Moonglow.
Eine Stadt, die nach Alchemie und Menschen roch. Zu hell, zu offen, zu lebendig.
Und doch war sie nun hier – eingepfercht in das obere Zimmer einer Schmiede, die nach Öl, Schweiß und Eisen stank. Die Mauern waren fleckig, das Bett ein notdürftig gezimmertes Gestell. Kein Marmor, keine Fackeln, keine Gebete. Nur das beständige Hämmern von Lyr’sas Werkzeug unten, das selbst in der Nacht nicht ganz verstummte.
Jhea’kryna hatte nicht geschlafen. Seit Tagen nicht.
Vielleicht seit Wochen.
Sie sah hinaus auf den Hafen – auf die Linien der Schiffe, die am Dock ruhten, wie riesige Tiere, die ihre Flossen im Wasser streckten. Und in den Reflexionen der Lichter glaubte sie manchmal, die Umrisse von Elashinn zu sehen – jene uralte Stadt, die nun nur noch Asche und Erinnerung war.
Die Flucht war kein geplanter Rückzug gewesen. Es war Chaos. Feuer. Schreie, die von den Gewölben hallten.
Sie erinnerte sich an den Moment, als die Decke über dem Thronsaal brach, als Licht vom Himmel fiel und alles zerschmolz, was sie einst besessen hatte. Sie erinnerte sich an die Hitze, an das Heulen der Spinnen, an die Priesterinnen, die beteten und in Flammen aufgingen.
Und sie erinnerte sich an das Gefühl der Schwäche – etwas, das sie nie wieder spüren wollte.
Man hatte sie zur Flucht gezwungen.
Ly’saar hatte sie gepackt, als sie noch versuchte, das Artefakt aus der Sakristei zu retten.
Sorn hatte den Rückzug gedeckt, brennend, wütend, halbwahnsinnig vor Schmerz.
Und Lyr’sa – die Handwerkerin mit dem Ruß im Gesicht – hatte den Weg durch den Tunnel geöffnet, den niemand außer ihr kannte.
Es war kein Triumph gewesen, als sie die Oberfläche erreichten.
Kein Sieg, keine Rettung. Nur das nackte Überleben.
Sie hatte den Himmel gesehen – das erste Mal seit Jahrhunderten.
Ein Meer aus blutigen Sternen.
Und sie hatte geweint, ohne zu verstehen warum.
Nun, Wochen später, spürte sie diesen Moment immer noch in ihren Knochen.
Er hatte sie verändert. Alles hatte sich verändert.
Elashinn war nicht nur gefallen. Es war ausgelöscht – als hätte Lloth selbst den Faden durchschnitten, der sie mit der Welt verband.
Sie wandte sich vom Fenster ab. Der Raum war dunkel, doch in den Schatten konnte sie die Silhouetten der Dinge erkennen, die sie mitgenommen hatte: eine kleine Statue Lloths, halb geschmolzen; ein Fragment eines Banners; der goldene Griff ihrer Peitsche, den sie noch immer nicht berührt hatte.
Das Feuer unten in der Schmiede flackerte kurz auf, warf zitternde Linien über die Wände. Sie hatte Lyr’sa verboten, über sie zu sprechen. Verboten, sie anzusehen, wenn sie den Raum betrat. Niemand durfte sehen, wie tief der Riss wirklich ging.
Denn wenn eine Ilharess bricht, dann stürzt alles mit ihr. Und doch… sie fühlte, dass sie längst gebrochen war.
Nicht in einem lauten, sichtbaren Sinn. Sondern still. Von innen her. Wie Metall, das zu oft im Feuer lag, bis es Haarrisse bekam, unsichtbar, tödlich.
Ihre Finger strichen über die Peitsche. Kalt.
Ein Werkzeug der Macht – und jetzt nur noch ein Relikt aus einer anderen Zeit.
Wie viele hatte sie damit bestraft? Wie oft hatte sie Ordnung in das Chaos gezwungen – und geglaubt, es wäre Stärke?
Es war nie Stärke gewesen. Nur Kontrolle. Und Kontrolle war die Schwester der Angst.
Jhea’kryna sank auf den kleinen Schemel vor dem provisorischen Altar.
