Am zweiten Tag dröhnte ihm die Stirn noch, doch der Schmerz trug bereits eine andere Farbe - nicht mehr schneidend, sondern dumpf, wie ein alter Zahn, der in feuchtem Wetter pocht. Am Rand des Kraters lag die Asche wie eine feine Schicht aus Staub. Er bemerkte zum ersten Mal den Schimmer. Es war kein Regenbogen. Eher ein begrenzter Glanz, der in Steinen und Pflanzenteilen flackerte, wie das dünne Farbspiel auf der Haut einer Seifenblase - nur, dass die Welt die meisten Farben verschluckt hatte. Was blieb, war ein kurzes Flimmern in Grün und Blau, ein Aufblitzen von Rot, ein langer, sachter Atemzug in Purpur und Violett. Wenn die aufgehende Sonne den Winkel traf, liefen diese Töne über die Oberflächen, als wüssten sie eine Reihenfolge, die nur dem Ort oblag.
Er schrieb mit Kohle auf ein zerknicktes Pergament:
“Glanz nicht atmosphärisch. In Materie gebunden. Spektrum schmal: Grün–Blau–Rot–Lila/Violett. Keine Ordnung wie ein Regenbogen - eher sprunghaft.”
Darunter: “Faszination hält an - ungebührlich für einen Gelehrten.”
Darauf folgend in kleiner Schrift, welche mit Scham behaftet ist: “Angst bleibt.”
Er versuchte abermals einen leichten Zauber, ein Versuch, kaum mehr als Denken mit den Händen. Er fühlte wieder den Zug bergab, wie in einem Schacht ohne Boden. Mit seinem Geist konnte er etwas fassen, doch die Resonanz war fremd. Er brach ab, bevor die Mattigkeit zur Übelkeit wurde.
An seinem dritten Tag auf dem Weg zum Krater fand er seine eigenen Markierungen, welche er am ersten und zweiten Besuch aufgestellt hatte. Ein mit Kohle gezogener Strich auf verglastem Sand, drei in den Boden gesteckte Holzpflöcke, ein gestapelter Haufen aus faustgroßen Steinen. Er nahm an diesem Tag Veränderungen wahr. Der Strich hatte feine Ausfransungen bekommen, als hätte jemand mit einer Nadel darin herumgestochen. Die Pflöcke berührten sich mit ihren Enden. Im Holz schimmerten die bekannten Töne, kaum sichtbar, als bestünden die Jahresringe aus dünnem Öl. Die Anhäufung aus Steinen vibrierte fast unmerklich, als wenn der Wind diese in Unruhe brachte, ohne dass etwas rollte.
Er notierte für sich:
“Veränderung mit und ohne Bewegung. Gleiche Lage, andere Beschaffenheit.
Die Dinge werden manchmal versetzt, manchmal nicht - sie werden mindestens umgelenkt.”
Er hockte am Rand des Kraters, nahm seinen Stab auf die Knie. Was früher seine innere Karte gewesen war: die Knoten des Gewebes, die Punkte in diesem sowie die Wege dazwischen - blieb eine weiße Fläche. Doch in der Leere wuchs etwas an: Erst wie Hauptstränge einer Spinne, grob gezogene Linien, die in die vertrauten Rinnen fielen. Worauf feinere Verzweigungen folgten, sodass es nicht nur lose Fäden und Linien waren, sondern ein Netz, welches trug.
Notat für sich selbst: “Neue Verästelung in alten Bahnen. Widerstand beim Wirken konstant.”
Dann, ein Strich darunter: “Es füllt keinen Raum - es zeichnet Raum nach.”
Der Schmerz am fünften Tag war jetzt Gewohnheit, ein dunkler Grundton. Unheimlich daran: Man begann, ihn nicht mehr zu prüfen. Stattdessen prüfte er die Insel.
