von Jhea'kryna Ky'Alur » 15 Aug 2025, 13:16
Der Ratssaal von Elashinn lag wie ein stilles Herz im innersten Teil des Tempels der Lloth. Die Luft dort unten war kühl, schwer und trug den Geruch von altem Stein, vermischt mit dem schwachen, süßlichen Hauch des Harzes, das in den Spinnenlaternen verbrannte und das Licht in fahlen, flackernden Kreisen auf den polierten Basalt warf. Der Raum war halbkreisförmig angelegt, so dass die drei erhöhten Sitze der Matriarchinnen das Zentrum beherrschten und jeder im Saal gezwungen war, seinen Blick dorthin zu richten. Zwischen den Sitzen lag genügend Abstand, dass man dem anderen nicht zu nahe kam, aber nicht genug, um sich aus den Blicken stehlen zu können.
Jhea’kryna betrat den Saal in jenem Maß an Pomp, das jeder Anwesende als unvermeidlich erwartete. Reyviira und Kyrii’linth schritten an ihrer Seite, flankiert von der ausgewählten Ehrengarde, die sich vor der Treppe zu ihrem Platz formierte. Ihr Kleid aus schwarzem Spinnengarn und Silberfäden glitt um ihre Gestalt wie ein lebendiger Schatten, und bei jedem Schritt funkelten die eingewebten Fäden, als wären sie Tautropfen, die sich weigerten, den Morgen zu sehen. Die Luft im Saal veränderte sich kaum merklich – nicht, weil sie den Raum betrat, sondern weil jeder, der sich ihres Eintretens bewusst war, einen Atemzug länger innehielt, um den Eindruck festzuhalten.
Felyndiira Noquar war bereits da. Sie saß aufrecht, in einer Haltung, die weder Anstrengung noch Nachlässigkeit verriet, sondern die Gewohnheit, seit Jahrhunderten über Dinge zu entscheiden, die das Schicksal anderer bestimmten. Ihr Gesicht war ein Spiegel aus ruhiger Macht, ihre Augen dunkel und aufmerksam, aber ohne Hast. Sie stand nicht auf, als Jhea'kryna den Saal betrat – und sie musste es auch nicht. Es war die Art der Alten, ihre Dominanz durch das zu zeigen, was sie nicht taten.
Shinayna Zauviir dagegen lehnte sich zurück, ein Bein über das andere geschlagen, die Finger an einem schmalen goldenen Becher, der in dem fahlen Licht aufblitzte. Sie wirkte wie eine Katze, die sich in einer fremden Höhle eingerichtet hatte – unruhig genug, um jederzeit aufspringen zu können, aber sicher genug, um den Eindruck zu erwecken, dass sie jeden Winkel bereits kannte. Ihr Blick wanderte über Jhea’kryna, nicht hastig, nicht respektlos offen – sondern in diesem kalkulierten Maß, das wie eine höfische Geste wirkte, aber doch jedes Detail prüfte.
„Willkommen, Jhea’kryna Ky’Alur. Willkommen, Shinayna Zauviir.“
Felyndiiras Stimme war tief und klar, ohne jedes Zittern. Sie sprach die Namen in der Reihenfolge, die Tradition und Rang vorgaben – und doch lag in dem kaum wahrnehmbaren Zögern zwischen ihnen ein feiner Faden von Gewicht.
„Möge dieser Rat der Stadt zur Ehre der Herrin sprechen.“
Shinayna neigte den Kopf, ihre Lippen formten ein Lächeln, das nie den Augen erreichte.
„Es ist… bemerkenswert, euch beide hier zu sehen,“ sagte sie, und die leichte Betonung auf dem Wort
„bemerkenswert“ ließ genug Raum für Deutungen, die weit über die wörtliche hinausgingen.
„Manche Steine liegen so lange in der Tiefe, dass man vergisst, sie überhaupt noch zu wenden.“ Ihr Blick glitt wie ein Dolchstoß zu Jhea – und hielt dort für einen Herzschlag zu lange inne.
Jhea'kryna erwiderte diesen Blick ohne jede Regung. Sie ging die Stufen zu ihrem Platz hinauf, drehte sich erst, als sie die Armlehnen ihres Sitzes berührte, und sprach mit jener kontrollierten Kälte, die weder Eile noch Unsicherheit kannte:
„Und doch finden sich manche Steine genau dann im Weg, wenn ein neues Fundament gelegt wird.“ Die Worte waren höflich genug, um als Erwiderung zu gelten – und scharf genug, um zu schneiden, wenn man ihre Schichtungen verstand.
Felyndiira ließ ihren Blick zwischen beiden hin und her gleiten. Sie sprach nicht sofort, und in der Stille lag mehr Gewicht als in jedem Wort.
„Wir sind hier, weil die Stadt uns ruft. Nicht für alte Rechnungen, sondern für das, was vor uns liegt.“ Es war ein Satz, der wie eine Mahnung klang, aber zugleich die Erinnerung trug, dass sie als Ilharess des Ust’Qu’ellar derzeit über beiden stand.
Shinayna hob leicht eine Braue, das Lächeln blieb.
„Oh, gewiss. Und doch…“ Sie ließ den Satz einen Moment schweben, drehte den Becher in der Hand, so dass das Licht darin brach.
„Man könnte meinen, wer sich lange aus den Hallen der Stadt fernhält, kehrt nur zurück, wenn es gilt, den Platz am Tisch zu sichern.“ Der Tonfall war samtweich, doch der Stachel darin war unüberhörbar.
Reyviira, an Jhea'krynas Seite, bewegte sich kaum, doch in ihren Augen blitzte ein Funke auf. Kyrii’linth hingegen ließ ein kaum hörbares, kehliges Laut entweichen – nicht Zustimmung, nicht Missbilligung, eher ein Kommentar, der nur in ihrem Kopf wirklich klangvoll war.
