Verlesen im Schatten

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gelöschter Charakter_779
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Registriert: 31 Mai 2025, 10:17

Verlesen im Schatten

Beitrag von gelöschter Charakter_779 »

Die Tür quietschte, als Lyr’sa sie aufstieß – ein dumpfer, holziger Ton, gefolgt vom Geruch nach Apfelmost, Rauch aus dem Kamin, ein wenig Schweiß. Baretis Taverne war wie immer belebt, aber nicht laut. Gedämpfte Gespräche, vereinzelt ein Lachen, der Klang eines Kruges, der zu hart auf einem Tisch abgestellt wurde.

Sie trat ein, zog den Umhang fester um sich. Sie war nicht zum Trinken hier.

Lirael. Ich muss wissen, wo sie ist. Wenn sie wirklich nach Elashinn zurück ist – wenn sie dort auftaucht…
Ein Schauder kroch ihr über den Rücken.

Nicht weil sie Lirael vermisste. Nein. Es war Angst. Angst davor, dass jemand sie – Lyr’sa – in Verbindung mit den Waldelfen bringen würde. Dass man Fragen stellte. Und noch schlimmer – Antworten erwartete.

Kaum hatte sie den Raum betreten, begegnete sie Rianons Blick. Er wollte sie ansprechen, sie spürte es sofort. Diese Art von Aufmerksamkeit – freundlich, warm, fast naiv.
"Nicht jetzt," murmelte sie knapp, ohne ihn direkt anzusehen. "Du setzt mir nur wieder Flausen in den Kopf."

Er wich zurück – ein wenig gekränkt, vielleicht – doch Lyr’sa hatte ihre Grenze gezogen.

Kurz darauf fand sie Lirael, wechselte einige Worte mit ihr im Vorraum, hastig und leise, kaum hörbar für andere. Dann traten sie gemeinsam ins Innere.
Die meisten Gäste saßen am Tresen, umringt von Halbdunkel, Getränken, Schulterklopfern und Gesprächsfetzen.

Lyr’sa nicht.

Sie hatte sich einen Einzeltisch gesucht, in der Ecke, halb im Schatten. Ein Ort, an dem man sie leicht übersehen konnte – und genau das wollte sie.
Dort saß sie nun. Die Finger glitten unruhig über den Ledereinband ihres Buches welches Sie kürzlich auf einem Tisch in einer anderen Taverne hatte mitgehen lassen. Dann schlug sie es auf. Zwischen den Zeilen verbarg sich ihre Flucht.

„Sturm der Sehnsucht – Liebe in den Wellen Trinsics“
Der Titel prangte ihr entgegen wie ein feuchtes Geständnis.

Sofort hob sie das Buch ein wenig höher, schräg, damit niemand den Umschlag sah. Sie tat, als wäre es ein alchemistisches Fachwerk. Vielleicht eins über Flussrichtungen. Oder die Anatomie von Seeschnecken. Alles war besser als zuzugeben, dass sie sich in diese Welt verlor.
Eine Welt, in der starke Arme sie hielten. In der jemand flüsterte „Bleib.“ statt „Halt den Mund.“
In der es keine Intrigen, keine Befehle, keine Schmerzen gab – nur das Rauschen der Wellen, warmer Sand und Lippen, die mehr versprachen als Drohungen.

Lyr’sa versank in den Zeilen. Ein Schiff. Ihr Prinz. Eine verwundete Seele. Oh ja, dachte sie, das bin ich doch, oder? Verwundet. Und irgendwo in mir… wartet der Sturm.

Mehrmals wurde sie gestört. Ein vorbeigehender Gast, der zu laut lachte. Lirael, die fragte, ob sie etwas wolle. Rianon, der sich nochmal vorbeugte. Jeder dieser Momente ließ sie zusammenzucken, das Buch halb schließen.
„Nichts. Ich… Ich lese nur.“
Immer wieder versuchte sie, den Titel zu verbergen. Nicht aus Scham, sondern… doch. Eindeutig aus Scham.
Wenn sie das sehen… würden sie lachen. Und wenn sie lachen…
Sie wollte nicht mehr der Witz sein. Nicht die armselige Drow mit dem Hammergürtel und den fliehenden Blicken. Nicht heute.

Also las sie weiter. Und stellte sich vor, die Protagonistin zu sein.
Und dass irgendwann, irgendwer… sie tatsächlich sehen würde.


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Die Taverne war voller Stimmen, Gelächter, Stuhlkratzen. Lyr’sa jedoch saß allein an einem kleinen Tisch, ein wenig abseits, das Gesicht halb im Schatten, das Kinn in die Hand gestützt. Ihre Augen glitten über die Seiten eines abgegriffenen Buches mit rotem Einband und goldenem Titel: „Sturm der Sehnsucht – Liebe in den Wellen Trinsics“.

