Kapitel 1 - Der Pfad der Spinne - Zwischen Klinge und Gebet

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Wenn Matronen fallen

von Jhea'kryna Ky'Alur » 27 Aug 2025, 00:25

Die schweren Türen des inneren Saals hingen nur noch an einem Scharnier, halb verbrannt, halb gesplittert. Der süßliche Gestank von verbranntem Fleisch mischte sich mit dem metallischen Geruch von Blut, das in Rinnsalen die Stufen hinabfloss. Jhea’kryna trat über die Schwelle, ihre Leibgarde knapp hinter ihr, doch mit einer Geste ließ sie sie zurückbleiben. Dies war kein Kampf für viele Klingen. Dies war ein Kampf der Priesterinnen.

Shinayna Zauviir stand aufrecht in der Mitte des Saales, als hätte sie auf diesen Moment gewartet. Ihr weißes Haar war blutig und zerzaust, die Robe in Fetzen, doch in ihren Augen brannte ein kaltes, ungebrochenes Feuer. Um sie lagen die Leiber zweier Ky’Alur-Krieger, von Zaubern verbrannt bis zur Unkenntlichkeit. Ihre Schlangenpeitsche zuckte in ihrer Hand wie eine lebendige Bestie, und die Luft um sie knisterte von noch nicht entladenen Bannzaubern.

„So kommt sie also,“ sagte Shinayna, ihre Stimme dunkel und von Spott durchzogen, „die selbsternannte Herrin Elashinns. Die Spinne, die glaubt, größer zu sein als ihr Netz.“

Jhea schritt weiter voran, langsam, gemessen, jede Bewegung ein Bild von Kontrolle. Ihre eigenen Augen glühten karmesinrot im Licht der brennenden Spinnenbanner, und die Peitsche in ihrer Hand bewegte sich kaum merklich, als spüre sie die Gier nach Blut. „Selbsternannt?“ wiederholte sie, und ihr Ton war so glatt, dass er schärfer schnitt als jede Klinge. „Sag das der Göttin. Sie hat dein Haus geprüft – und es als schwach befunden.“

Shinayna lachte, ein bitteres, kehliges Lachen, das an den steinernen Wänden hallte. „Die Göttin prüft uns alle, Ky’Alur. Doch was sie dir gab, werde ich dir entreißen. Heute endet dein Netz – und mein Haus wird auf deinen Knochen neu auferstehen.“

Ein dumpfes Beben ging durch die Halle, nicht von der Erde, sondern von der Magie, die beide Frauen heraufbeschworen. Funken zuckten zwischen den Bannkreisen, die Shinayna im Staub gezogen hatte, und das Schwarzviolett von Jheas Aura verdichtete sich zu einem Netz aus brennenden Linien, das über ihren Armen pulsierte.

„Dann komm,“ sagte Jhea und hob die Peitsche, ihre Stimme nicht laut, aber getragen wie ein uraltes Gebet. „Lass uns sehen, wem Lloth ihre Gunst schenkt.“

Mit einem Schlag begannen die Schatten zu beben.
Beide Schlangenpeitschen zischten durch die Luft. Jheas Waffe fuhr in einer weiten Kurve auf Shinaynas Kopf zu, doch deren Peitsche schlang sich darum, wickelte sich in einem Augenblick aus Schatten und Geschwindigkeit um den ledernen Griff. Ein Ruck, als beide Waffen gegeneinanderprallten, sich verhedderten und beide Ilharessen an ihrem Ende zogen..
Magie entlud sich. Schwarze Blitze zuckten zwischen den Gestalten, rissen Narben in den Boden. Ein Thron aus Onyx, der einst das Symbol der Zauviir gewesen war, barst krachend, Splitter flogen wie Dolche durch den Raum.

Shinayna hob die linke Hand, ihre Finger zeichneten Runen in die Luft. Aus dem Staub krochen Spinnen – nicht aus Fleisch, sondern aus Schatten und Blut. Sie stürzten sich auf Jhea, ihre Beine schnitten wie Messer. Jhea wehrte die erste mit der Peitsche ab, die Schlangenköpfe zerrissen den Leib der Bestie, doch zwei weitere sprangen ihr an die Schultern.
Ein Knurren, tief, fast tierisch, entrang sich ihrer Kehle, und sie stieß beide Wesen mit einer Explosion aus violettem Feuer von sich. „Viel zu einfach,“ zischte sie, während die verkohlten Überreste zu Asche zerfielen.

