Sie war das mittlere Kind, in einer Familie, in der Mittlere selten überlebten. Ältere Geschwister waren Konkurrenten mit Vorsprung, jüngere Rivalen mit dem Vorteil der Hoffnung. Der einzige Weg, nicht zwischen diesen Mahlsteinen zermahlen zu werden, war, den Blick der Ilharess oder einer hohen Priesterin früh auf sich zu ziehen. Jhea’kryna tat dies nicht durch Unterwürfigkeit – sondern durch eine ungewöhnliche Mischung aus stiller Beobachtung und gezieltem Handeln.
Schon als Mädchen zeigte sie eine Gabe, die bei vielen Drow erst in späteren Jahren reifte: das Talent, zu wissen, wann man spricht, und vor allem, wann man schweigt. In einer Welt, in der Worte ebenso tödlich sein konnten wie Klingen, war das Schweigen oft die schärfere Waffe. Die wenigen Male, in denen sie das Wort erhob, waren so gesetzt und von solcher Schärfe, dass sie bei Älteren und Rivalen gleichermaßen Beachtung fand.
Es dauerte nicht lange, bis der Tempel Lloths auf sie aufmerksam wurde. Die Arach Tinilith, Zentrum der Ausbildung zukünftiger Priesterinnen, öffnete ihre Tore für sie, noch bevor ihr Haar den ersten silbrigen Glanz der Reife zeigte. Der Eintritt war kein Geschenk – es war eine Prüfung, eine Einladung in ein Netz aus Rivalität, Gehorsam und unausgesprochener Gewalt.
Der Unterricht in der Arach Tinilith war an diesem Tag von Stille und dem metallischen Geruch frischen Blutes durchzogen. Eine Opferung war abgeschlossen worden, die Lehrmeisterin hatte sich zurückgezogen, und die Novizinnen warteten auf den nächsten Befehl.
Zeryndra, eine hochgewachsene Schülerin mit zu viel Stolz für ihre Position, trat näher. „Man sagt, deine Schwester hat dir den Platz hier verschafft“, begann sie, so leise, dass es doch alle hören konnten. „Manche von uns müssen ihn verdienen.“
Jhea’kryna ließ den Blick nicht von dem silbern glänzenden Ritualmesser in ihrer Hand. „Ach, Zeryndra…“ Sie sprach den Namen, als würde sie einen Fehler in einer Schriftrolle korrigieren. „Es ehrt mich, dass du glaubst, meine Schwester hätte die Macht, die Auswahl der Arach Tinilith zu beeinflussen.“
Ein leises Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab, als sie das Messer ablegte. „Aber ich verstehe deinen Argwohn. Wenn ich an deiner Stelle wäre… und wüsste, dass ich trotz aller Anstrengungen immer nur zweite Wahl bleibe…“ Sie ließ den Satz in der Luft hängen, wie ein Gift, das von selbst in den Adern wirkt.
Einige der Novizinnen hielten den Atem an. Zeryndra öffnete den Mund, schloss ihn wieder. In der Stille hörte man nur das Tropfen des Opferbluts in die steinerne Schale.
Jhea’kryna erhob sich, trat an ihr vorbei und legte Zeryndra sanft die Hand auf die Schulter – nicht als Trost, sondern als Besitzergreifung. „Komm“, flüsterte sie, so dass nur Zeryndra es hörte, „man sagt, Demut sei Lloths liebste Tugend. Vielleicht ist das deine wahre Prüfung.“
Als Jhea’kryna den Raum verließ, sah sie nicht zurück. Sie musste es nicht. Die anderen hatten gesehen, wer den Faden spann – und wer sich darin verheddert hatte.
Es war kein Lärm, der sich durch die Schlafgemächer zog, sondern das leise, gedämpfte Raunen derer, die genug Verstand hatten, nicht laut zu werden. Namen fielen, immer wieder Jhea’krynas, und das ihre mit einem Unterton, der weder klar Spott noch Respekt war – ein Laut, der beides sein konnte, je nachdem, wer zuhörte. Sie wusste, dass das Wort den Weg finden würde. In der Arach-Tinilith fanden solche Dinge immer den Weg – durch die Gebetsnischen, entlang der Speisesäle, von einer Zunge zur nächsten, wie ein Gift, das man unbemerkt ins Wasser träufelte.
Yathrin Shuryth, eine Priesterin, die man im Flüsterton „die Seidige“ nannte, stand später an einer Säule des inneren Hofes. Ihr schwarzer Umhang lag wie flüssiger Schatten auf dem Stein. Die anderen Novizinnen mieden sie; die, die ihr zu nahe kamen, verließen den Ort meist mit einer neuen Narbe – wenn sie Glück hatten.
„Jhea’kryna Ky’Alur.“ Die Stimme schnitt nicht, sie streichelte. Aber jeder Hauch trug die Schärfe einer Klinge.
Jhea'kryna trat näher, hielt den Blick gesenkt, wie es sich gehörte. Doch in ihren Augenwinkeln sah sie das Lächeln der Veldrin – kein warmes, kein freundliches, sondern eines, das den Wert eines Dolches an der Kehle kannte.
