…drei Tage vor dem Fall des letzten, der 22 Kometen…
…drei Stunden vor dem Fall der Festung…
Im seinem Anwesen im Hafenviertel saß Paranax mit der wohl bekanntesten Runenbuchfachverkäuferin der Stadt, einer Vertreterin des Blackrocksyndikats, die man nur als Anna D. kennt und sie hatte sich angeboten, die Räumlichkeiten des Anwesens von Kord mit der neuesten Alchemieausrüstung auszustatten. Die beiden saßen am Nachmittag gemütlich bei einem kühlen, gelben Erfrischungsgetränk auf seiner Dachterrasse und besprachen die Bestellung von Bechergläsern, Erlenmeyerkolben, Messkolben, Reagenzgläsern und Tropftrichtern.
An dem Tag hatte sich der Nebel erst gegen Mittag gelichtet, und es lag ein dicker, grauer Wolkenschleier über dem Himmel. Das führte dazu, dass sich die ehrgeizigen Fischer erst später aus ihren Häusern begaben, ihre Boote lösten und sich aufmachten, um aufs Meer hinauszufahren, fest entschlossen, die ersten zu sein, die den frischesten Fisch an die wartenden Händler verkaufen würden.
Die beiden genossen ihre Getränke und starrten sich nach abgeschlossenem Geschäft zufrieden über den Rand ihrer Becher hinweg an, als Paranax plötzlich die Stirn runzelte und sich auf seinem Stuhl aufrichtete. Sein Blick wanderte zum Himmel, hinauf in den Nordosten. Es war der frühe Nachmittag, und die Sonne schaffte es ganz einfach nicht, die Wolkendecke zu durchbrechen, doch irgendetwas anderem war dies offenbar gelungen. Sichtlich schockiert riss er die Augen auf und sprang so hastig auf, dass sein Stuhl krachend nach hinten umfiel.
„Schon wieder einer von diesen verdammten Sternen oder Kometen, von denen die Leute ständig reden, das gibt’s doch nicht!“, fuhr er auf, riss den Arm hoch und deutete mit ausgestrecktem Finger in die Höhe. Einen Augenblick später zerriss ein einzelner, markerschütternder Knall die Stille der Ferne, dumpf und dröhnend wie berstendes Gestein.
Dunkler Rauch stieg am Horizont auf. Paranax wirkte plötzlich wie versteinert, sein Kiefer angespannt, denn die Richtung, in die der Himmelskörper niedergegangen war, schien ihm sichtlich Sorgen zu bereiten. „Entschuldigt mich bitte, ich muss unverzüglich zu meinem Gaul. In der Richtung, wo das Ding runtergekommen ist, lebt ein alter Bekannter von mir!“. Seine Stimme klang ungewohnt hart. Ohne eine weitere Reaktionen abzuwarten, wandte er sich abrupt von ihr ab und stürmte die Treppe hinunter, hinaus aus dem Haus, am zentralen Gasthaus vorbei in Richtung des Rathauses. Dort hatte Kalisha, eine aus Minoc geflüchtete Frau, es sich gegen ein kleines Goldstück zur Aufgabe gemacht, sich um die Pferde zu kümmern, die auf dem Platz davor abgestellt wurden.

Er jagte seinen Gaul aus der Stadt, als gäbe es kein Morgen. Leute wichen fluchend zur Seite, manche schrien ihm wütend hinterher, als er das Pferd rücksichtslos im vollen Galopp an ihnen vorbei ließ. Sein Ziel war der Einschlagsort. Dort oben gab es keinen Ort, den man gemeinhin kannte, sondern nur einen, der in den letzten Jahren von entscheidender Bedeutung für ihn geworden war.
Dem Pferd gönnte er keine Pause, es mühte sich ab, den harten Befehlen seines Herrn durch den engen Wald zu folgen. Zwischen den Bäumen wurde es zunehmend finsterer , während der Ort des Einschlages immer näher rückte. Bis zuletzt klammerte er sich an die Hoffnung, sich zu irren jedoch kurz darauf wurde er eines Besseren belehrt.
Der Komet war mitten in die Festung gefahren, hatte beim Aufprall den Boden aufgerissen und war, wie ein flach über die Wasseroberfläche geschleuderter Stein, noch einmal hochgeschleudert worden, bevor er die Festungsmauer durchschlug und schließlich zischend im Meer verschwand. Aus der zerrissenen Anlage drangen Schreie, gellend und panisch – Stimmen, die er kannte: Diener des Ordens des Furchteinen, die nun selbst vor Angst zwischen Rauch und Trümmern umherrannten. Der Einschlag hatte das gewaltige Festungsgebäude regelrecht halbiert, wie von einer unsichtbaren Klinge sauber in der Mitte gespalten. Mauern stürzten nach innen, ganze Trakte brachen krachend zusammen, Tote und Verletzte lagen offen zutage oder waren unter eingestürzten Steinen begraben. Überall loderten Flammen, fraßen sich durch Holz, Stoff und Fleisch, und vielen der Verschütteten blieb von Anfang an jede Chance auf Rettung verwehrt.
Paranax näherte sich im vollen Galopp, riss das Pferd herum und sprang aus dem Sattel, bevor es noch richtig zum Stehen kam. Er hetzte durch den aufgerissenen Wall, stolperte beinahe über lose Steine. Hastig befahl er zwei Dienern die um einen bereits toten Körper standen ihm zu folgen, er musterte flüchtig ihre Verletzungen und setzte seinen Weg fort. Im Augenwinkel erkannte er Maranos und Ardor, die bereits eine Gruppe überlebender Diener zusammengeschart hatten und dabei waren, jene aus den Trümmern zu ziehen, bei denen es noch Sinn machte, um ihr Leben zu kämpfen.
