Am grauen Morgen - das Erwachen der Essenz [Sternenfall]

Forum für den roten Faden der Schattenwelt, Events und Quests. Wissen aus diesem Forum kann im Spiel erarbeitet werden.
Grimoires
Beiträge: 4
Registriert: 29 Okt 2025, 20:21

Am grauen Morgen - das Erwachen der Essenz [Sternenfall]

Beitrag von Grimoires »

Der Morgen kam nicht. Er schlich. Das Licht war kein Licht, eher ein dünner Schleier, der über allem lag und aus jeder Richtung zugleich zu kommen schien. Es roch nach Asche, Kohle, Erde und Unrat. Zwischen den Trümmern lag Stille, die keine war, nur die Müdigkeit der Dinge, nachdem diese wie ein Neugeborenes geschrien hatten und vor Erschöpfung eingeschlafen sind.

Als Erster machte sich ein Mensch auf den Weg, ein Magier ohne Gefolge, ohne Schüler, ohne die vertraute Sicherheit, die ihm die Magie gab. Der Kopf dröhnte ihm, ein dumpfer, anhaltender Druck hinter der Stirn, der in Wellen kam und ging - wie ein falscher Schritt auf einer Seilbrücke, welche die besten Zeiten hinter sich hatte. Immer wieder griff er sich an die Schläfe, als könnte er dort tasten, was ihm genommen war: ein Sinn, der einst selbstverständlich gewesen war, eine Wärme, die ihm früher wie Atem folgte. Jetzt fehlte sie. Es war, als hätte man ihm einen Vertrauten aus dem Arm gerissen, der ihm sonst die Last abnahm, Zauber mit ihm trug, Fäden hielt und Knoten erkenntlich machte.

Der Magier stieg über umgestürzte Wagen, über verrutschte Schwellen, vorbei an Häusern, die aussahen, als hätten sie sich im Schlaf auf die Seite gedreht. Je weiter er von der Siedlungen in Richtung Einschlag ging, desto deutlicher zeichnete sich die Ordnung der Verwüstung ab. Am Anfang lagen Dinge, die nicht dorthin gehörten: Bäume, die der Aufschlag aus dem Boden gerissen und wie Speere in fremden Feldern stecken lassen. Steine, die aus tiefem Erdreich stammen, sind jetzt in den Gräben der Viehweiden verkeilt. Dachschindeln von Hausdächern, die in Hecken hingen wie seltsame Früchte. Es war, als hätte eine gewaltige Hand einmal durch Moonglow gefegt und alles fortgeworfen, was sie greifen konnte.

Er blieb stehen, zog ein Bündel Pergamente aus dem Mantel und ein Stück Kohle, die er am Rand einer Feuerschale gefunden hatte. Mit zittriger Schrift setzte er Zeichen, hielt fest, was er sah, und was ihm durch den Kopf schoss: “Randzone - Trümmerkegel nimmt zu. Bäume wie Flugpfeile. Steine warm. Luft bitter.” Dann, darunter, eine Frage, die ihm nicht aus dem Sinn wollte: “Bin ich allein mit diesem Schmerz? Oder trägt ihn jeder?” Er hob den Blick. Niemand ging neben ihm. Niemand antwortete.

Abseits regte sich doch Leben. Auf Höfen wühlten Hände in nassem Stroh, suchten Angehörige. Auf einer Mauer saß eine Frau und hielt etwas im Schoß, etwas, das eingeschlagen in eine Decke gewesen ist. Sie wiegte sich vor und zurück wie ein Baum im Wind, ein Baum, welcher keinen Frühling mehr erleben wird. Hinter einer Tür, deren Rahmen aus dem Mauerwerk sprang, schob jemand Kisten übereinander, um die Dinge der Welt wieder in eine Ordnung zu zwingen. Und manche Fensterläden blieben geschlossen, als hätten die, die dahinter saßen, beschlossen, sich der Welt nicht mehr zu öffnen, bis sie wieder eine andere wäre.

Der Magier ging weiter. Er versuchte, ein kleines Licht zu rufen, nur eine schmale Flamme für die Schatten unter einem umgestürzten Stamm. Ein Zauber, der ihm früher wie ein Seufzer gelang. Jetzt kam er schwer. Er fühlte, wie etwas in ihm zog, nicht nach außen, sondern bergab, in einen Schacht ohne Boden. Das Licht flackerte, als läge es in einer zugigen Kammer, und er brach ab. Die Flamme starb. Zurück blieb ein Ziehen im Innern, das sich anfühlte, als hätte er eine Schuld gemacht, die keiner eintreiben und doch niemand erlassen würde.

Er schrieb: “Nachtsicht, Erster Zirkel misslingt - Kosten unverhältnismäßig. Mana fließt nicht, es rinnt." Ein weiterer Stich in die Stirn zwang ihn fast in die Knie. Er wartete, bis der Schmerz nachließ. Dann ging er weiter.

Der Boden veränderte sich. Erst trat er auf Erde, die nur durcheinandergebracht war, dann auf Erde, die aufgerissen war, zuletzt auf Erde, die nicht mehr wie Erde aussah. Je näher er dem Einschlag kam, desto weniger fand sich die geworfene Erde wieder, stattdessen wirkte die Erde verbrannt. Gras wurde zu schwarzer Haut, die unter den Stiefeln knisterte. Wurzeln waren zu Kohleschnüren geschrumpft, die bei Berührung zerfielen. Flache Mulden zeigten glasige Ränder, als hätte jemand flüssigen Sand in die Landschaft gegossen und ihn singen lassen, bis er hart wurde. Die Luft war hier wärmer, nicht wie die Hitze von Feuer, sondern wie das Nachglühen von Lava, die lange ruhte und doch noch Erinnerung speichert.

