftlichen Anwesen war in strenge geometrische Formen gezwungen, ein Bild, das Lirael unweigerlich die Nase rümpfen ließ. Doch es waren die Kreaturen, die innerhalb dieser Grenzen eingesperrt waren, die ihren Zorn weckten. Ihr Blick fiel auf einen schwarzen Panther, der nervös an einer Umzäunung entlang patrouillierte. Wut und Trauer durchfluteten sie, als ihr das Unrecht dieser Gefangenschaft bewusst wurde.

Noch bevor sie näher heran klettern konnte, drangen Stimmen an ihr Ohr. Zwei Männer näherten sich auf einem Pfad aus südlicher Richtung. Der eine war in grelle, beinahe unnatürlich wirkende Farben gekleidet, während der andere einen Zylinder trug und ein Buch in schwarzem Ledereinband in der Hand hielt. Sie verschwanden bald hinter der Mauer, doch ihre Worte, getragen von der Stille des Waldes, drangen bis zu Lirael.

„… es wird schwierig sein, diese Vorwürfe zu begründen…“, sagte der eine mit einem unterdrückten Seufzer.
„… wir müssen einen Weg finden, das sind wir unserem Partner schuldig…“, antwortete der andere mit drängender Stimme.

Die Unterhaltung schien sich zu intensivieren, doch die beiden Männer entfernten sich, und Lirael konnte ihre Worte nicht mehr klar verstehen. Sie blieb für einen Moment auf ihrem Ast hocken, grübelnd über die Bruchstücke, die sie gehört hatte. Doch bevor sie zu einem Schluss kommen konnte, durchbrach das verzweifelte Aufschreien eines Tieres ihre Gedanken. Ihr Blick fiel wieder auf den Park, auf die leidenden Kreaturen, und ihre Brust zog sich vor Trauer und Zorn zusammen.

Sie musste Bareti informieren. Diese Gräueltat durfte nicht ungehört bleiben. Mit einem eleganten Schwung glitt sie von den Bäumen herab und rannte lautlos durch die Wälder, ihre Schritte schneller, als es die Wut und die Empörung in ihrem Herzen zuließen. Das Bild der eingesperrten Wesen blieb ihr vor Augen, und die wenigen Worte der Männer hallten in ihrem Geist wider. Doch all dies schien unwichtig angesichts des Unrechts, das sie gerade erlebt hatte.

Bareti würde wissen, was zu tun war. Sie musste es wissen. Und so rannte Lirael, getrieben von einer Mischung aus Pflicht und unbändiger Entschlossenheit, dem warmen Licht von Baretis Taverne entgegen.
Bareti
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Ein erneuter Auftrag und ein Brief

Beitrag von Bareti »

Es war ein später Abend, als Bareti die Tür zur Taverne ein letztes Mal für diesen Tag schloss – nicht mit dem Riegel, sondern mit einem nachdenklichen Seufzen. Das Feuer im Kamin war längst erloschen, doch das flackernde Licht einer einzelnen Kerze warf noch Schatten über den leeren Tresen. Draußen begann der Regen in feinen Tropfen gegen die Scheiben zu schlagen, als würde der Wald selbst Anteil an ihren Gedanken nehmen.

Sie erinnerte sich an das kurze Treffen mit Lirael – jenen Augenblick, als sie den Hof betrat, still, aber mit der Unruhe eines nahenden Sturms. Die beiden hatten nur wenige Worte gewechselt, doch es war genug gewesen. Bareti hatte gespürt, dass Lirael innerlich aufgewühlt war. Ihr Blick war aufmerksam, doch darin lag etwas Suchendes. Ihre Stimme war klar, aber nicht frei von Zögern. Es war nicht die Unsicherheit einer Kundschafterin – sondern die einer Schwester, die etwas Bedeutendes zu tragen hatte.