„Du bist nicht die Einzige, die Lloth hört!“ rief Shinayna, und ihre Stimme hallte wie Donner durch den Saal. Mit einer Bewegung riß sie die Luft selbst auf, und aus der Kluft sprang eine Flut kleiner Spinnen, ein Schwarm, der Jhea umhüllte, sie einspinnen wollte in Fäden, die heiß wie Eisen brannten. Jhea stolperte, zum ersten Mal schien der Rhythmus ihrer Bewegungen zu brechen. Die Schatten um ihre Gestalt flackerten, und die Spinnen woben sich um ihre Arme, um ihre Beine. Ein Lächeln voller Triumph huschte über Shinaynas Gesicht.

„Endlich auf den Knien,“ spottete sie, und mit der Peitsche schlug sie vor – die Schlangen zischten, ihre Zähne schnitten über den Stein, so nah an Jheas Gesicht, dass sie die Hitze des Zaubers spürte.

Ein Moment – und es schien, als würde die Ilharess Ky’Alur unterliegen.

Doch dann hob sie langsam den Kopf. Ihre Augen glühten wie zwei glühende Kohlen in der Schwärze. „Auf den Knien?“ flüsterte sie, und ihre Stimme vibrierte, tief und gefährlich. „Nein. Ich knie nur vor der Göttin.“

Ein Ruck ging durch ihren Körper. Schwarze Flammen brachen aus ihr hervor, verbrannten die Spinnen, rissen die Netze auseinander, bis nur noch Asche zurückblieb. Sie stand wieder aufrecht, die Peitsche zischte in der Luft, und in diesem Augenblick wirkte sie größer, stärker – als sei Lloth selbst durch sie hindurchgefahren.

Shinaynas Lächeln erstarb.

„Du bist stark,“ presste Shinayna hervor, ihre Stimme schwankte zwischen Zorn und Unglauben. „Aber Stärke reicht nicht, wenn man allein ist. Dein Haus wird fallen, so wie du es tust.“

„Mein Haus,“ entgegnete Jhea, „steht bereits über dem Leichnam des deinen.“

Sie schlug mit der Peitsche, und fünf Schlangenköpfe zischten, bissen in die Schatten selbst, die Shinayna umgaben. Die Zauviir-Matriarchin kreischte, hob die Hände und warf ihr ganzes Gewicht in einen letzten Zauber. Die Luft verzog sich, Flammen und Blitze vermischten sich, und eine Welle roher Energie prallte auf Jhea. Der Einschlag schleuderte die Ilharess mehrere Schritte zurück, Steine splitterten, Staub füllte die Halle. Für einen Augenblick war nichts zu sehen, nur das Knistern der entladenen Magie. Shinayna keuchte, Schweiß rann ihr über die Stirn, und in ihren Augen flackerte Hoffnung – die Hoffnung, dass sie gewonnen hatte. Doch dann riss der Staub auf.
Jhea stand noch. Blut rann ihr von der Schläfe, ihr Kleid war verbrannt, doch ihr Blick war klar, ungebrochen – und nun voller fanatischer Glut.

„Lloth gibt nicht den Stärkeren,“ sagte sie langsam, ihre Stimme so tief, dass sie durch Mark und Bein fuhr. „Sie gibt den Gnadenloseren.“

Mit einer Geste hob sie beide Hände. Der Boden selbst barst auf, Spalten rissen durch den Thronsaal, und aus ihnen schossen Fäden aus schwarzer Energie – Spinnennetze aus Flamme und Schatten. Sie spannten sich um Shinayna, zogen sich enger, schärfer, bis sie in ihr Fleisch schnitten. Die Matriarchin Zauviir schrie, wand sich, versuchte die Netze mit Feuer zu verbrennen, doch das Netz fraß ihre Magie, trank ihre Zauber wie Blut. Ihre Peitsche fiel klirrend zu Boden, ihre Knie gaben nach.