Der Text war kitschig, überschwänglich, voller Küsse bei Sonnenuntergang und nächtlicher Umarmungen auf Klippen im Regen. Und Lyr’sa… war darin versunken. Tief.

„Ich gehe mit dir“, flüsterte sie. „Wohin du willst. Ich bin nicht aus Glas.“

Lyr’sas Herz machte einen kleinen Hüpfer. Ihr Blick wurde weich, verträumt. Sie seufzte – leise – und sah sich selbst für einen Moment an seiner Stelle, mit einem starken Arm um ihre Hüfte, auf einer Schaukel aus einem Traum, in einem Kleid aus weichem Leinen, das nie rußig wurde, nie stank, und niemals irgendwo spannte.

Dann die Tür.
Ein Windstoß – und sie trat ein.

Ancanagar.

Wie eine Nadel durch feinen Stoff schnitt der Anblick durch Lyr’sas Traumwelt. Die Vampirin war noch schöner als in ihrer Erinnerung, wenn auch auf eine Art, die das Blut gefrieren ließ. Hohe Wangenknochen. Schwarze Haare. Und diese dunklen, kalten Augen.

Und Lyr’sa spürte es sofort.

Die kalte Steinwand eines uralten Turms. An das Spinnennetz aus Schatten und Flüstern. An die scharfen Zähne, die sich in ihren Hals bohrten – und an den Blick dieser Frau, dieser Kreatur, dieser Vampirin, deren Schönheit so grausam war, dass Lyr’sa weinen wollte. An das Gefühl, gelähmt zu sein, hilflos, ausgeliefert. Der Angstschweiß auf ihrer Haut, das Zittern in ihren Gliedern, die dunkle Macht, die sich über sie legte wie ein Netz.

Sie hatte überlebt. Aber etwas in ihr war dort geblieben – im Schatten, in der Kälte, im Turm.
Sie spürte es. Nicht den Biss. Nicht den Schmerz. Sondern das Gefühl danach. Die Leere, das Brechen, das Verstummen. Der Moment in der Turmruine, als sie gegen den Gitterzaun gedrückt worden war, ihre Stimme nicht mehr ihr gehörte, ihr Wille zersprungen war wie Glas unter stahlharten Fingern.

Etwas hatte sich geändert. Sie hatte den Mut verloren, ihren Willen, ihre Durchsetzungskraft.
Wich zurück, wenn sie vorstoßen sollte, sagte 'ja' wenn sie besser 'nein' sagen sollte.

Lyr’sa zuckte – kippte mit dem Hocker nach hinten – und landete hart auf dem Rücken. Ein paar Gäste lachten. Andere murmelten.

Sie schoss hoch wie ein angeschossenes Tier, rieb sich hastig das Steißbein, griff nach dem nächstbesten Sichtschutz – und verschwand hinter einem alten Vorhang, der das Fenster zur Straße verdeckte. Von dort aus lugte sie vorsichtig hervor, ihre Augen weit, das Herz ein pochender Tiegel in der Brust.

Ancanagar stand weiterhin vor der Tür. Und sie schien nicht zu gehen.

Panik wallte auf wie Galle. Der Weg zur Tür führte an ihr vorbei. Zu nah. Viel zu nah. Lyr’sa hatte nicht einmal ihre Armschiene dabei.

Aber Drow waren Überlebenskünstler. Und Lyr’sa war gut in dem, was sie konnte: sich ducken. Unsichtbar machen.
Sie griff sich ein Tablett vom Nachbartisch, lud einige leere Flaschen darauf, rückte sie ein wenig klirrend zurecht – und hob das Kinn so hoch sie konnte, und ging los.

„Lieferung für… draußen“, murmelte sie.

Und dann ging sie. Ganz ruhig. Schritt für Schritt. Keine Blicke. Nicht weinen. Nicht stolpern. Sie kam näher. Nur noch zwei Schritte. Noch einer.

Ancanagar trat beiseite.
Aus welchem Grund auch immer.

Und Lyr’sa rannte.
Sie rannte, wie sie es schon tausend Mal getan hatte. Weg von Angst. Weg von Schmerz. Weg von dem Gefühl, dass alles wieder von vorn beginnen würde.

Sie hörte das Klappern ihres Werkzeuggürtels, spürte den Wind in ihrem Gesicht.

Und merkte nicht, dass auf dem Boden der Taverne, neben dem Tisch mit dem kleinen rußigen Abdruck ihrer Finger, Sturm der Sehnsucht lag. Offen auf der ersten Seite.



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Gelesen wurde von Lyr'sa


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