Jhea'kryna neigte den Kopf, und ein Hauch von Lächeln spielte um ihre Lippen.
„Es ist klug, den Platz am Tisch zu sichern, Shinayna. Vor allem, wenn man weiß, wie leicht andere von ihm fallen können.“ Die Anspielung lag schwer im Raum – jeder wusste, dass Ky’Alur einst etwas ergriffen hatte, was Zauviir so sehr begehrte, dass sein Verlust noch immer wie ein Dorn im Fleisch saß.
Felyndiira hob leicht die Hand, nicht als Befehl, sondern als Geste, die jede Antwort bremste.
„Wir sind Töchter der Herrin, nicht ihre Widersacher. Lasst uns die Schärfe für das verwenden, was Elashinn wirklich bedroht.“ Ihre Stimme schnitt den Raum in zwei Hälften – und für einen Moment schien es, als würde dieser Rat tatsächlich von Höflichkeit getragen. Doch unter den Worten floss ein anderes Gespräch weiter, still und unausgesprochen, zwischen Blicken, Betonungen und jenen Lücken, die nur gefüllt werden konnten, wenn man den Faden kannte, der sie verband.
„Wir sind hier,“ begann sie,
„weil das Herz der Stadt in Gefahr ist. Der Tempel der Herrin steht noch, doch er atmet schwer.“
Die Worte hallten in dem steinernen Raum nach, und für einen Moment schien es, als lausche selbst das schwache Flackern der Spinnenlaternen dem Klang.
„Die Beben der vergangenen Zyklen haben nicht nur die Gänge zu den unteren Schreinen verwundet,“ fuhr sie fort,
„sie haben Risse in den Hauptsäulen geöffnet, so tief, dass die Wärme der Tiefe selbst den Altarraum berührt. Manche sehen darin ein Werk der Natur. Andere…“ Sie ließ den Satz hängen, und der Blick, den sie über den Tisch gleiten ließ, machte klar, dass sie wusste, wer „die anderen“ waren.
Shinayna war die Erste, die den Faden aufnahm.
„Vielleicht,“ sagte sie mit einer Stimme, die schmeichelte, ohne weich zu sein,
„liegt der Riss nicht nur im Stein.“ Sie lehnte sich leicht vor, den goldenen Becher nun mit beiden Händen haltend.
„Manche sagen, die Herrin entzieht ihren Segen nicht ohne Grund. Dass sie Zeichen setzt, wenn jene, die ihren Tempel führen, ihren Blick von ihr abwenden.“
Sie sprach nicht laut, doch in der Stille des Saales trugen ihre Worte wie ein Dolch, der langsam, fast sanft, in weiches Fleisch drang. Kein Name fiel, und doch wusste jeder, wessen Hand gemeint war.
Jhea’kryna bewegte sich nicht sofort. Sie ließ die Worte zwischen ihnen sinken, wie man ein Netz sinken lässt, um zu sehen, ob es sich füllt. Dann richtete sie sich ein wenig auf, und in der Art, wie sie die Hände auf die Armlehnen legte, lag ein Besitzanspruch, der keiner Erklärung bedurfte.
„Die Hand der Herrin,“ erwiderte sie,
„hat mich vor aller Augen berührt. Es war nicht in der Stille eines Hinterzimmers, nicht in den Schatten, wo nur wenige sehen. Es war im Licht des Altars, und es war für alle sichtbar.“ Ihre Stimme wurde nicht lauter, doch das Gewicht in ihr verdichtete sich.
„Wenn ihr ein Zeichen sucht, wem sie dieses Werk anvertraut, so habt ihr es bereits gesehen.“
Ein kurzes, kaum merkliches Zucken ging durch Shinaynas Miene, wie ein Haarriss in einer polierten Oberfläche.
„Zeichen,“ wiederholte sie, als koste sie das Wort.
„Zeichen können viel bedeuten. Manchmal sind sie Warnung, manchmal sind sie Prüfung. Nicht jede Berührung ist ein Segen.“
Felyndiira ließ sie nicht weiterreden. „
Was es auch sei – Segen oder Prüfung – der Tempel muss gerettet werden.“ Sie verschränkte die Hände, die langen, schmalen Finger ruhten ineinander wie Ranken.
„Und wir müssen entscheiden, wer diese Aufgabe führt.“
„Die Antwort ist einfach,“ sagte Jhea ohne Zögern.
„Man baut kein Netz, indem man die Fäden den Ungeübten überlässt. Ky’Alur wird den Tempel nicht nur reparieren – wir werden ihn neu errichten. Größer, stärker, ein Werk, das die Herrin stolz macht und jeden daran erinnert, wem diese Stadt gehört.“
Shinayna lachte nicht – aber ihr Blick tat es für sie.
„Größer, stärker… und natürlich in den Händen derer, die am meisten zu gewinnen hat.“ Sie drehte den Becher in der Hand, als sei es ein zufälliger Gedanke.
„Doch wer lange fern war, muss sich erst erinnern, wie die Hallen klingen. Vielleicht wäre es klüger, das Werk denen zu überlassen, die noch die Stimmen der Mauern kennen.“
„Ihr meint euch selbst,“ erwiderte Jhea'kryna leise, fast freundlich.
„Die Mauern, von denen ihr sprecht, haben schon lange keine Stimme mehr. Sie wurden euch genommen – nicht, weil sie schwach waren, sondern weil ihr sie nicht halten konntet.“
Es war ein Satz, der keine erhobene Stimme brauchte, um zu treffen. In der Luft zwischen ihnen lag ein Gewicht, das schwerer war als jeder Stein des Tempels.
Felyndiira unterbrach, bevor die Stille zu scharf wurde.
„Neutralität,“ sagte sie, und das Wort klang aus ihrem Mund wie ein Befehl.
„Der Tempel ist nicht nur ein Symbol für uns drei Häuser, er ist das Symbol für ganz Elashinn. Wer ihn führt, muss im Namen aller handeln – nicht im eigenen.“
Jhea wandte den Blick zu ihr.