Die wenigen Informationen, die Lirael in der Kürze hatte geben können, ergaben bereits ein beunruhigendes Gesamtbild. Bareti vermutete, dass der Ratsbeauftragte direkten Kontakt mit dem Junker aufgenommen hatte – und es gab Hinweise auf eine dritte, bislang unbekannte Person.

Die Nachricht über den Privatzoo überraschte sie nicht völlig. Ein reisender Schreiber hatte kürzlich im Überschwang eines kostenlosen Getränks darüber berichtet, dass der Junker seltene Tiere hielt – manche davon angeblich aus Regionen, die längst vergessen waren. Für Bareti war dies beunruhigend, aber zugleich auch aufschlussreich. Wer seine Macht auf solch demonstrative Weise präsentierte, zeigte Schwäche: entweder durch mangelndes Urteilsvermögen oder durch gefährliche Selbstüberschätzung. Und beides konnte man – mit der nötigen Vorsicht – ausnutzen.

Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig, als Lirael erneut um Hilfe zu bitten. Sie musste herausfinden, wer die dritte Person war. Zu viele Fragen blieben offen. Und obwohl Lirael eine aufmerksame Beobachterin war, wusste Bareti: Auch die wachsamste Jägerin konnte selbst zur Zielscheibe werden, wenn das Spielfeld sich wandelte.

Nachdem Lirael zwischen den Bäumen verschwunden war, hatte Bareti lange still am Fenster gestanden. Der Regen war stärker geworden, und ihre Gedanken ebenfalls. Schließlich hatte sie sich an den Tresen gesetzt, sich ein Glas ihres eigenen Mostes eingeschenkt – der dritte Versuch, geschmacklich verbesserungswürdig, aber hinreichend wärmend – und zur Feder gegriffen.

Es war Zeit, einen anderen Pfad zu betreten. Sie erinnerte sich an jemanden, der trotz aller Eigenheiten ein kluger Kopf geblieben war: Barack von Finsterrode, Spectabilis emeritus der Akademie der freien Völker und jemand mit guten Verbindungen zur Academia Ars Magica ad Moonglow. Ein oft unbequemer, eitler Mann – aber mit tiefem Wissen und Zugang zu Kreisen, in die sie selbst nicht blicken konnte.

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Bild
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Und so schrieb sie:
Hochverehrter Spectabilis von Finsterrode,

in den vergangenen Tagen hat mich ein Sachverhalt erreicht, der sowohl die analytische Schärfe eines erfahrenen Gelehrten als auch die diskrete Hand eines altgedienten Magiers erfordert. Da Ihr mit beidem nach wie vor in Verbindung gebracht werdet – trotz oder gerade wegen der Jahre, die uns in verschiedene Gefilde führten – gestatte ich mir, Euch einzuladen:

Kommt in die Taverne. Nicht als Vertreter einer Institution, nicht als Dozent oder Beobachter. Kommt als Gast.

Es gibt Aspekte dieser Angelegenheit, die sich schriftlich nicht fassen lassen. Es sind jene Dinge, die erst in der Atmosphäre zwischen flackerndem Feuer und einem Glas Most zu Form und Bedeutung finden. Ich weiß, dass Ihr solchen Orten gewöhnlich fernbleibt. Aber vielleicht – ein einziges Mal – gebt Ihr der Neugier nach.

Das Haus steht offen. Ich werde auf Euch warten.

Mit verbindlicher Erwartung,
Bareti
Lirael Vanya'thiel
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Re: Ein Auftrag von Lady Bareti

Beitrag von Lirael Vanya'thiel »

Lirael streifte wiederum durch die Wälder von Moonglow, und ihre Gedanken waren abermals geprägt von einer Vielzahl von Gefühlen und Empfindungen, die sie teilweise nicht einordnen konnte. Sie hatte Bareti von den schrecklichen Entdeckungen und über das Leid dieser armen Lebewesen berichtet. Bareti hatte schockiert zugehört, schien jedoch mehr daran interessiert zu sein, was Lirael sonst noch entdeckt hatte. Die belauschte Besprechung schien für sie wichtiger zu sein, was Lirael verunsicherte. Waren verursachtes Leid und dessen Verhinderung nicht wichtiger als irgendwelche Geschichten, Gespräche oder Erklärungen?