Sie hatte ihn selbst aufgebaut, aus geborstenen Ziegeln und Resten eines Ambosses.
Oben thronte Lloths Statue – der halbe Kopf fehlte. Die Göttin sah sie nicht mehr an.
„Malla Ilharess“, flüsterte sie zu sich selbst, als würde sie prüfen, ob der Titel noch Gewicht hatte.
Er hatte es nicht. Nicht hier. Nicht zwischen den Menschen, die über die Straße gingen und sie nicht einmal beachteten.
Ihr Reich war fort. Ihr Volk war auf der Flucht.
Selbst ihre Göttin schwieg.
Sie erinnerte sich an die Gesichter derer, die sie verloren hatte – Priesterinnen, Soldaten, Sklaven.
Sarkul, mit dem gespaltenen Schild. Dhaunae, die Tochter, die noch an der Oberfläche kämpfte, als der Boden brach.
Vielleicht lebte sie. Vielleicht nicht. Jhea’kryna hatte aufgehört, das Schicksal zu fragen.
Draußen rief eine Möwe. Ein Geräusch, das ihr fremd war. Sie hob den Kopf, lauschte. Ein weiteres Zeichen, dass sie zu weit fort war. Zu weit von dem, was sie kannte.
Im Hintergrund klirrte Metall – Lyr’sa arbeitete weiter, rastlos wie immer. Jhea konnte die Muster ihrer Schläge unterscheiden.
Zwei schnelle, ein Zögern, dann wieder drei. Immer dieselbe Unruhe, derselbe Versuch, in Bewegung zu vergessen.
Vielleicht waren sie sich ähnlicher, als Jhea zugeben wollte.
Ein Teil von ihr hasste diesen Ort. Die Enge. Den Gestank. Die Unvollkommenheit. Und doch war hier alles, was blieb.
Sie legte die Hand auf den Tisch, spürte das kalte Eisen, das Lyr’sa für sie zurechtgelegt hatte – ein Stück ungeschliffenes Metall, das zu einer neuen Klinge werden sollte.
Noch war es roh, unförmig. Wie sie.
Ein tiefer Atemzug. Dann ein weiterer. Sie schloss die Augen und ließ die Dunkelheit kommen.
In ihr hörte sie noch immer das Dröhnen von Elashinns Untergang. Das Feuer, das Bersteb der Steine, das Kreischen der Magie, als sie zerriss.
Und irgendwo dazwischen – ein Klang, den sie nicht vergessen konnte: das Spannen eines Fadens.
Es hallte nach, tief, wie ein Ton, den nur ihre Seele hören konnte.
Sie öffnete die Augen, und die Welt schien für einen Moment still zu stehen.
Das Licht der Esse unten erlosch, als hätte jemand den Atem angehalten.
Der Wind am Hafen legte sich.
Und über den Rauch der Stadt hinaus spannte sich etwas – unsichtbar, aber fühlbar – wie ein Netz.
Es bebte, vibrierte, flackerte in der Luft.
Und dann …
… begann das Zittern.
Zuerst leise, kaum mehr als ein Vibrieren unter der Haut. Dann stärker, bis sich das ganze Gemäuer der Schmiede anfühlte, als würde es atmen. Jhea’kryna hob den Kopf, die Augen halb geschlossen. Das Licht hatte sich verändert – kein warmes Glühen der Esse, sondern ein kaltes, silbernes Leuchten, das sich über die Wände legte, als wäre Mondlicht durch eine Unterwasserwelt gefallen.
Der Stoffvorhang am Fenster bewegte sich nicht. Kein Wind. Kein Laut.
Nur das Pochen – ihr Herz, oder etwas anderes.
Dann spannte sich etwas vor ihr: ein feines Schimmern, kaum sichtbar, aber von einer unnatürlichen Präzision. Linien, die nicht aus Stoff bestanden, sondern aus purem Schatten. Sie zogen sich kreuzweise durch die Luft, webten ein Muster, das zu leben schien. Ein Netz – unendlich, über ihr, um sie, durch sie hindurch. Jeder Faden pulsierte, als wäre er ein Nerv der Welt selbst.