„Neutralität ist ein schönes Wort, Felyndiira. Aber ein Tempel, der im Namen aller gebaut wird, gehört am Ende niemandem – und das ist eine Einladung für jeden, ihn zu beanspruchen.“
„Und das wollt ihr verhindern, indem ihr ihn gleich zu Beginn für euch beansprucht?“ fragte Shinayna, und ihr Tonfall war süß wie vergorener Wein.
„Ich will verhindern,“ sagte Jhea,
„dass er schwach beginnt. Und Schwäche kann man sich nicht leisten – nicht in Stein, nicht in Blut.“
Ein Moment der Stille legte sich über den Saal, so dicht, dass man das Knacken des Harzes in den Laternen hören konnte. Shinaynas Blick blieb noch einen Herzschlag lang auf Jhea ruhen, dann senkte sie den Becher, den sie in den Händen hielt, und lehnte sich zurück. Mehr musste sie nicht sagen – das Gift war gesetzt, und jeder im Raum wusste es.
Felyndiira erhob sich nicht vollständig von ihrem Platz; sie richtete sich nur ein Stück auf, so dass das Licht der Spinnenlaternen über ihre Gesichtszüge glitt und sie im Halbschatten fast wie eine geschnitzte Figur wirkte. Ihre Stimme, als sie sprach, war nicht laut, aber so getragen, dass jedes Wort wie eine gezielt gesetzte Perle in den Raum fiel.
„Ein Tempel ist nicht nur Stein und Symbol. Er ist Erinnerung. Jeder Pfeiler, jede Gravur, jeder Riss erzählt von den Zyklen, die wir überstanden haben. Ich habe Hallen gesehen, die älter sind als jedes Bündnis, das wir drei heute an diesem Tisch vertreten. Sie standen, weil ihre Erbauer nicht nur an Macht dachten, sondern an Bestand.“
Sie verschränkte die Hände auf der Lehne ihres Stuhles, und der Blick, den sie in den Saal warf, schloss Jhea und Shinayna gleichermaßen ein.
„Die Beben haben die Mauern verwundet, ja. Aber sie haben auch etwas offengelegt: Wir haben den Tempel zu einem Werkzeug im Spiel der Häuser gemacht. Er war ein Ort der Herrin – und wir haben ihn zu einer Bühne für uns selbst geformt. Das mag uns kurzfristig dienen. Langfristig aber schwächt es uns alle.“
Ihr Blick verharrte auf einem Punkt über den Köpfen der Zuhörer, als würde sie das Gewicht alter Erinnerungen messen.
„Ich will einen Tempel, der nicht einem Haus gehört. Einen Tempel, der die Zyklen überdauert, weil er nicht in den Rivalitäten der Stunde verstrickt ist. Die Führung des Wiederaufbaus muss in neutralen Händen liegen – und ja, ich zähle Noquar zu diesen Händen, weil wir seit jeher das Gleichgewicht wahren.“
Sie hob eine Hand, bevor jemand einwenden konnte.
„Nicht weil wir schwach sind. Sondern weil wir stark genug sind, nicht alles an uns zu ziehen, was wir greifen könnten. Ich will einen Tempel, der in hundert Zyklen noch steht – und nicht bei jedem Machtwechsel neu beansprucht wird.“
Shinayna saß noch immer zurückgelehnt, doch sie löste eine Hand vom Becher und ließ die Fingerspitzen über die Armlehne gleiten, als würde sie die Maserung des Basalts studieren. Ihre Stimme war glatter als zuvor, fast schmeichelnd, doch jeder Laut trug einen feinen Haken.
„Ein Tempel, der allen gehört, gehört am Ende niemandem. Und was niemandem gehört, wird von allen vernachlässigt.“ Sie richtete sich ein Stück auf, und das Licht fing in den Ringen an ihren Händen.
„Die Herrin verlangt nicht nur Bestand – sie verlangt Kraft. Sie prüft uns, und wenn sie einen Riss sendet, dann ist das keine Einladung, in der Vergangenheit zu verharren. Es ist ein Befehl, zu erneuern.“
Ihr Blick glitt zu Jhea, nicht lange, aber lange genug, dass der Tonfall ihrer nächsten Worte nicht als Zufall gelten konnte.
„Und Erneuerung braucht frische Hände. Hände, die den Staub der alten Hallen nicht schon seit Jahrhunderten einatmen. Hände, die nicht nur wissen, wie man Steine setzt, sondern wie man Mauern so baut, dass sie nicht wieder bröckeln.“
Sie beugte sich leicht vor.
„Zauviir kann diesen Tempel zu einem Ort machen, der nicht nur der Herrin dient, sondern auch der Stadt als Ganzes – als Zeichen, dass wir nicht nur bewahren, sondern wachsen. Wir können die Handelsadern mit dem Bau verbinden, neue Künste einführen, Handwerker aus entfernten Enklaven einbinden. So wird der Tempel nicht nur ein Heiligtum, sondern ein Zentrum, das Wohlstand bringt.“
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Natürlich braucht es dazu die Bereitschaft, jenen die Führung zu geben, die bereit sind, den Preis zu zahlen – in Arbeit, in Ressourcen, in Hingabe. Wer diesen Preis nicht tragen will, sollte sich nicht um den Thron des Altars bemühen.“
Jhea rührte sich erst, als das Schweigen nach Shinaynas Worten lang genug geworden war, dass jeder im Raum wusste, sie würde es brechen. Sie erhob sich langsam, so dass das Silber in ihrem Kleid bei der Bewegung aufflackerte, als hätte das Licht selbst entschieden, ihr zu folgen.
„Ein Tempel ist kein bloßes Bauwerk. Er ist der sichtbare Arm der Herrin in dieser Stadt. Wer ihn betritt, soll ihre Macht fühlen, nicht nur ihre Worte hören.“ Ihre Stimme war fest, doch nicht laut – sie sprach nicht, um zu übertönen, sondern um jeden dazu zu zwingen, sich zu neigen, um sie zu hören.