Lirael fühlte sich zu Bareti hingezogen, und die Aura, die von ihr und der Taverne ausging, zog Lirael in ihren Bann. Doch nicht nur dieses ominöse Gefühl war es, das Lirael immer wieder zu Bareti und zur Taverne zurückkehren ließ. Auch das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas verrichten zu können… Obschon sie kaum wagte, diesem Begriff in ihrem Kopf Raum zu geben, schien es ihr doch, als würde sie eine Freundschaft mit den Freunden der Taverne verbinden. Sie war sich nicht sicher, ob alle ihre Beziehung auch so einordnen würden und sie als Teil der Taverne betrachteten.

Bareti hatte ihr zwar eine feste Aufgabe zugewiesen – Hüterin des Hains hinter der Taverne – und Lirael fühlte sich wohl zwischen den Apfelbäumen, die auf eine harmonische Weise die gewesene Natur mit der geformten Natur verbanden. Und wenn sie mit Bareti zusammen war, dann spürte sie die Wertschätzung und Begeisterung, die ihr entgegengebracht wurde. Umso schwerer war es für sie, diese unerwartete Reaktion von Bareti einzuordnen.

Hinzu kamen die Ereignisse vom Vorabend, der Anschlagsversuch auf den Gildenmeister, der nur im letzten Moment durch den gemeinsamen Einsatz der Taverne verhindert werden konnte. Es schien, als wären Ereignisse im Gange, die Lirael nicht verstand und die Bareti beschäftigten.

Lirael hätte gerne besser verstanden, was ihre Freundin derart beschäftigte und ihr Sorgen bereitete. Der Gedanke, dass der Anschlagsversuch damit zusammenhängen könnte, ließ sie innehalten, derart absorbierte er ihren Geist. Sie musste sich zusammenreißen und realisierte gleichzeitig, dass sie Bareti, der Taverne und den Freunden der Taverne wohl verbundener war, als sie es sich eingestehen wollte. Insbesondere Baretis Sorgen schienen sie beinahe wie durch eine geistige Verbindung einzunehmen.

Lirael ließ sich zu Boden sinken, ihr linkes Knie berührte den moosigen Boden. Während sie in der linken Hand noch immer ihren Bogen hielt, fasste sie mit der rechten flach auf den Boden, als wollte sie eine Verbindung herstellen zur Natur, die sie umgab. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen, zwang sich, Zweifel, Unsicherheit und die Sorgen um Bareti loszulassen, und suchte nach innerer Ruhe. Während sich ihr Puls verlangsamte, verharrte sie lange in dieser beinahe meditativen Position, unentschlossen, ob sie sich beruhigen oder Kraft schöpfen wollte. Die Gewissheit, Stabilität und Kraft, die von den jahrhundertealten Bäumen ausgingen – Bäume, die jedes Lebewesen in ihrem Schatten schützten und deren Energie den Wald formte – gab ihr Halt.

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Nach einer Weile schärften sich ihre Sinne, und unbewusst gelang es ihr, ihre Gedanken auf das Wesentliche zu fokussieren. Sie hatte einen Auftrag… Einen Auftrag, den Bareti ihr anvertraut hatte und der zweifellos von großer Bedeutung war und zur Klärung der neuesten Ereignisse beitragen würde.

Lirael hielt die Augen noch eine Weile geschlossen, erhob sich dann jedoch langsam und blickte beinahe andächtig ins Blätterdach, als wollte sie dem Wald für seine Unterstützung danken. Mit erneuerter Energie und Gewissheit machte sie sich schnurstracks auf den Weg.
Lirael sollte dem Beauftragten des Junkers folgen und versuchen, etwas über die ominöse dritte Person herauszufinden. Sie kannte ihn jedoch nicht und hatte nur eine vage Idee, wo ihre Suche starten könnte.

