In diesem Moment des Innehaltens, der reinen, ungefilterten Zuneigung, schlug die Vision zu.
Sie saß nicht mehr im Wald. Ein silberner Mond hing über einem stillen See. Die Wasser waren klar – zu klar.
Unnatürlich glatt. Ihr Spiegelbild blickte zu ihr auf, doch es war nicht ihr Gesicht. Es war eine Maske aus perfekter Trauer.
Das Spiegelbild sang ohne Ton, und Tränen aus reinem, silbernem Licht rannen über seine dunklen Wangen.
Plötzlich, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen, erlosch der Mond.
Die Welt versank in absoluter, erstickender Finsternis. Und die Stille, die zurückblieb, war nicht friedlich.
Es war die Stille eines Grabes.
Eine Stimme, ihre eigene und doch fremd, flüsterte aus der Dunkelheit:
„Selbst die Hoffnung hat aufgehört zu singen.“
Wie auf Befehl welkten die Blumen an dem Seeufer, das sie in ihrer Erinnerung kannte, ihre Farben zerfielen zu Asche.
Das Wasser färbte sich schwarz, wurde zu dickflüssigem Teer.
Etwas in ihr versuchte, den verlorenen Klang zu rufen, nach der Melodie ihrer Göttin zu greifen – doch die Welt antwortete nicht mehr.
Und dann, irgendwo in weiter Ferne, ein dumpfer Widerhall. Ein Meteoreinschlag. Sie sah ihn nicht, aber sie fühlte ihn. Die Schockwellen des Aufpralls rissen durch ihr Innerstes, als sei der Einschlag nicht auf irgendeiner fernen Welt geschehen, sondern direkt in ihrer Seele.
Alniira stolperte rückwärts, zurück in der Realität, stieß fast den Welpen um, der erschrocken zurückwich und leise winselte.
Sie keuchte, ihre Hände zitterten. Das war keine Lektion gewesen. Das war ein Abschied.
Panik, kalt und spitz, bohrte sich in ihr Herz. Sie brauchte eine Bestätigung. Sie musste sie fühlen.Alniira hat geschrieben:Nein...
Sie stieß den Welpen sanft, aber bestimmt beiseite und sprang auf die kleine, freie Fläche vor dem Bau. Mit einer fahrigen, verzweifelten Bewegung zog sie ihr Schwert. Die Mondrunen leuchteten nicht. Sie blieben kalt und tot.
Sie begann zu tanzen. Doch es war nicht der fließende, anmutige Tanz des Glaubens.Alniira hat geschrieben:Mutter? Eilistraee? Ich rufe Euch!
Es war ein zorniger, ein fordernder, ein panischer Tanz. Ihre Bewegungen waren scharfkantig, ihre Hiebe schnitten durch die leere Luft, als würde sie versuchen, einen Schleier zu zerreißen, der sich zwischen sie und ihre Göttin gelegt hatte.
Nichts. Keine Musik. Kein warmes Licht. Kein Echo in ihrer Seele. Nur die kalte, schwere Stille aus der Vision.
Und in dieser Stille erhob eine andere Stimme das Wort. Eine Stimme, die sie kannte, die aber selten so klar zu ihr sprach.
Es war nicht die Göttin. Es war der Wolf.
Das Flüstern kam aus ihrem eigenen Mund, war aber nicht ihre Stimme. Es war ein tiefes, raues Grollen, das mehr gefühlt als gehört wurde.Der Wolf hat geschrieben:...Es ist still.
Alniira wirbelte herum, das Schwert in Abwehrhaltung gegen einen Feind, den sie nicht sehen konnte.
Alniira hat geschrieben:Wo ist sie? Ich spüre sie nicht! Die Musik ist fort!
Der Tanz wurde langsamer, unsicherer. Ihre Panik wich einer tieferen, existenziellen Furcht.Der Wolf hat geschrieben:Gut. Es war nur Lärm. Jetzt ist es still. Nur wir.