Während seiner Schritte durch diese Landschaft begann in seinem Kopf etwas Neues zu entstehen. Nicht die alte, feine Karte der Knoten und Wege, an die er die Finger seiner Gedanken legen konnte - diese war fort, ausradiert oder übertüncht. Stattdessen war da ein anderer Eindruck, schwach, fremd, doch stetig stärker mit jedem Schritt. Es lag dort, wo früher die Flüsse der Kraft hörbar waren, aber es war kein Fluss. Es war eher ein Strömen - eine Sturmflut, der die alten Betten kannte und sie doch anders füllte. Wie ein ausgetrockneter Bachlauf, der nach einem Gewitter wieder Wasser führt, nur dass das Wasser trüb war, von Schutt schwer, und der Lauf sich weigerte, die alte Musik zu spielen. Es rauschte, aber falsch, es folgte, aber widerwillig. Und es nahm mit, was an den Rändern lag: Splitter, Staub, Erinnerungen.

Er blieb stehen, schrieb: “Etwas bewegt sich in den alten Bahnen des Gewebes”. Dann setzte er den Stift an die Frage, die ihn quälte: “Betrifft es nur mich?”. Er strich sie durch, schrieb neu: “Betrifft es alle?”. Wieder strich er, als könne er so eine Antwort erzwingen.

Seine Schritte wurden unsicher. Mut und Interesse hoben ihn voran, plötzlich brach Weh in ihm, Beklemmung, als hielte er auf ein Tor zu, hinter dem etwas wartete, das seinen Namen kannte. Er dachte daran, umzudrehen, nur kurz. Doch der Vertraute, der ihm fehlte - der Zugang zur Magie, mit dessen Logik - war fort. Also ging er allein.

Der Wind brachte einen anderen Laut mit sich, ein dünnes Pfeifen, das näher am Zahn lag als am Ohr. Er erinnerte sich schlagartig an jene Nacht: das Pfeifen, das Brodeln, den dumpfen Wumms. Hier war es, als hätte der letzte Ton sich in die Luft geritzt und weigerte sich zu vergehen. Bei jedem Atemzug fühlte er den Staub der Insel auf der Zunge.

Schließlich sah er den Rand. Nicht abrupt, sondern als Schattenkantung im Licht, ein dunkler Halbkreis, hinter dem das Land tiefer wurde. Er trat näher. Vor ihm klaffte der Krater, groß und schwarz, sein Inneres, ein Geflecht einer obskuren Darstellung. Als hätte man in einem kleinen Dschungel viele Findlinge verloren. Die Farben der Pflanzen, welche dort nicht sein sollten, sowie der Findlinge und Stein wirkten, als sei einem untalentierten Jüngling die halbe Farbpalette über dein Portrait gelaufen. Alles zeichnete sich in den Farben von Grün, Blau, Rot, Lila und Violett ab. Die Luft flimmerte von meiner Macht, einer unbekannten Macht. Aus der Tiefe stieg keine Hitze, sondern ein gleichmäßiges, stumpfes Pochen - nicht in der Luft, sondern in ihm. Er wusste, es kam von dort, wo der vierte Stern lag, und wusste zugleich, dass es nicht von dort kommen konnte.

Er kniete, fuhr mit der Kohle über das Pergament, die Schrift schlug aus in kleinen Haken, weil die Finger zitterten: “Einschlagzone - Boden verglast, organisches Material verkohlt. Geräusch: innen. Wahrnehmung: wie Fluss, aber nicht Wasser. Eher: Öl in altem Flussbett. Widerstand beim Zaubern. Verlustgefühl gleichbleibend. Fremdpräsenz wächst mit Nähe.”

Er hob den Kopf und lauschte. Nichts rührte sich, außer dem, was in ihm rührte. In der Tiefe glomm kein Licht. Und doch hatte er das sichere Gefühl, dass etwas dort unten seine Wege nahm - nicht neu erfunden, sondern gefunden, alte Pfade zu nutzen, wie eine austrockenten Bauchlauf zu füllen. Er versuchte mit seinem Verstand, einen Faden zu fassen, nur einen einzigen, wie man eine gespannte Saite anreißt, um zu hören, ob sie noch trägt. Ein kalter Ruck fuhr ihm durch seinen Verstand hinauf. Die Saite vibrierte, doch der Klang war nicht der bekannte. Er ließ los, keuchend.
Auf dem Pergament schrieb er den letzten Satz dieses Morgens, langsam, als hätte jedes Wort Gewicht: “Es ist nicht unsere Magie. Aber es kennt ihre Wege.”

Er legte die Kohle weg. Am Rand des Kraters sitzend, die Knie angezogen, wartete er, bis der Schmerz in der Stirn sich in etwas Verwandelte, das er sitzen lassen konnte. Der Tag über ihm blieb grau. Der Wind trug ein paar Flocken Asche heran, die auf seinem Mantel verharrten und dunkle Flecken hinterließen. Und während er dort saß - der erste am Ort, wo die Welt sich vergaß - wusste er, dass der Morgen nicht der Anfang von etwas war, sondern das Echo eines Endes. Doch Echo bedeutet Antwort. Und Antworten, so schrieb er später auf das Pergament, haben die Eigenschaft, Fragen anzulocken.

⊱⋅ ───────── ༻ ༺ ───────── ⋅⊰


Bild