Je weiter er sich von der Einschlagstelle entfernte, desto deutlicher blieb nur das Geworfene: Bäume, Steine und die daraus resultierende Verwüstung. Je näher er dem Krater kam, desto mehr verschwand die zufällige Verwüstung zugunsten eines Musters: Gras, das wie schwarzer Wolle wirkte; Wurzeln, die zu Kohleschnüren wurden, Sand, der in der Sonne glitzerte, da er zu Glas geworden war. Und auf dem Glas der feine Schimmer aus Grün, Blau, Rot, Violett, als hätte die Hitze selbst eine Farbe erzeugt.
Er legte Pergamente übereinander, Striche für Ströme, Punkte für Verdichtungen. Zwischen den Lagen sah er, was die Tage brachten: Ein Geflecht, das wuchs wie Moos über Stein. Nicht undurchsichtig, sondern wie ein hauchdünner Überzug, der Dinge einschließt und anderes abwehrt. Er spürte die Kuppel, die keine war. Vögel flogen durch dieses Konstrukt, als sei es nicht vorhanden.
Notat: “Kuppelgefühl über Moonglow - nur im Gespür. Kein Windbruch. Keine Lichtbrechung.”
Er fügte dem Pergament hinzu: “Arbeitsthese: ESSENZ. Die ESSENZ nimmt weitere Bahnen ein. Kein Sturm, nur beständiges Wuchern.”
Er setzte sich und hielt die Kohle länger als gewöhnlich in der Hand, ohne zu schreiben. Die Frage kehrte zurück. Die, die er am ersten Morgen gestellt hatte. “Bin ich allein mit diesem Schmerz? Oder trägt ihn jeder?” Er hob seinen Blick und sah in die Ferne, als würde er sich in dieser verlieren.
Am siebten Tag brachte er sich eine Schale mit. In diese Schale ließ er etwas Wasser aus seinem Trinkbeutel, streute Asche hinein und sprach die alte Formel, die Strömungen sichtbar machen sollte. Ein trivialer Kunstgriff, früher war dies eine Übung für angehende Schüler. Das Wasser tat, was Wasser tut - es blieb sich treu. Dann, langsam, legte sich darauf ein feines Zittern, das nichts mit Wind zu tun hatte. Die Asche begann, Fäden zu zeichnen, nicht im Kreis, sondern in langen, krummen Linien, die über den Rand hinauswollten. Wo die Fäden die Schale berührten, blieb ein Schimmer zurück, so schwach, dass man ihn nur sah, wenn man nicht hinschaute.
Rasch erstellte er eine Notiz: “Alte Sensorik greift - aber zeigt Neues. Die ESSENZ folgt bekannten Betten, zielt jedoch weiter, als ginge die Insel in einen größeren Körper über. Grenzen der Insel im Gespür nicht deckungsgleich mit Grenzen des Landes.”
Er versuchte eine Fixierung. Er zeichnete drei Runen in den Staub und legte einen Stein in die Mitte. Mit seinem Sinn für Magie tastete er nach dem Stein, um diesen mit den Runen zu verbinden. Früher blieb der Stein leicht schwebend über dem Boden, je nach Vorbereitung und Sorgfältigkeit über mehrere Tage. Jetzt hielt es, solange er atmete - beim Ausatmen löste es sich, als wolle die Welt keine Knoten mehr dulden, der nicht von ihr ausging. Es blieb die Empfindung von Öl, das man mit Wasser zu binden versucht - ein kurzer Frieden, dann Trennung.
Am zehnten Tag waren die Farben im Krater nicht mehr nur im Stein. Zwischen schwarzen Schalen sprießten dünne Halme - keine Farbe an sich, doch an ihren Rändern lief derselbe Glanz, der die Steine zeichnete. Er mochte nicht von Leben sprechen; das Wort fühlte sich zu groß an. Aber es war ein Werden.
Er schrieb:
“Sprosse. Kein Blattgrün—Randglanz. Trägt das Neue die Haut der Dinge zuerst?”