„Ich sah, wie du das Messer in ihr Herz getrieben hast, ohne es zu führen.“
Ein leises Klicken der Zunge. „Die Göttin liebt Hände, die so arbeiten. Sie machen weniger Schmutz.“
Die Lehrmeisterin umkreiste sie langsam, das Geräusch ihrer Stiefel kaum mehr als ein Atemzug auf dem glatten Stein.
„Aber ein einzelner Stich ist nur ein Anfang. Willst du etwas lernen, Jhea’kryna? Willst du wissen, wie man einen ganzen Schwarm zerschlägt – und dabei so tut, als würde man ihn retten?“
Jhea hob den Blick gerade so weit, dass ihre Lippen den Ansatz eines Lächelns fanden.
„Xas, malla Yathrin.“
Der Auftrag kam nicht während des Unterrichts, sondern in der kühlen Stille der Seitenkapelle, dort, wo die Wände mit den Runen Lloths wie ein Netz aus uraltem Silber überzogen waren.
„Es gibt Unruhe unter den Novizinnen der dritten Halle,“ sagte Yathrin Shuryth, ohne Jhea’kryna anzusehen. Sie war mit einer schwarzen Kerze beschäftigt, deren Docht sie in eine Schale aus Blut tunkte. „Zwei Gruppen, jede überzeugt, im Recht zu sein. Ich habe weder Zeit noch Geduld, diesen Lärm zu ertragen.“
Jhea schwieg, wissend, dass dies nicht einfach ein Befehl war, sondern eine Messung.
„Du wirst diesen Streit beenden,“ fuhr die Lehrmeisterin fort. „Und du wirst es so tun, dass keine den Eindruck hat, du habest Partei ergriffen. Und doch…“ – hier hob sie endlich den Blick, ihre Augen ein funkelndes Gelb – „…wird am Ende eine von beiden zerstört sein. Wenn möglich, ohne dass jemand deine Hände sieht.“
Es war kein Zufall, dass Zeryndra zu einer der beiden Gruppen gehörte.
Der Streit, den sie „schlichten“ sollte, ging um die Verteilung der Opfergaben für das nächste Blutritual. Zeryndras Gruppe hatte den Löwenanteil beansprucht, die andere Gruppe sah darin eine Demütigung. Jhea’kryna trat nicht als Richterin auf. Stattdessen ließ sie die beiden Parteien im Versammlungsraum zusammenkommen und tat, was sie im Tempel bereits gelernt hatte: zuhören, schweigen, das Gift in die richtige Vene tropfen lassen.
„Natürlich hat Zeryndra das Recht, den besten Teil der Opfergaben zu beanspruchen,“ sagte sie mit sanfter Stimme, die wie Zustimmung klang. „Schließlich ist sie die Einzige hier, deren Schwester nicht am Hofe der Ilharess dient.“
Einige der anderen Novizinnen begannen zu kichern – nicht laut, nicht ungezogen, sondern gerade so, dass es wie ein Riss in der Mauer wirkte. Zeryndras Augen blitzten, doch bevor sie antworten konnte, sprach Jhea'kryna weiter.
„Aber vielleicht…“ – sie ließ die Worte langsam fallen – „…sollte sie der Göttin beweisen, dass sie diesen Anspruch auch verdient.“
Am Ende dieses „Schlichtungsgesprächs“ war Zeryndra die Einzige, die mehr Opfergaben hatte als zuvor – aber auch die Einzige, die nun öffentlich verpflichtet war, das gefährlichste und unreinste Blut für das Ritual zu beschaffen. Ein Auftrag, der sie zwang, bei einem missliebigen Meisteralchemisten vorzusprechen, der für seine Demütigungen berüchtigt war. Als sie zurückkehrte, roch sie nach kaltem Rauch und hatte eine frische Brandspur am Hals. Niemand musste sagen, dass Jhea’kryna gewonnen hatte. Jeder sah es.
Das leise Lachen, das sie daraufhin hörte, war wie das Rascheln einer Spinne in der Dunkelheit – und es sagte ihr, dass die nächste Lektion kein Gebet sein würde.
Die Nacht nach der „Schlichtung“ war ungewöhnlich still. Die üblichen Schritte und geflüsterten Gebete im Novizentrakt fehlten – als hätte die Arach Tinilith selbst beschlossen, den Atem anzuhalten. Yathrin Shuryth ließ Jhea’kryna in die innere Krypta führen. Der Raum war klein, kreisrund, mit Wänden aus schwarzem Obsidian, in die filigrane Spinnennetze aus Silberdraht eingelassen waren. In der Mitte stand ein niedriger Altar, darauf ein Kelch, der aus einem einzigen Stück polierten Karneols (*) gefertigt war. Das Blut darin war frisch, noch warm, und roch nach Eisen und Rauch.
„Dies ist nicht dein Recht,“ sagte Veldrin, während sie einen kleinen Kreis aus Asche um den Altar zog. „Dies ist ein Blick, den ich dir gewähre, um zu sehen, ob Lloth überhaupt etwas mit dir zu tun haben will.“
Jhea’kryna kniete nieder. Sie wusste, dass es kein Gebet im herkömmlichen Sinn war – es war eine Einladung, und die Göttin konnte sie annehmen oder ablehnen.