„Die Beben haben den alten Tempel verwundet, und ja – vielleicht war es ein Zeichen. Aber Zeichen sind nur so stark, wie unsere Antwort darauf.“ Ihr Blick ging erst zu Felyndiira, dann zu Shinayna.
„Ky’Alur hat die Antwort bereits gegeben. Die Herrin hat mich vor aller Augen berührt, und dieses Zeichen war kein leeres Spiel. Es war eine Wahl. Ich werde diesen Tempel nicht flicken. Ich werde ihn neu weben – Stein für Stein, Faden für Faden – zu einem Werk, das nicht nur hier, sondern in den ganzen Tiefen bekannt sein wird.“
Sie ging einen Schritt vor, die Hände locker an den Seiten.
„Er wird größer sein als jeder, den diese Stadt bisher gesehen hat. Seine Türme werden den Rauch der Tiefe fangen, seine Hallen werden das Licht der Spinnenlaternen so tragen, dass kein Schatten leer bleibt. Jeder, der den Namen Elashinn hört, soll auch den Tempel sehen – und wissen, dass er von Ky’Alur errichtet wurde.“
Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen, gefährlichen Lächeln.
„Das ist keine Anmaßung. Es ist die Pflicht der Erwählten. Wer dieses Werk führt, führt nicht nur Steinmetze und Baumeister – er führt die Gläubigen selbst. Und ich sage euch: Nur wer den Blick der Herrin kennt, kann diese Führung tragen."
Die Luft im Saal hatte sich verdichtet. Die Worte der drei Matriarchinnen hingen wie fein gesponnene Fäden zwischen ihnen – glänzend, verlockend, aber unter Spannung. Jeder wusste, dass ein falsches Wort einen Riss reißen konnte, der weit tiefer ging als jede Baunarbe im Tempel.
Felyndiira saß wieder so reglos wie zu Beginn, die Finger verschränkt, das Gesicht undurchdringlich. Ihre Worte hatten den Mantel der Neutralität getragen, doch in den Augen lag ein Funkeln, das verriet, wie sorgfältig sie jede Regung der beiden anderen maß.
Shinayna hingegen wirkte wie eine Klinge, die knapp in der Scheide ruht – glänzend, gefährlich und bereit, sich zu bewegen, wenn der richtige Druck kam. Ihr Blick ruhte zu oft auf Jhea, um Zufall zu sein, und jedes Mal lag darin diese unausgesprochene Erinnerung an das, was Ky’Alur ihr Haus einst gekostet hatte.
Jhea spürte es. Und sie wusste, dass der Kampf um den Tempel kein Streit über Stein oder Baupläne war.
„Ich will verhindern,“ sagte Jhea,
„dass er schwach beginnt. Und Schwäche kann man sich nicht leisten – nicht in Stein, nicht in Blut.“
Die Worte hingen in der Luft, schwer wie ein gespanntes Netz. Shinayna neigte den Kopf leicht, als koste sie den Klang noch einmal aus, und ihre Lippen verzogen sich zu diesem halben Lächeln, das weder Freude noch Zustimmung war.
„Stärke ist ein schönes Wort,“ erwiderte sie, weich wie ein Samtband, das einen Dolch umwickelt.
„Doch zu viel davon zur falschen Zeit – und selbst der stärkste Stein bricht.“
Ein leises Knistern ging durch die Flammen der Spinnenlaternen, als Jhea den Blick hielt.
„Besser, er bricht an meiner Hand, als dass er in eurer verrottet.“ Die Worte waren kühl, fast freundlich, aber jeder im Saal hörte den Unterton.
Felyndiira erhob sich nicht ganz, richtete sich aber so weit auf, dass das Licht ihre Züge streifte.
„Genug. Wir sind nicht hier, um Metaphern zu zerlegen, sondern um den Willen der Herrin zu erfüllen. Der Tempel braucht eine Entscheidung, keine Poesie.“
„Dann sollen wir abstimmen,“ schlug Shinayna vor, die den Blick nicht von Jhea'kryna nahm.
„Wir stimmen nicht über die Wahl der Herrin ab,“ erwiderte Jhea leise.
„Wir erkennen sie.“
Ein Murmeln ging durch den Saal. Felyndiira hob die Hand, und die Stille fiel wie ein Messer.
„Wir erkennen, dass wir uns heute nicht einigen werden. Aber wir werden den Tempel nicht seinem Schicksal überlassen. Ich werde in den nächsten Zyklen zu einer weiteren Beratung laden.“
Offiziell war das Ende des Rates damit besiegelt. Die Höflichkeiten wurden wieder ausgetauscht, Verneigungen vollzogen, die Eskorte sammelte sich. Doch als Jhea'kryna den Blick ein letztes Mal zu Shinayna wandte, war kein höfischer Schleier mehr in ihren Augen.
In diesem Moment fasste sie den Entschluss.
Zauviir hatte sie im Rat herausgefordert, vor Zeugen. Das war nicht nur eine Beleidigung – es war ein Angriff. Und sie würde ihn beantworten. Nicht sofort, nicht mit Worten. Sondern so, dass, wenn es vorbei war, jeder in Elashinn wusste, wer das stärkste Haus war und wem der Tempel gehören würde.
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Der Ratssaal von Elashinn lag wie ein stilles Herz im innersten Teil des Tempels der Lloth. Die Luft dort unten war kühl, schwer und trug den Geruch von altem Stein, vermischt mit dem schwachen, süßlichen Hauch des Harzes, das in den Spinnenlaternen verbrannte und das Licht in fahlen, flackernden Kreisen auf den polierten Basalt warf. Der Raum war halbkreisförmig angelegt, so dass die drei erhöhten Sitze der Matriarchinnen das Zentrum beherrschten und jeder im Saal gezwungen war, seinen Blick dorthin zu richten. Zwischen den Sitzen lag genügend Abstand, dass man dem anderen nicht zu nahe kam, aber nicht genug, um sich aus den Blicken stehlen zu können.