Sie wollte sich bewegen, konnte es nicht. Das Licht hielt sie fest, und sie spürte, wie die Dunkelheit antwortete.
Ein Faden zuckte. Dann noch einer. Etwas riss.
Ein Laut, wie das Aufreißen von Seide, hallte durch ihre Gedanken – so scharf, dass sie glaubte, die Splitter zu schmecken. Der Schmerz war nicht körperlich, sondern existenziell. Als würde ein Teil von ihr selbst zerreißen.
Und dann hörte sie es.
Eine Stimme, kaum mehr als ein Hauch.
Kalt. Nah.
„Die Spinne ist selbst gefangen.“
Jhea’kryna versuchte zu antworten, doch kein Laut verließ ihre Lippen. Ihre Finger zuckten, als wollten sie Fäden greifen, die nicht da waren.
Unter ihren Füßen öffnete sich der Boden – kein Stein, keine Erde, sondern endlose Fäden, die ins Leere führten. Sie stand auf dem Gewebe der Welt, und es war brüchig.
Unter ihr glomm kaltes Licht, das in Tropfen aus der Finsternis fiel wie Quecksilber. Jeder Tropfen brannte in ihrem Blick, spiegelte Gesichter – tote Priesterinnen, zerschlagene Hallen, Lloths zerrissene Statue.
Dann der Schrei.
Er war nicht von dieser Welt.
Er war alt, uralt, und kam aus einem Ort jenseits der Zeit.
Jhea’kryna erkannte ihn – die Wut, die Verzweiflung, das göttliche Entsetzen. Lloths Stimme. Ein Klang, der Berge hätte zerschmelzen lassen können – und doch endete er abrupt, verschluckt von der Finsternis, als wäre selbst die Göttin erstickt.
Das Netz sackte in sich zusammen.
Und Jhea fiel.
Kein Sturz – ein Gleiten, lautlos, endlos, durch Ebenen aus Licht und Leere. Sie sah Sterne, die erloschen. Sie sah Schatten, die zuckten, als wollten sie sich erinnern, wer sie einmal waren. Und sie verstand: Nichts war sicher. Kein Glaube, keine Macht, kein Name. Alles war nur ein Muster – und das Muster begann, sich selbst zu verzehren.
Dann, in der Ferne, ein Donnern.
Ein Lichtblitz, so hell, dass er die Dunkelheit zerschnitt.
Ein Meteoreinschlag. Sie sah ihn nicht, aber sie fühlte ihn – in jedem Knochen, in jedem Atemzug.
Die Schockwellen rollten durch sie hindurch, als würde die Welt selbst ihren Körper durchdringen.
Etwas in ihr wollte schreien – doch sie stand wieder in der Schmiede.
Der Boden war fest. Der Vorhang bewegte sich. Das Feuer unten flackerte.
Alles war still.
Nur ihr Atem ging schwer, stoßweise.
Sie spürte, wie Schweiß an ihrem Rücken klebte, wie das Herz raste. Die Finger bebten, und in der Luft, dort wo das silberne Netz gewesen war, schwebten noch winzige Fäden aus kaltem Licht.
Sie lösten sich auf, einer nach dem anderen, bis nichts blieb.
Sie sah nur Bruchteile – das Glitzern eines Chitinschildes, die Silhouette einer gewaltigen Spinnenform, die sich gegen ihre eigenen Fäden wand.
Jedes Zucken ließ das Netz beben, jeder Versuch zu entkommen riss es weiter auf.
Die Göttin kämpfte – und die Welt kämpfte mit ihr.
Jhea’kryna sank auf die Knie.
Nicht aus Schwäche, sondern weil etwas in ihr erschüttert war, zu tief, um zu stehen.
Sie wusste nicht, wie lange sie so verharrte – Minuten, Stunden vielleicht.
Ein Schrei hallte auf.
Nicht von Schmerz, sondern von Zorn.
Ein Klang, der in jedem Stern widerhallte, bis selbst der Himmel schwieg.
Dann Stille.
Eine Stille, so vollkommen, dass sie weh tat.
„Malla Lloth…“ flüsterte sie, „wenn du gefangen bist, dann werde ich dich finden.“
Die Worte kamen von selbst, aus einem Ort, der älter war als Sprache.