Sie war auf dem Weg in die Stadt Moonglow, einen Ort, den sie nicht sehr gut kannte und den sie selten aufsuchte. Dennoch war es am wahrscheinlichsten, dass der Gesuchte im oder um das Rathaus tätig war oder sich zumindest öfter dort aufhielt. Lirael plante, sich unauffällig in den Park im Zentrum der Stadt zu setzen und den Marktplatz sowie die Zone vor dem Rathaus zu beobachten. Sie hoffte, dass die ominösen Symbole im ansonsten sehr schönen Park genügend Besucher anlockten, damit sie sich unauffällig genug dort platzieren konnte.

Sie hatte sich extra eine unauffällige Robe angezogen, deren Kapuze es ihr erlauben sollte, ihr Gesicht etwas zu verdecken. Sie gab sich der Illusion hin, zwischen all den Magistern und anderen Besuchern weniger aufzufallen. Zunächst hatte sie versucht, sich unauffällig unter einen Baum zu lehnen, von dem aus sie den gesamten Vorplatz des Rathauses im Blick hatte. Nach einer Weile wurde ihr jedoch unwohl, da sie sich beinahe ausgestellt fühlte, und während sie es sich wohl nur einbildete, glaubte sie, vermehrt Blicke auf sich zu spüren.

Sie entschied, ihren Plan leicht zu ändern, und begab sich auf den Marktplatz. Bei einem lokalen Händler kaufte sie zwei Stück Holz – lange Stangen aus Weide, aus denen sie beabsichtigte, einen Bogen zu schnitzen. Sie setzte sich unter einen Baum, der ihr einen klaren Blick erlaubte und sie doch wenig exponierte, nahm ihr Messer zur Hand und begann zu schnitzen.

Nach einer Weile erblickte sie eine Person die der gesuchten ähnelte. Lirael war sich nicht sicher, jedoch trug er ein schwarzes Notizbuch unter dem Arm, dass sie wiederzuerkennen glaubte. Er ging aus dem Rathaus gemächlich in Richtung Stadtausgang, und Lirael entschied, dass es sich um den gesuchten handeln müsse. Sie packte ihre Sachen zusammen, nahm die beiden nun kürzeren Stangen, die noch immer in Bearbeitung waren, zur Hand und machte sich daran, ihm unauffällig zu folgen.

Trotz ihrer großen Nervosität gelang es ihr, stets genügend Abstand zu halten und ihn dennoch nicht zu verlieren. Am Rande der Stadt verschwand er plötzlich in einem Gebäude. Bei genauerer Betrachtung stellte Lirael fest, dass es sich um eine Taverne handelte. Erneut stieg große Nervosität in ihr auf. Hatte sie ihn nun verloren? Wie sollte sie ihm folgen?

Unsicher sah sie sich um, und nach einigem Zögern fasste sie Mut und ging auf die Türen der Taverne zu. Sie trat ein und blieb im ersten Moment halb in der Tür stehen – eine Mischung aus Unsicherheit und Schock überkam sie. Sie hatte die freundliche Stimmung und den liebevoll eingerichteten, lichtdurchfluteten Schankraum einer Taverne erwartet, wie sie ihn von Bareti kannte. Stattdessen blickte sie in einen düsteren Traum, der in allen Ecken Tristheit ausstrahlte, die Lirael bereits nach wenigen Augenblicken aufs Gemüt schlug.
An einigen Tischen saßen ältere Männer, die allein vor einem Krug saßen und teilweise beinahe verwahrlost wirkten. Hinter der Bar stand eine Frau mit undefinierbarer Ausstrahlung, die Lirael kritisch betrachtete, während sie einige Gläser mit einem schmutzigen Lappen abtrocknete.