Jhea’kryna betrat den Saal in jenem Maß an Pomp, das jeder Anwesende als unvermeidlich erwartete. Reyviira und Kyrii’linth schritten an ihrer Seite, flankiert von der ausgewählten Ehrengarde, die sich vor der Treppe zu ihrem Platz formierte. Ihr Kleid aus schwarzem Spinnengarn und Silberfäden glitt um ihre Gestalt wie ein lebendiger Schatten, und bei jedem Schritt funkelten die eingewebten Fäden, als wären sie Tautropfen, die sich weigerten, den Morgen zu sehen. Die Luft im Saal veränderte sich kaum merklich – nicht, weil sie den Raum betrat, sondern weil jeder, der sich ihres Eintretens bewusst war, einen Atemzug länger innehielt, um den Eindruck festzuhalten.
Felyndiira Noquar war bereits da. Sie saß aufrecht, in einer Haltung, die weder Anstrengung noch Nachlässigkeit verriet, sondern die Gewohnheit, seit Jahrhunderten über Dinge zu entscheiden, die das Schicksal anderer bestimmten. Ihr Gesicht war ein Spiegel aus ruhiger Macht, ihre Augen dunkel und aufmerksam, aber ohne Hast. Sie stand nicht auf, als Jhea'kryna den Saal betrat – und sie musste es auch nicht. Es war die Art der Alten, ihre Dominanz durch das zu zeigen, was sie nicht taten.
Shinayna Zauviir dagegen lehnte sich zurück, ein Bein über das andere geschlagen, die Finger an einem schmalen goldenen Becher, der in dem fahlen Licht aufblitzte. Sie wirkte wie eine Katze, die sich in einer fremden Höhle eingerichtet hatte – unruhig genug, um jederzeit aufspringen zu können, aber sicher genug, um den Eindruck zu erwecken, dass sie jeden Winkel bereits kannte. Ihr Blick wanderte über Jhea’kryna, nicht hastig, nicht respektlos offen – sondern in diesem kalkulierten Maß, das wie eine höfische Geste wirkte, aber doch jedes Detail prüfte.
[i]„Willkommen, Jhea’kryna Ky’Alur. Willkommen, Shinayna Zauviir.“[/i]
Felyndiiras Stimme war tief und klar, ohne jedes Zittern. Sie sprach die Namen in der Reihenfolge, die Tradition und Rang vorgaben – und doch lag in dem kaum wahrnehmbaren Zögern zwischen ihnen ein feiner Faden von Gewicht. [i]„Möge dieser Rat der Stadt zur Ehre der Herrin sprechen.“[/i]
Shinayna neigte den Kopf, ihre Lippen formten ein Lächeln, das nie den Augen erreichte. [i]„Es ist… bemerkenswert, euch beide hier zu sehen,“[/i] sagte sie, und die leichte Betonung auf dem Wort [b]„bemerkenswert“[/b] ließ genug Raum für Deutungen, die weit über die wörtliche hinausgingen. [i]„Manche Steine liegen so lange in der Tiefe, dass man vergisst, sie überhaupt noch zu wenden.“[/i] Ihr Blick glitt wie ein Dolchstoß zu Jhea – und hielt dort für einen Herzschlag zu lange inne.
Jhea'kryna erwiderte diesen Blick ohne jede Regung. Sie ging die Stufen zu ihrem Platz hinauf, drehte sich erst, als sie die Armlehnen ihres Sitzes berührte, und sprach mit jener kontrollierten Kälte, die weder Eile noch Unsicherheit kannte: [i]„Und doch finden sich manche Steine genau dann im Weg, wenn ein neues Fundament gelegt wird.“[/i] Die Worte waren höflich genug, um als Erwiderung zu gelten – und scharf genug, um zu schneiden, wenn man ihre Schichtungen verstand.
Felyndiira ließ ihren Blick zwischen beiden hin und her gleiten. Sie sprach nicht sofort, und in der Stille lag mehr Gewicht als in jedem Wort. [i]„Wir sind hier, weil die Stadt uns ruft. Nicht für alte Rechnungen, sondern für das, was vor uns liegt.“[/i] Es war ein Satz, der wie eine Mahnung klang, aber zugleich die Erinnerung trug, dass sie als Ilharess des Ust’Qu’ellar derzeit über beiden stand.
Shinayna hob leicht eine Braue, das Lächeln blieb. [i]„Oh, gewiss. Und doch…“[/i] Sie ließ den Satz einen Moment schweben, drehte den Becher in der Hand, so dass das Licht darin brach. [i]„Man könnte meinen, wer sich lange aus den Hallen der Stadt fernhält, kehrt nur zurück, wenn es gilt, den Platz am Tisch zu sichern.“[/i] Der Tonfall war samtweich, doch der Stachel darin war unüberhörbar.
Reyviira, an Jhea'krynas Seite, bewegte sich kaum, doch in ihren Augen blitzte ein Funke auf. Kyrii’linth hingegen ließ ein kaum hörbares, kehliges Laut entweichen – nicht Zustimmung, nicht Missbilligung, eher ein Kommentar, der nur in ihrem Kopf wirklich klangvoll war.
Jhea'kryna neigte den Kopf, und ein Hauch von Lächeln spielte um ihre Lippen. [i]„Es ist klug, den Platz am Tisch zu sichern, Shinayna. Vor allem, wenn man weiß, wie leicht andere von ihm fallen können.“[/i] Die Anspielung lag schwer im Raum – jeder wusste, dass Ky’Alur einst etwas ergriffen hatte, was Zauviir so sehr begehrte, dass sein Verlust noch immer wie ein Dorn im Fleisch saß.