Jhea trat näher, jede Bewegung schwer vor Macht. „Dein Haus stirbt mit dir,“ sprach sie, „und dein Name wird gelöscht. Lloth webt neu – ohne dich.“

Dann schloss sich das Netz. Ein gleißender Ruck, ein Aufschrei, der abrupt verstummte – und was von Shinayna übrigblieb, war ein schwarzer, verkohlter Leib, der zu Boden fiel und in Asche zerfiel.
Die Stille danach war drückend. Nur das Knistern der brennenden Banner war zu hören.
Jhea hob die Schlangenpeitsche Reyviiras in die Höhe, und ihre Stimme hallte durch den zerstörten Thronsaal:

„Das Haus Zauviir ist gefallen! Ky’Alur ist das Netz!“

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Das letzte Urteil über Vhyl’zyrr Zauviir

von Lyr'sa Teb'inyon » 21 Aug 2025, 15:56

Staub und Blut lagen wie ein Schleier über der Bresche, als Lyr’sa sich durch den Rauch drückte. Ihr Herz schlug so laut, dass es ihr vorkam, als könnten die Krieger um sie es hören – ein Trommeln, das sie verriet. Jeder Schritt war schwer, ihre Hände feucht, die Armbrust an ihrer Seite fühlte sich an, als würde sie gleich zu Boden rutschen. Sie war keine Kriegerin. Sie war keine Anführerin. Und doch hatte die Ilharess ihr einen Platz in dieser Schlacht gegeben – nicht aus Vertrauen, sondern aus der Logik des Netzes: Versage ein letztes Mal, und es gibt keinen weiteren Morgen.

Um sie tobte die Hölle. Ky’Alur-Krieger, geschwärzt vom Staub der eingestürzten Mauern, schrien im Blutrausch und stürmten nach vorn. Lyr’sa duckte sich, stolperte fast, und wurde im nächsten Augenblick von einer Hand am Arm hochgerissen – ein Soldat, dessen Gesicht unter dem Helm verborgen blieb. „Hier entlang!“ brüllte er sie an, und ohne es zu wollen, lief sie mit.

Ein Gang tat sich vor ihnen auf, schmal, die Fackeln an den Wänden schwach, doch er führte tiefer ins Herz des Qu’ellar. Dort standen fünf Zauviir-Krieger, Klingen gezückt, die Gesichter kalt wie Stein. Lyr’sa fror in der Bewegung ein – doch die Männer um sie sahen nur ihre Geste, den nervösen Fingerzeig nach vorn. Für sie war es Befehl. Ein Aufschrei, dann stürzten sie los.
Es war ein Schlagabtausch wie von Tieren. Stahl gegen Stahl, Schmerzensschreie, Blut, das die Wände sprenkelte. Zwei Ky’Alur fielen, ihre Körper zuckten noch, als die nächsten schon in die Bresche drangen. Lyr’sa stand wie erstarrt, ihre Knie weich, bis sie merkte, dass sie die Armbrust noch immer an sich gedrückt hielt.

„Schieß doch,“ flüsterte sie sich selbst zu. „Tu wenigstens das…“

Ihre Hände zitterten, als sie den Bolzen einlegte, den Mechanismus spannte. Ein Krieger vor ihr wurde zu Boden gestoßen, ein Schrei, dann trat eine Frau ins Licht. Keine gewöhnliche. Eine Priesterin. Roben, die einst makellos gewesen waren, nun mit Blut besudelt. Ihre Augen funkelten vor Hass, und sie hob die Hand, ein Bannspruch schon auf den Lippen.
Lyr’sa zielte nicht. Sie hob nur die Armbrust, drückte ab – der Bolzen fuhr durch den Raum, surrte, und bohrte sich in die Schulter der Frau. Ein gellender Schrei durchschnitt die Enge des Ganges. Die Priesterin taumelte zurück in einen Raum, ließ das Zeichen des Zaubers fallen und stolperte hastig auf einen schmalen Balkon hinaus, der hoch über dem Hof lag. Sie griff nach dem Stein, Blut rann an ihrem Arm hinab, und sie war gefangen – zu hoch, um zu fliehen, zu verletzt, um weiterzukämpfen.