Sie sah sich selbst inmitten der Dunkelheit – klein, unbedeutend, und doch war da etwas, das sie hielt. Kein Glaube, kein Gebet, sondern eine Verbindung.
Sie spürte, wie die Fäden unter ihren Händen pulsierten, sich in ihre Haut schnitten, als wollten sie sie prüfen, kosten, erkennen.
„Ich bin dein Werkzeug,“ hauchte sie, „nicht dein Ersatz.“
Ein weiterer Faden riss. Sie schrie, diesmal laut, das Echo hallte zwischen den Mauern der Schmiede wider. Und dann, als ob die Welt reagierte, verdichtete sich das Licht.
Bilder durchzuckten ihren Geist – Erinnerung, Vergangenheit, Zukünftiges.
Elashinn, brennend. Ihre Töchter, kniend. Ly’saar, schweigend.
Lyr’sa, mit Ruß im Gesicht und Angst in den Augen.
Alles war verbunden. Alles war Faden.
Sie sah, wie das Netz über Moonglow gespannt war, über den Himmel, über das Meer, über jedes Herz.
Ein endloses Muster, das zitterte und schwieg. Und sie wusste: Wenn niemand handelt, wird es zerfallen.
Wenn niemand webt, bleibt nichts.
Nicht um ihre eigene Macht zu sichern – sondern, um die Göttin zu erlösen.
Ein Entschluss legte sich wie kalte Glut in ihr Herz.
Sie richtete sich auf, langsam, zitternd, aber mit neuem Blick.
Das Leuchten der Fäden verblasste, doch sie sah sie noch – wie Schatten in der Luft, wie Narben im Raum.
„Ich habe dich gesehen,“ flüsterte sie in die Stille. „Ich habe gesehen, was dich hält.“
Ihre Stimme war heiser, doch sie bebte vor Leben.
„Wenn das Netz dich bindet, dann soll mein Blut es lösen.“
Sie hob die Hand, betrachtete sie im matten Schein der Esse.
Noch immer war dort dieses schwache, silberne Flimmern – Fäden, die unter ihrer Haut pulsierten.
Sie verstand: die Vision hatte sie berührt.
Ein Teil davon war nun in ihr.
Sie ballte die Faust.
„Ich werde dich nicht vergessen. Nicht ruhen, bis du frei bist.“
Ein Windstoß fuhr durch das zerbrochene Fenster. Der Vorhang blähte sich, und für einen Moment meinte sie, in seinem Faltenwurf das Muster des Netzes wiederzuerkennen.
Dann fiel ihr Blick auf Lloths Statue – halb geschmolzen, der Kopf geborsten.
Jhea trat näher, legte die Hand auf die kalte Oberfläche. „Du hast mich geführt, als ich blind war,“ flüsterte sie. „Nun soll ich sehen, während du blind bist.“
Sie senkte das Haupt. Nicht als Unterwerfung, sondern als Schwur.
Dann begann sie zu sprechen – keine Worte, sondern Silben aus uralter Sprache, Reste einer Litanei, die selbst in Elashinn kaum noch einer kannte.
Es war kein Gebet. Es war ein Rufen. Ein Lockruf aus Fäden, Klang und Wille.
Die Luft begann zu flirren. Ein Tropfen fiel von der Decke und zersprang auf dem Boden. Dann ein zweiter. Regen.
Draußen zog Sturm auf.
Jhea’kryna stand aufrecht vor der Statue, das Gesicht zum Himmel gewandt, und in ihrem Blick lag etwas Neues:
nicht Verzweiflung, nicht Trotz – sondern stille Gewissheit.
„Ich bin dein Werkzeug, Lloth. Ich bin dein Messer, dein Schatten, dein Weg zurück.“
Ein ferner Donner rollte über Moonglow, und im Feuer der Esse zuckte kurz ein Schatten über die Wand – die Silhouette einer Spinne.
Dann erlosch das Licht.
Nur das Pochen ihres Herzens blieb, gleichmäßig, unbeirrbar – wie der Anfang eines Gebets, das erst jetzt geboren wurde.