Felyndiira hob leicht die Hand, nicht als Befehl, sondern als Geste, die jede Antwort bremste. [i]„Wir sind Töchter der Herrin, nicht ihre Widersacher. Lasst uns die Schärfe für das verwenden, was Elashinn wirklich bedroht.“[/i] Ihre Stimme schnitt den Raum in zwei Hälften – und für einen Moment schien es, als würde dieser Rat tatsächlich von Höflichkeit getragen. Doch unter den Worten floss ein anderes Gespräch weiter, still und unausgesprochen, zwischen Blicken, Betonungen und jenen Lücken, die nur gefüllt werden konnten, wenn man den Faden kannte, der sie verband.
[i]„Wir sind hier,“[/i] begann sie, [i]„weil das Herz der Stadt in Gefahr ist. Der Tempel der Herrin steht noch, doch er atmet schwer.“[/i]
Die Worte hallten in dem steinernen Raum nach, und für einen Moment schien es, als lausche selbst das schwache Flackern der Spinnenlaternen dem Klang. [i]„Die Beben der vergangenen Zyklen haben nicht nur die Gänge zu den unteren Schreinen verwundet,“[/i] fuhr sie fort, [i]„sie haben Risse in den Hauptsäulen geöffnet, so tief, dass die Wärme der Tiefe selbst den Altarraum berührt. Manche sehen darin ein Werk der Natur. Andere…“[/i] Sie ließ den Satz hängen, und der Blick, den sie über den Tisch gleiten ließ, machte klar, dass sie wusste, wer „die anderen“ waren.
Shinayna war die Erste, die den Faden aufnahm. [i]„Vielleicht,“[/i] sagte sie mit einer Stimme, die schmeichelte, ohne weich zu sein, [i]„liegt der Riss nicht nur im Stein.“[/i] Sie lehnte sich leicht vor, den goldenen Becher nun mit beiden Händen haltend. [i]„Manche sagen, die Herrin entzieht ihren Segen nicht ohne Grund. Dass sie Zeichen setzt, wenn jene, die ihren Tempel führen, ihren Blick von ihr abwenden.“[/i]
Sie sprach nicht laut, doch in der Stille des Saales trugen ihre Worte wie ein Dolch, der langsam, fast sanft, in weiches Fleisch drang. Kein Name fiel, und doch wusste jeder, wessen Hand gemeint war.
Jhea’kryna bewegte sich nicht sofort. Sie ließ die Worte zwischen ihnen sinken, wie man ein Netz sinken lässt, um zu sehen, ob es sich füllt. Dann richtete sie sich ein wenig auf, und in der Art, wie sie die Hände auf die Armlehnen legte, lag ein Besitzanspruch, der keiner Erklärung bedurfte. [i]„Die Hand der Herrin,“[/i] erwiderte sie, [i]„hat mich vor aller Augen berührt. Es war nicht in der Stille eines Hinterzimmers, nicht in den Schatten, wo nur wenige sehen. Es war im Licht des Altars, und es war für alle sichtbar.“[/i] Ihre Stimme wurde nicht lauter, doch das Gewicht in ihr verdichtete sich. [i]„Wenn ihr ein Zeichen sucht, wem sie dieses Werk anvertraut, so habt ihr es bereits gesehen.“[/i]
Ein kurzes, kaum merkliches Zucken ging durch Shinaynas Miene, wie ein Haarriss in einer polierten Oberfläche. [i]„Zeichen,“[/i] wiederholte sie, als koste sie das Wort. [i]„Zeichen können viel bedeuten. Manchmal sind sie Warnung, manchmal sind sie Prüfung. Nicht jede Berührung ist ein Segen.“[/i]
Felyndiira ließ sie nicht weiterreden. „[i]Was es auch sei – Segen oder Prüfung – der Tempel muss gerettet werden.“[/i] Sie verschränkte die Hände, die langen, schmalen Finger ruhten ineinander wie Ranken. [i]„Und wir müssen entscheiden, wer diese Aufgabe führt.“[/i]
[i]„Die Antwort ist einfach,“[/i] sagte Jhea ohne Zögern. [i]„Man baut kein Netz, indem man die Fäden den Ungeübten überlässt. Ky’Alur wird den Tempel nicht nur reparieren – wir werden ihn neu errichten. Größer, stärker, ein Werk, das die Herrin stolz macht und jeden daran erinnert, wem diese Stadt gehört.“[/i]
Shinayna lachte nicht – aber ihr Blick tat es für sie. [i]„Größer, stärker… und natürlich in den Händen derer, die am meisten zu gewinnen hat.“[/i] Sie drehte den Becher in der Hand, als sei es ein zufälliger Gedanke. [i]„Doch wer lange fern war, muss sich erst erinnern, wie die Hallen klingen. Vielleicht wäre es klüger, das Werk denen zu überlassen, die noch die Stimmen der Mauern kennen.“[/i]
[i]„Ihr meint euch selbst,“[/i] erwiderte Jhea'kryna leise, fast freundlich. [i]„Die Mauern, von denen ihr sprecht, haben schon lange keine Stimme mehr. Sie wurden euch genommen – nicht, weil sie schwach waren, sondern weil ihr sie nicht halten konntet.“[/i]
Es war ein Satz, der keine erhobene Stimme brauchte, um zu treffen. In der Luft zwischen ihnen lag ein Gewicht, das schwerer war als jeder Stein des Tempels.
Felyndiira unterbrach, bevor die Stille zu scharf wurde. [i]„Neutralität,“[/i] sagte sie, und das Wort klang aus ihrem Mund wie ein Befehl. [i]„Der Tempel ist nicht nur ein Symbol für uns drei Häuser, er ist das Symbol für ganz Elashinn. Wer ihn führt, muss im Namen aller handeln – nicht im eigenen.“[/i]
Jhea wandte den Blick zu ihr. [i]„Neutralität ist ein schönes Wort, Felyndiira. Aber ein Tempel, der im Namen aller gebaut wird, gehört am Ende niemandem – und das ist eine Einladung für jeden, ihn zu beanspruchen.“[/i]
[i]„Und das wollt ihr verhindern, indem ihr ihn gleich zu Beginn für euch beansprucht?“[/i] fragte Shinayna, und ihr Tonfall war süß wie vergorener Wein.