Alniira hat geschrieben:Verstummt... Was ist, wenn alle Götter verstummt sind? Nicht nur sie... sondern alle? Auch die Dunkelheit?
Alniira blieb stehen, das Schwert sank herab, die Spitze zitterte knapp über dem Moos.Der Wolf hat geschrieben:Endlich. Die Spinne in ihrem Netz. Der Tyrann auf seinem Thron. Alle still. Alle fort. Die Ketten sind zerbrochen, kleine Drow. Wir sind frei.
Tränen traten ihr in die Augen, aber es waren nicht die Tränen aus Licht aus der Vision. Es waren heiße, reale Tränen der Trauer.
Der Wolf lachte. Es war kein fröhliches Geräusch, sondern das trockene Knacken von fallenden Ästen.Alniira hat geschrieben:Frei? Siehst du nicht, was das bedeutet? Meine Brüder und Schwestern... jene, die ihr Licht suchen... sie sind nun allein in der Dunkelheit.
Die Drow... sie werden sich ohne Lloths Peitsche selbst zerfleischen. Die Menschen... sie sind nicht bereit für eine Welt ohne Götter!
Der Wolf hat geschrieben:Bereit? Sie waren nie bereit. Sie haben nur ihre Meister gewechselt. Vom Jäger zur Göttin. Von der Kette zum Glauben. Es war immer ein Käfig. Jetzt ist der Käfig offen. Jetzt gibt es nur noch den Wald. Und die Jagd.
Sie ließ ihr Schwert fallen. Es landete mit einem dumpfen, unzeremoniellen Geräusch im weichen Boden.Alniira hat geschrieben:Das ist grausam. Das ist pures Chaos. Das ist nicht Freiheit, das ist Verzweiflung.
Alniira sank auf die Knie, die Hände in die Erde gekrallt. Der Wolf hatte recht. Sie war am Boden zerstört.Der Wolf hat geschrieben:Nein. Es ist Wahrheit. Arme, kleine Drow. Du hast immer nach Führung gesucht. Erst bei deinen Priesterinnen, dann bei deiner Tänzerin. Du wolltest nie wirklich frei sein. Aber jetzt bist du es. Es gibt keine Götter mehr, die dir den Weg weisen. Es gibt nur uns.
Er sah es als Chance. Sie sah nur das Ende. Und zum ersten Mal in ihrem Leben, seit sie Elashinn verlassen hatte, wusste sie wirklich nicht mehr, was sie tun sollte. Die Führung war fort. Und die Stille, die ihre Göttin hinterlassen hatte, war ohrenbetäubend
Sie verharrte auf den Knien, ihre Finger in die feuchte Erde gekrallt, als wären sie Wurzeln, die verzweifelt nach Halt in einem wegbrechenden Abgrund suchten. Das kalte, tote Schwert lag neben ihr im Moos.
Die Stille, die ihre Göttin hinterlassen hatte, war ohrenbetäubend, ein Vakuum, das drohte, ihre Seele zu zerreißen.
Und in dieses Vakuum hinein sprach der Wolf erneut. Seine Stimme war kein Grollen mehr, sondern das ruhige, unerbittliche Geräusch von Eis, das auf einem gefrorenen See Risse bildet.
Der Wolf hat geschrieben:Du weinst. Du weinst um eine Melodie. Du weinst um ein Echo. Kleine Drow, du hast nie gelernt, die Stille zu hören. Sie ist nicht leer. Sie ist voll. Voll von dem, was wirklich zählt.
Sie hob den Kopf, ihre Tränen hatten Spuren im Schmutz auf ihren Wangen hinterlassen. Ihr Blick war verloren, starrte durch die Bäume hindurch ins Nichts.Alniira hat geschrieben:Was zählt? Was zählt denn in einer Welt ohne Licht? Ohne Hoffnung? Nur das Chaos, das du versprichst?