„Trink.“
Das Blut war dick, fast wie geschmolzenes Metall. Es brannte auf der Zunge, kroch wie eine lebendige Schlange ihre Kehle hinunter. Jhea schloss die Augen, und die Welt kippte. Kein Licht. Kein Klang. Nur Schwärze – und darin feine, silberne Fäden, die sich woben und lösten, wieder woben, immerzu. Manchmal berührten sie sie, manchmal glitten sie fort. Und dann, wie aus der Tiefe eines anderen Raumes, ein leises Zucken – als hätte eine Spinne im Netz kurz gezittert.
Sie wusste nicht, ob es ein Gruß war oder eine Warnung. Aber sie wusste, dass es gesehen hatte, dass sie gesehen worden war.
Als sie die Augen öffnete, stand Veldrin noch immer dort, unbewegt.
„Nun weißt du, was es bedeutet, wenn die Göttin hinsieht,“ sagte sie. „Die Frage ist nur – wird sie dich noch einmal ansehen?“
Jhea’kryna verneigte sich, nicht tief, sondern genau so, wie es einer diente, die wusste, dass sie eines Tages vielleicht nicht mehr dienen würde.
In der Arach Tinilith verlor man schnell jedes Gefühl für Zeit. Tage, Wochen, manchmal Monate flossen ineinander, wie Blut in den Rillen eines Opfersteins. Es gab Rituale, Prüfungen, Pflichten – und dann wieder Rituale, bis selbst der Schlaf nur eine weitere Form von Dienst war. Jhea’kryna hätte nicht sagen können, wann sie zuletzt den Hof des Qu’ellars betreten hatte. Nicht aus Pflichtvergessenheit, sondern weil ihr schlicht jede Möglichkeit genommen wurde. Ihre Aufgaben im Tempel kamen wie Wellen: Wenn sie einen Zyklus abschloss, war der nächste schon über ihr, schwerer, tiefer, unausweichlicher.
Von ihrer Schwester hörte sie nur in Form von geflüsterten Gerüchten, die Novizinnen aus den oberen Häusern mitbrachten: Query’fae hatte ein Bündnis mit Haus Noquar geschlossen. Query’fae war auf einer Audienz vor dem Stadtrat aufgetreten. Query’fae hatte angeblich eine Abordnung der Yathrin selbst beeindruckt.
Kein Wort, kein Bote, keine Einladung. Sie war wie ausgelöscht – nicht tot, aber aus dem Bild geschnitten.
Dass sich das änderte, lag an Kary’lin. Die Veldriss betrat eines Tages während einer Andacht den Gebetsraum, ihre Stiefel hinterließen feuchte Abdrücke vom Morgentau des äußeren Hofes. Sie stand lange hinter Jhea’kryna, sagte kein Wort, bis der letzte Gesang verklungen war.
„Du bist schwer zu finden, Ky’Alur.“
Jhea’kryna hob den Blick, nur so weit, dass ihre Augen Kary’lens trafen. Die Veldriss lächelte nicht.
„Deine Schwester hat dich gut versteckt. Zu gut. Ich frage mich, ob sie glaubt, die Göttin wisse nicht, wo du bist.“
Es war das erste Mal seit Monaten, dass jemand aus dem Qu’ellar sie direkt ansprach. Kary’lin sprach von Dingen, die außerhalb des Tempels lagen, von Machtverschiebungen, Bündnissen und Fehden, als wolle sie testen, ob Jhea’kryna noch verstand, wie man Fäden in der Dunkelheit sieht.
Am Ende ihrer Worte stand Kary’lin näher, so nah, dass Jhea’kryna den feinen Geruch von Öl und Stahl aus der Rüstung der Veldriss wahrnahm.
„Deine Schwester ist verschwunden.“
Jhea’kryna blinzelte nicht, aber der Satz fiel wie ein scharfes Messer in einen stillen Raum.
„Das Haus Ky’Alur steht ohne Ilharess da. Die Krieger sind unruhig, die Magier streiten um Befehlsgewalt. Wenn du nicht zurückkehrst, werden andere diese Lücke füllen – und wir beide wissen, dass sie uns nicht wohlgesinnt sind.“
Kary’lin ließ den Blick kurz schweifen, als prüfe sie, ob jemand lauschte.
„Ich bitte dich nicht im Namen deiner Schwester. Ich bitte dich im Namen des Hauses. Komm nach Elashinn. Setz dich auf den Thron, bevor jemand anderes es tut.“
Es war keine Drohung, kein Befehl. Es war der klare Blick einer Kriegerin, die wusste, dass ein Haus ohne Herrin nur ein Schlachtfeld ist, das darauf wartet, gewählt zu werden.
ooc-Info
(*) für die interessierten was Karneol sein soll
https://de.wikipedia.org/wiki/Karneol
Es handelt sich hierbei um Jhea neue Backgroundstory... die andere ist mir abhanden gekommen ;) und das Weltquest eignet sich ja ganz gut da dinge gerade zu rücken.