[i]„Ich will verhindern,“[/i] sagte Jhea, [i]„dass er schwach beginnt. Und Schwäche kann man sich nicht leisten – nicht in Stein, nicht in Blut.“[/i]
Ein Moment der Stille legte sich über den Saal, so dicht, dass man das Knacken des Harzes in den Laternen hören konnte. Shinaynas Blick blieb noch einen Herzschlag lang auf Jhea ruhen, dann senkte sie den Becher, den sie in den Händen hielt, und lehnte sich zurück. Mehr musste sie nicht sagen – das Gift war gesetzt, und jeder im Raum wusste es.
Felyndiira erhob sich nicht vollständig von ihrem Platz; sie richtete sich nur ein Stück auf, so dass das Licht der Spinnenlaternen über ihre Gesichtszüge glitt und sie im Halbschatten fast wie eine geschnitzte Figur wirkte. Ihre Stimme, als sie sprach, war nicht laut, aber so getragen, dass jedes Wort wie eine gezielt gesetzte Perle in den Raum fiel.
[i]„Ein Tempel ist nicht nur Stein und Symbol. Er ist Erinnerung. Jeder Pfeiler, jede Gravur, jeder Riss erzählt von den Zyklen, die wir überstanden haben. Ich habe Hallen gesehen, die älter sind als jedes Bündnis, das wir drei heute an diesem Tisch vertreten. Sie standen, weil ihre Erbauer nicht nur an Macht dachten, sondern an Bestand.“[/i]
Sie verschränkte die Hände auf der Lehne ihres Stuhles, und der Blick, den sie in den Saal warf, schloss Jhea und Shinayna gleichermaßen ein. [i]„Die Beben haben die Mauern verwundet, ja. Aber sie haben auch etwas offengelegt: Wir haben den Tempel zu einem Werkzeug im Spiel der Häuser gemacht. Er war ein Ort der Herrin – und wir haben ihn zu einer Bühne für uns selbst geformt. Das mag uns kurzfristig dienen. Langfristig aber schwächt es uns alle.“[/i]
Ihr Blick verharrte auf einem Punkt über den Köpfen der Zuhörer, als würde sie das Gewicht alter Erinnerungen messen. [i]„Ich will einen Tempel, der nicht einem Haus gehört. Einen Tempel, der die Zyklen überdauert, weil er nicht in den Rivalitäten der Stunde verstrickt ist. Die Führung des Wiederaufbaus muss in neutralen Händen liegen – und ja, ich zähle Noquar zu diesen Händen, weil wir seit jeher das Gleichgewicht wahren.“[/i]
Sie hob eine Hand, bevor jemand einwenden konnte. [i]„Nicht weil wir schwach sind. Sondern weil wir stark genug sind, nicht alles an uns zu ziehen, was wir greifen könnten. Ich will einen Tempel, der in hundert Zyklen noch steht – und nicht bei jedem Machtwechsel neu beansprucht wird.“[/i]
Shinayna saß noch immer zurückgelehnt, doch sie löste eine Hand vom Becher und ließ die Fingerspitzen über die Armlehne gleiten, als würde sie die Maserung des Basalts studieren. Ihre Stimme war glatter als zuvor, fast schmeichelnd, doch jeder Laut trug einen feinen Haken.
[i]„Ein Tempel, der allen gehört, gehört am Ende niemandem. Und was niemandem gehört, wird von allen vernachlässigt.“[/i] Sie richtete sich ein Stück auf, und das Licht fing in den Ringen an ihren Händen. [i]„Die Herrin verlangt nicht nur Bestand – sie verlangt Kraft. Sie prüft uns, und wenn sie einen Riss sendet, dann ist das keine Einladung, in der Vergangenheit zu verharren. Es ist ein Befehl, zu erneuern.“[/i]
Ihr Blick glitt zu Jhea, nicht lange, aber lange genug, dass der Tonfall ihrer nächsten Worte nicht als Zufall gelten konnte. [i]„Und Erneuerung braucht frische Hände. Hände, die den Staub der alten Hallen nicht schon seit Jahrhunderten einatmen. Hände, die nicht nur wissen, wie man Steine setzt, sondern wie man Mauern so baut, dass sie nicht wieder bröckeln.“[/i]
Sie beugte sich leicht vor. [i]„Zauviir kann diesen Tempel zu einem Ort machen, der nicht nur der Herrin dient, sondern auch der Stadt als Ganzes – als Zeichen, dass wir nicht nur bewahren, sondern wachsen. Wir können die Handelsadern mit dem Bau verbinden, neue Künste einführen, Handwerker aus entfernten Enklaven einbinden. So wird der Tempel nicht nur ein Heiligtum, sondern ein Zentrum, das Wohlstand bringt.“[/i]
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte ihre Lippen. [i]„Natürlich braucht es dazu die Bereitschaft, jenen die Führung zu geben, die bereit sind, den Preis zu zahlen – in Arbeit, in Ressourcen, in Hingabe. Wer diesen Preis nicht tragen will, sollte sich nicht um den Thron des Altars bemühen.“[/i]
Jhea rührte sich erst, als das Schweigen nach Shinaynas Worten lang genug geworden war, dass jeder im Raum wusste, sie würde es brechen. Sie erhob sich langsam, so dass das Silber in ihrem Kleid bei der Bewegung aufflackerte, als hätte das Licht selbst entschieden, ihr zu folgen.