Lirael blickte kurz zu Boden und auf ihre Robe. Als ob diese ihr wahres Wesen verhüllen würde, fasste sie etwas Mut und trat in den Schankraum ein. Mit wenigen Schritten war sie an der Bar und setzte sich an deren Rand, von wo aus sie den Raum einigermaßen im Blick hatte.

Die Frau hinter der Bar ließ sich Zeit, zu Lirael zu kommen, doch schließlich gab es keine weiteren Tätigkeiten mehr, die sie als Vorwand hätte nutzen können. Sie trat an Lirael heran und hob fragend das Kinn, ohne ein Wort zu sagen.

„Most“, war das einzige Wort, das Lirael sprach. Die Frau hielt einen Moment inne, betrachtete Lirael eingehend, als versuche sie, sie zu durchschauen, doch es schien ihr nicht zu gelingen. Beinahe resigniert wandte sie sich ab und bereitete das Glas Most vor.
Der Beauftragte war nirgends zu sehen, und Lirael fragte sich, ob er dieses Etablissement nur als Ablenkung genutzt hatte und bereits durch den Hinterausgang verschwunden war. Nachdem die Barmaid ihr den Krug mit Most hingestellt hatte, schenkte sie sich ein Glas ein. Der Saft war trübe, und nach dem ersten Kosten erinnerte er sie bestenfalls an Baretis zweiten Versuch.

Sie ließ das Glas stehen und ließ ihren Blick so unauffällig wie möglich durch die Taverne schweifen. In diesem Moment vernahm sie, wie sich hinter einer Tür, die vermutlich zu einem Nebenraum führte, eine Stimme erhob. Mit ihren feinen Elfenohren und viel Konzentration konnte sie einzelne Worte des Gesprächs vernehmen. Mit einem Mal klang es, als würde etwas zu Boden fallen und das Gespräch schien zu einem Streit auszuarten.

«Brenn den ganzen Haufen nieder!»

Auf unverständliche Laute der anderen Person folgte ein weiterer Ausbruch.

«… das kann ich nicht gebrauchen! Ich will, dass ihr das erledigt, und zwar heute! Vorher brauchst du nicht zurückzukommen! »

Konnte sie deutlich vernehmen und während sie noch über die Bedeutung dieser Worte nachdachte, wurde die Türe regelrecht aufgerissen und der Beauftragte stolperte beinahe in den Schankraum. Er fing sich im letzten Moment auf und machte sich daran, zur Tür zu hasten. Er war mit wenigen Schritten und dunklem Gesichtsausdruck bei der Tür und im selben Moment verschwunden. Aus der Tür zum Nebenraum trat ein opulenter Mann mit hochrotem Kopf, langem Haar und einem filzigen Bart. Er hielt kurz inne, blickte sich im Schankraum um, ohne Lirael speziell zu beachten, und trat dann wieder in den Nebenraum, dessen Tür er hinter sich schloss.

Lirael legte einige Münzen auf den Tresen und ließ den Rest des Mostes unangetastet zurück. Sie begab sich zur Tür und verließ die Taverne. Mit strammem Schritt, sichtlich in Eile, machte sie sich auf den Weg zu Bareti.

Sie würde ihr von diesem Ereignis berichten und hoffte, dass es Bareti helfen würde, Klarheit über die sonderbaren Vorgänge der letzten Tage zu erlangen. Und vielleicht würde sich ihr ein Zusammenhang mit den verwerflichen Vorgängen um die eingesperrten Lebewesen erschließen.

Nach wenigen Minuten hatte Lirael die letzten Häuser hinter sich gelassen und befand sich im vertrauteren Umfeld der Bäume von Moonglow. Sie streifte die Robe ab, und als ob sie nun wieder sie selbst wäre, hielt sie kurz inne und sammelte sich, bevor sie sich mit flinken Schritten auf den Weg durch den Wald zur Taverne machte.
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