“Ähnlichkeit mit Myzel. Erst dicke Stränge, dann feines Netz. Raum wird nicht gefüllt, sondern überspannt.”
Als die Dämmerung kam, flackerte es. Nicht Licht, nicht Feuer. Ein Atemzug von Violett, als hauche der Boden an schmalen Stellen die Farbe aus, die er bewahrt hatte. Es verschwand, sobald er sich darauf konzentrierte. Erst, als er in die Ferne blickte, sah er es wieder - ein Randspiel, ein Saum.
Er murmelte eine Silbe, die den Körper erleichtern sollte, und fühlte wieder den Verlust wie eine Lücke im Gebiss: Der Partner fehlte. Die Hilfe blieb versagt. Doch der Widerstand hatte sich verändert. Es war nicht mehr nur Leere - etwas sah zurück.
Der vierzehnte Tag sollte genutzt werden, um die Zeit in Herzschlägen und die Veränderung in Atemzügen festzuhalten. Die Kuppel um die Insel Moonglow war jetzt ein ständiges Gefühl. An ihren Rändern, so schien es, lagen dünne, blanke Kanten in der Luft, messerscharf im Gespür und doch ohne Schnitt. Ein Mann aus der Stadt erzählte ihm am Wegesrand in die Stadt, er habe ein Netz gesehen, wenn er die Augen halb schließe. Der Magier probierte es und sah: nichts. Dennoch glaubte er es dem Mann, weil seine Haut bei den Worten Gänsehaut zeigte.
Er legte die Pergamente des ersten Tages neben die des heutigen. Da war das Bild einer Spinne: Hauptstränge, sternförmig vom Krater aus. Und dann das Bild einer Wurzel: ein einziger, tieferer Zug, der unter allem hindurchging. Dazwischen das Moos: flächig, geduldig, unaufhaltsam.
Notat: “Drei Bewegungen: Spinne (Struktur), Wurzel (Tiefe), Moos (Fläche). Alle drei sind ESSENZ. Keine ist Magie, wie wir sie kennen. Aber alle gehen in ihren Betten.
Zauber: gelingen in Fragmenten, kosten mehr. Nicht nur Kraftverlust.”
Er setzte einen letzten Satz, groß, damit er ihn nicht wieder übersehe:
“Es imitiert erst - und ersetzt dann.”
Die Insel begann sich neu zu ordnen. Nach einundzwanzig Tagen war dies mehr als spürbar. Man spannte Taue, um Wege zu markieren, die nicht über verglaste Mulden führten; man errichtete kleine Steinhaufen, die im Schimmer „antworteten“, wenn der Wind sie berührte. In der Nacht hörte man gelegentlich ein kurzes, tiefes Pochen, das nicht aus der Erde kam und doch alle Wände entlangging.
Der Magier schlief schlecht. Wenn er am Krater saß, wurde das Dröhnen in der Stirn zu einem Gespräch ohne Worte. Er hielt den Stab, sprach keine Silbe, und manchmal hatte er die sichere, unvernünftige Empfindung, als beobachte ihn etwas nicht aus der Tiefe, sondern zwischen den alten Wegen selbst, dort, wo einst die Fäden liefen.
Er legte die Kohle noch einmal an:
“ESSENZ nimmt Moonglow für sich. Nicht stürmisch. Unaufhörlich. Wie Tau, der bleibt. Die Insel ist kein Ort mehr—sie ist ein Organ.”
Er blies den Kohlenstaub von der Schrift, sah zu, wie der Staub sich in der Luft zerteilte. Dann packte er die Pergamente zusammen. Morgen würde er wiederkommen, nicht aus Hoffnung, sondern aus Pflicht: Jemand musste zählen, wie der Atem jetzt ging. Und während er den Rand des Kraters verließ, wusste er, dass das Eigentliche noch nicht begonnen hatte. Die Welt hatte nur gelernt, wie man das Neue einatmet - und das Neue hatte erst gelernt, wo die Lungen liegen.
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