[i]„Ein Tempel ist kein bloßes Bauwerk. Er ist der sichtbare Arm der Herrin in dieser Stadt. Wer ihn betritt, soll ihre Macht fühlen, nicht nur ihre Worte hören.“[/i] Ihre Stimme war fest, doch nicht laut – sie sprach nicht, um zu übertönen, sondern um jeden dazu zu zwingen, sich zu neigen, um sie zu hören.
[i]„Die Beben haben den alten Tempel verwundet, und ja – vielleicht war es ein Zeichen. Aber Zeichen sind nur so stark, wie unsere Antwort darauf.“ [/i]Ihr Blick ging erst zu Felyndiira, dann zu Shinayna. [i]„Ky’Alur hat die Antwort bereits gegeben. Die Herrin hat mich vor aller Augen berührt, und dieses Zeichen war kein leeres Spiel. Es war eine Wahl. Ich werde diesen Tempel nicht flicken. Ich werde ihn neu weben – Stein für Stein, Faden für Faden – zu einem Werk, das nicht nur hier, sondern in den ganzen Tiefen bekannt sein wird.“[/i]
Sie ging einen Schritt vor, die Hände locker an den Seiten. [i]„Er wird größer sein als jeder, den diese Stadt bisher gesehen hat. Seine Türme werden den Rauch der Tiefe fangen, seine Hallen werden das Licht der Spinnenlaternen so tragen, dass kein Schatten leer bleibt. Jeder, der den Namen Elashinn hört, soll auch den Tempel sehen – und wissen, dass er von Ky’Alur errichtet wurde.“[/i]
Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen, gefährlichen Lächeln. [i]„Das ist keine Anmaßung. Es ist die Pflicht der Erwählten. Wer dieses Werk führt, führt nicht nur Steinmetze und Baumeister – er führt die Gläubigen selbst. Und ich sage euch: Nur wer den Blick der Herrin kennt, kann diese Führung tragen."[/i]
Die Luft im Saal hatte sich verdichtet. Die Worte der drei Matriarchinnen hingen wie fein gesponnene Fäden zwischen ihnen – glänzend, verlockend, aber unter Spannung. Jeder wusste, dass ein falsches Wort einen Riss reißen konnte, der weit tiefer ging als jede Baunarbe im Tempel.
Felyndiira saß wieder so reglos wie zu Beginn, die Finger verschränkt, das Gesicht undurchdringlich. Ihre Worte hatten den Mantel der Neutralität getragen, doch in den Augen lag ein Funkeln, das verriet, wie sorgfältig sie jede Regung der beiden anderen maß.
Shinayna hingegen wirkte wie eine Klinge, die knapp in der Scheide ruht – glänzend, gefährlich und bereit, sich zu bewegen, wenn der richtige Druck kam. Ihr Blick ruhte zu oft auf Jhea, um Zufall zu sein, und jedes Mal lag darin diese unausgesprochene Erinnerung an das, was Ky’Alur ihr Haus einst gekostet hatte.
Jhea spürte es. Und sie wusste, dass der Kampf um den Tempel kein Streit über Stein oder Baupläne war.
[i]„Ich will verhindern,“[/i] sagte Jhea, [i]„dass er schwach beginnt. Und Schwäche kann man sich nicht leisten – nicht in Stein, nicht in Blut.“[/i]
Die Worte hingen in der Luft, schwer wie ein gespanntes Netz. Shinayna neigte den Kopf leicht, als koste sie den Klang noch einmal aus, und ihre Lippen verzogen sich zu diesem halben Lächeln, das weder Freude noch Zustimmung war.
[i]„Stärke ist ein schönes Wort,“[/i] erwiderte sie, weich wie ein Samtband, das einen Dolch umwickelt. [i]„Doch zu viel davon zur falschen Zeit – und selbst der stärkste Stein bricht.“[/i]
Ein leises Knistern ging durch die Flammen der Spinnenlaternen, als Jhea den Blick hielt. [i]„Besser, er bricht an meiner Hand, als dass er in eurer verrottet.“[/i] Die Worte waren kühl, fast freundlich, aber jeder im Saal hörte den Unterton.
Felyndiira erhob sich nicht ganz, richtete sich aber so weit auf, dass das Licht ihre Züge streifte. [i]„Genug. Wir sind nicht hier, um Metaphern zu zerlegen, sondern um den Willen der Herrin zu erfüllen. Der Tempel braucht eine Entscheidung, keine Poesie.“[/i]
[i]„Dann sollen wir abstimmen,“[/i] schlug Shinayna vor, die den Blick nicht von Jhea'kryna nahm.
[i]„Wir stimmen nicht über die Wahl der Herrin ab,“[/i] erwiderte Jhea leise. [i]„Wir erkennen sie.“[/i]
Ein Murmeln ging durch den Saal. Felyndiira hob die Hand, und die Stille fiel wie ein Messer. [i]„Wir erkennen, dass wir uns heute nicht einigen werden. Aber wir werden den Tempel nicht seinem Schicksal überlassen. Ich werde in den nächsten Zyklen zu einer weiteren Beratung laden.“[/i]
Offiziell war das Ende des Rates damit besiegelt. Die Höflichkeiten wurden wieder ausgetauscht, Verneigungen vollzogen, die Eskorte sammelte sich. Doch als Jhea'kryna den Blick ein letztes Mal zu Shinayna wandte, war kein höfischer Schleier mehr in ihren Augen.
In diesem Moment fasste sie den Entschluss.
Zauviir hatte sie im Rat herausgefordert, vor Zeugen. Das war nicht nur eine Beleidigung – es war ein Angriff. Und sie würde ihn beantworten. Nicht sofort, nicht mit Worten. Sondern so, dass, wenn es vorbei war, jeder in Elashinn wusste, wer das stärkste Haus war und wem der Tempel gehören würde.
[b][size=200][Center]⊱⋅ ───────── ༻ [color=#800080]𝔎𝔶'𝔄𝔩𝔲𝔯[/color] ༺ ───────── ⋅⊰[/Center][/size][/b]