Viele verbrannten bei lebendigem Leib, eingeklemmt und gefangen unter den schweren Trümmern. Andere waren auf der Stelle tot, von herabstürzenden Quadersteinen der Festung zerquetscht. Paranax kämpfte damit, seine eigenen Gefühle zu ordnen; ein Teil von ihm wollte schreien, doch im Augenblick galt all seine Konzentration der Rettung so vieler wie möglich. Er befahl einigen Dienern, überall dort, wo offensichtlich jemand unter Geröll begraben war, alles zu tun, um die Betroffenen herauszuholen – mit bloßen Händen, Hebeln, Seilen, ganz gleich wie. Zwei weiteren trug er auf, rasch ein Gespann von Karren herzurichten, um Verletzte und Tote abtransportieren zu können.
„Wir brauchen einen Weg, die Verletzten nach Düsterhafen zu bringen also bespannt die restlichen Pferde vor allen Karren die noch intakt sind! Mein Pferd steht vor dem Wall!“, brüllte er sie an. Auf dem Gelände selbst standen nur noch wenige Gebäude halbwegs unversehrt: die Werkstätten und Unterkünfte der Handwerker.
Das Holz des Gebäudes, die Balken der Häuser davor und selbst die einfache Einrichtung standen lichterloh in Flammen. Überall nur Feuer, wirbelnder Staub, beißender Rauch, Schreie, Durcheinander – und ein lähmendes Unverständnis.
Paranax konnte nicht fassen, was geschehen war. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet einer dieser Kometen die Festung traf? Welche Bedeutung sollte das haben? Hatte es überhaupt eine oder war es nichts als grausamer Zufall? Wer könnte ihm so etwas beantworten? Und mehr noch: Wollte er die Antwort überhaupt wirklich wissen?
In der Zwischenzeit wurden acht Pferde vor insgesamt vier Karren gespannt, die man so schnell wie möglich mit Verletzten belud. Auf einigen der Wagen blieb noch etwas Platz, und so traf Paranax die Entscheidung:
„Die Schwerverletzten auf einen eigenen Karren. Die Leichtverletzten sitzen vorne auf der Bank oder direkt auf den Pferden. Der restliche Platz wird genutzt, um Kisten zu beladen!“
Der Orden konnte es sich nicht leisten, alles zu verlieren, und hatte zumindest das Glück, dass eines der wichtigsten Nebengebäude verschont geblieben war: der Handwerkerturm, der über einen unterirdischen Gang mit der Festung verbunden war. In seinen Tiefen lag die Bibliothek mit allen Werken des Nok’Tau Ordens Malions, und es gelang den Dienern, die meisten Bücher der Kleriker und Priester sowie die Niederschriften der Nok’Tau aus den Gewölben zu bergen.
Abgesehen von den Heiligtümern des Ordens wurde ein ganzer Karren bis zum Rand mit Werkzeug, Handwerkswaren und verschiedensten Materialien beladen wie Zangen, Hämmer, Sägeblätter, Kisten mit Nägeln, Bündel von Metallstangen, Speck, etwas Brokat und Echsenlederhäuten. Alles, was sich in der kurzen Zeit greifen ließ und von Wert für Wiederaufbau oder die Versorgung sein konnte, wurde hastig zusammengetragen, aufgeladen und mitgenommen.
Sie hatten keine Zeit, denn je länger sie blieben, desto mehr Mitglieder würden ihren Verletzungen vermutlich erliegen. Gleichzeitig machten bereits erste Gerüchte in den Städten die Runde: Man erzählte sich, an manchen Einschlagsorten der Kometen seien plötzlich Tiere und andere Kreaturen wie von Sinnen geworden, hätten ohne ersichtlichen Grund den Verstand verloren und alles in ihrer Nähe angegriffen, seien scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht und völlig durchgedreht. Ein solches Risiko konnten sie in ihrem geschwächten Zustand unmöglich eingehen.
Maranos, Ardor und Paranax standen vor den beladenen Karren, deren Räder sich unter dem Gewicht der Kisten und Verletzten stark in den aufgewühlten Boden drückten. Im Hintergrund hörte man das Stöhnen einiger Verwundeter und leise, verzweifelte Stimmen, die fragten, warum der Herr so etwas zugelassen hatte. Ob sie etwas falsch gemacht hätten. Ob er nicht zufrieden gewesen sei.
„Wir reisen sofort ab und bringen unsere Leute zu den Heilern in Düsterhafen“, sagte Paranax mit fester Stimme. „Ich habe eine vorübergehende Unterkunft im südlichsten Teil der Stadt – ein verlassenes Lagergebäude, das ich vor kurzem erworben habe.“
Die drei gingen schweigend neben den ratternden Kutschen her. Maranos ließ den Blick immer wieder zurück gleiten, schüttelte fassungslos den Kopf und starrte auf das lodernde Inferno,
das einst die Festung ihres Ordens gewesen war. Niemand sonst sah zurück. Paranax’ Augen waren stur nach vorne gerichtet auf dem Weg nach Düsterhafen, auf die Aufgabe, das Zerstörte eines Tages wieder aufzubauen und herauszufinden, ob all das nur grausamer Zufall gewesen war… oder etwas anderes dahintersteckte.

Der Konvoi hatte gerade die nähere Umgebung der Festung hinter sich gelassen, als in der Ferne die Umrisse einer einzelnen Gestalt sichtbar wurden, die scheinbar aus dem Nichts erschienen war. Sie kniete reglos vor der zerstörten, brennenden Festung, als wäre sie dort schon immer gewesen. Im Flackern der Flammen verschmolzen ihre Konturen immer wieder mit den tanzenden Schatten in der Dunkelheit, unbeweglich, als würde sie im stummen Schweigen und über den Fall der Festung richten.