Der Wolf hat geschrieben:Nicht Chaos. Ordnung. Die einzig wahre Ordnung. Das Herz, das schlägt. Die Lunge, die atmet. Der Zähne, die reißen. Das Fleisch, das nährt. Die Götter waren das Chaos. Sie malten Bilder an den Himmel und nannten es Schicksal. Sie flüsterten Lügen in eure Herzen und nannten es Glauben. Sie zähmten euch.
Ihre Stimme brach. Was hatte sie ihr gegeben?Alniira hat geschrieben:Sie hat mich nicht gezähmt! Sie hat mich befreit! Eilistraee hat mir... hat mir...
Alniira schauderte. Die Worte des Wolfes waren nicht nur Gedanken. Sie waren Bilder. Er zeigte ihr die Erinnerung an Elashinn, die Priesterinnen, die im Namen von Lloth mordeten. Und er legte ein anderes Bild daneben: ein Rudel Wölfe, das ein Reh reißt.Der Wolf hat geschrieben:...einen schöneren Käfig. Einen Käfig aus Silberlicht statt aus Spinnweben. Aber es war immer ein Käfig. Du hast getanzt, weil sie es wollte. Du hast gesungen, weil sie es wollte. Wann hast du das letzte Mal gejagt, nur weil du hungrig warst? Wann hast du das letzte Mal getötet, nur weil du konntest?
Der Wolf hat geschrieben:Wo ist der Unterschied, kleine Drow? Die Spinnen-Priesterin mordet für eine Lüge, die sie "Glaube" nennt. Der Wolf tötet für eine Wahrheit, die er "Hunger" nennt. Was ist ehrlicher? Was ist reiner?
Sie klammerte sich an diesen Gedanken wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz.Alniira hat geschrieben:Das... das ist nicht dasselbe... Leben zu nehmen, um zu überleben, ist... das ist der Wald. Aber was ist mit Mitgefühl? Was ist mit Liebe? Für das Rudel? Du fühlst es doch auch! Das sind die Dinge, für die sie stand!
Der Wolf lachte, und das Geräusch ließ das Blut in ihren Adern gefrieren.
Die Welt begann sich um Alniira zu drehen. Jedes Wort des Wolfes war ein Hammerschlag, der die Säulen ihres Glaubens zertrümmerte. Er nahm ihr nicht nur ihre Göttin. Er nahm ihr alles.Der Wolf hat geschrieben:Liebe. Das nennst du Liebe? Was du für das Rudel fühlst, ist Besitz. Es ist der Drang, dein Territorium zu verteidigen. Was du für den Elfen fühlst, ist der Drang, deinen stärksten Gefährten zu sichern. Was du für die Welpen fühlst, ist der Instinkt, die nächste Generation zu schützen. Du gibst allem so schöne Namen. Aber es ist alles nur das eine: das Blut. Das Gesetz des Überlebens.
Alniira hat geschrieben:Hör auf... bitte, hör auf... Wenn das wahr ist... wenn alles nur Instinkt ist... was bin ich dann? Bin ich nur ein Tier? Sind wir alle nur Tiere, die so tun, als wären sie mehr?
Die Antwort war so einfach, so brutal und so endgültig.Der Wolf hat geschrieben:Ja.
Alniira starrte auf ihre Hände, die noch immer in der Erde vergraben waren. Sie spürte die Kälte des Bodens. Sie spürte den Wind auf ihrer Haut. Sie spürte das Pochen in ihrer Kehle. Und sie konnte die Stimme ihrer Göttin nicht mehr hören. Nur das laute, hungrige, triumphierende Schlagen ihres eigenen Herzens.Der Wolf hat geschrieben:Und es ist wunderschön. Kein Schicksal, das dich lenkt. Keine Götter, die dich verurteilen. Keine Seele, um die du dich sorgen musst. Nur dieser Moment. Dieser Atemzug. Dieses Herz, das in deiner Brust schlägt. Spürst du es? Es schlägt für uns. Nicht für eine Göttin. Nicht für ein Ideal. Es schlägt, weil es leben will. Das ist die einzige Führung, die du jemals brauchen wirst.
Sie war allein. Und der Wolf war bei ihr.