Lyr’sa keuchte, der Armbrustschaft glitt ihr beinahe aus den Händen. Sie hatte getroffen. Sie hatte… etwas getan.
Aber in ihr wirbelten die Stimmen: War das genug? Reicht das? Wird die Ilharess… zufrieden sein?

Da öffnete sich hinter ihr eine schwere Tür. Schritte hallten, ruhig, unerbittlich. Lyr’sa wusste, ohne sich umzudrehen, wer es war. Die Luft schien sich zu verdichten, als Jhea’kryna Ky’Alur den Raum betrat. In ihren Augen glomm der Zorn der Göttin selbst, und ihre Schritte waren lautlos, obwohl die Stiefel über Stein gingen. Ihr Blick schweifte nur kurz durch den Gang, dann zu dem Raum – und blieb sofort hängen. An der Wand, fast achtlos auf ein Podest gelegt, lag eine Waffe, deren Anblick wie ein Dolch ins Herz war: eine Schlangenpeitsche, deren Schuppenglanz unverkennbar war. Reyviiras Peitsche.

Jheas Züge verhärteten sich, als sich ihr Blick dann nach oben hob – zu der verletzten Gestalt auf dem Balkon. Vhyl’zyrr Zauviir, die Priesterin. Blut über die Schulter, Atem gepresst, Augen voller Hass und Angst zugleich. Die Ilharess sprach kein Wort. Aber die Stille, die sie mitbrachte, war härter als jedes Urteil.
Die Stille hielt nur einen Herzschlag. Dann schritt Jhea’kryna voran, ihre Augen unverwandt auf die Waffe an der Wand gerichtet. Die Schlangenpeitsche – unverkennbar die von Reyviira – schien selbst jetzt noch zu zischen, als sehne sie sich nach der Hand, die sie einst geführt hatte. Jhea nahm sie auf, drehte sie einmal langsam in der Hand, und jede Bewegung war so bedächtig, dass die Soldaten ringsum unwillkürlich innehielten.

Dann hob sie den Blick zum Balkon. Vhyl’zyrr Zauviir keuchte, presste die verletzte Schulter gegen den Stein. Ihr Atem war unregelmäßig, ihre Augen weit aufgerissen. Doch noch brannte in ihnen Trotz. Ein Trotz, den Jhea nicht verachtete – sondern der ihr gefiel. Denn er machte den Fall tiefer.

„Du hast etwas, was dir nicht gehört,“ sagte die Ilharess leise, aber ihre Stimme füllte den Raum wie das Grollen eines nahenden Bebens. „Und du hast genommen, was dir nie gewährt war.“ Sie hob die Peitsche leicht an, so dass die Priesterin sie klar sehen konnte. „Diese Waffe gehörte meiner Tochter. Und sie trägt ihr Blut. Dein Blut.“

Ein Zittern ging durch Vhyl’zyrrs Gesicht. Sie wollte sprechen, doch Jhea hob nur eine Hand. Schatten aus dem Nichts woben sich empor, spinnenhafte Fäden, die sich an den Armen und Beinen der Priesterin legten. Langsam, unausweichlich, zogen sie sie nieder, zwangen sie vom Balkon auf die Knie. Ihre Schreie hallten, als die Sehnen in ihrer Schulter schmerzten, doch sie versuchte sich nicht zu befreien – sie wusste, es war nutzlos.

„Sieh,“ flüsterte Jhea, und drehte sich halb, so dass die Priesterin den Blick hinaus durch die offene Bogentür erhaschen musste.

Draußen, im Hof, tobte das Massaker. Krieger des Hauses Ky’Alur drangen wie ein schwarzer Schwarm durch die Breschen. Überlebende der Zauviir, die Hände flehend erhoben, wurden von den Mauern gestoßen, ihre Körper am Boden des umgebenden Grabens zerschmettert. Kinder schrien, schrille kleine Stimmen, ehe sie von den Klingen der Krieger verstummten. Andere, die versucht hatten, in die Gemächer zu fliehen, wurden grob an den Haaren zurückgezerrt, und wurden dem Schwert zugeführt, entweder auf dem Hof oder direkt an Ort und Stelle.

„Das ist dein Werk,“ sprach Jhea, leise und kalt. „Dein Stolz. Dein Blut. Dein Haus.“

Vhyl’zyrr schloss die Augen, doch Jhea trat näher, beugte sich herab und packte sie grob am Kinn, zwang ihren Kopf zurück. „Nein. Sieh. Du wirst jede Klinge sehen, die fällt. Jeden Schrei hören, der erstickt. Und du wirst wissen, dass du überlebt hast – nicht aus Gnade. Sondern damit du erinnerst.“

Sie ließ los, trat einen Schritt zurück. „Legt sie in Ketten,“ befahl sie, und sofort traten zwei Krieger hervor, zerrten die Priesterin zu Boden, legten ihr schwere Eisenfesseln um. Die Ketten klirrten, das Geräusch hallte wie das endgültige Urteil.
Jhea drehte sich nicht mehr um. Sie blickte hinaus in den Hof, wo die letzten Funken des Widerstandes verlöschten, und ihre Stimme war ein schneidendes Versprechen:

„Du wirst länger leben, Vhyl’zyrr. Länger, als du dir wünschen wirst. Und wenn ich dich finde, wenn die Zeit reif ist, dann werde ich dich wandeln. Nicht in den Tod – das wäre zu leicht. Nein. Ich werde dich zum Sinnbild deines Hauses machen: gekrümmt, verdorben, halb Spinne, halb Elfe. Eine Drider. Du wirst noch atmen, wenn niemand den Namen Zauviir zu flüstern wagt.“

Die Priesterin keuchte, und für einen Moment schien es, als bräche ihr Trotz. Ein Laut, halb Wut, halb Verzweiflung, entrang sich ihrer Kehle.

Jhea aber wandte sich ab, die Schlangenpeitsche Reyviiras noch immer in der Hand, und sah ihre Krieger an. „Bringt sie fort. Ich habe noch jemanden zu suchen.“

Ihr Blick blieb an Lyr’sa haftne. Die junge Drow war bleich, das Zittern ihrer Hände kaum verborgen, die Armbrust noch immer halb erhoben, als könnte sie kaum glauben, was ihr gelungen war. Ihr Atem ging stoßweise, ihre Augen schwankten zwischen Angst und Hoffnung – Angst vor dem Urteil ihrer Herrin, Hoffnung, dass dies vielleicht der eine Augenblick war, der all ihre Schmach auslöschte.

Jhea'kryna trat langsam zu ihr, die Schlangenpeitsche Reyviiras lose in der Hand. Einen Atemzug lang tat sie nichts – sie ließ die Stille schwer auf Lyr’sa sinken, so dass diese fast in sich zusammensank. Dann legte sie die Hand mit der Peitsche beiseite, und ihre andere, leere Hand schloss sich wie beiläufig um Lyr’sas Kinn. Sie hob ihr Gesicht an, zwang sie, ihr in die Augen zu sehen.

„Du hast mir mehr gebracht als Blut,“ sprach Jhea leise, so dass nur Lyr’sa es hören konnte. „Du hast mir Gerechtigkeit gebracht.“

Die junge Drow schluckte hörbar, ihre Lippen formten fast ein Wort, doch sie wagte nicht, es auszusprechen.

„Du dachtest, du wärst verloren,“ fuhr Jhea fort, und ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um ihre Lippen. „Doch in der Stunde, da dein Name nichts mehr galt, hast du mir die Feindin gezeigt, die mein Blut vergossen hat. Dafür, Lyr’sa, wirst du nicht vergessen.“

Sie ließ Lyr’sa los, und anstatt sie wegzustoßen, wie es jeder erwartet hätte, hob sie ihre rechte Hand. Zwei Finger legte sie auf die Stirn der Jüngeren, nur einen Augenblick, als wäre es eine Geste des Segens. Kein Zuschauer konnte sagen, ob es wirklich ein heiliger Akt war – oder nur ein Spiel. Aber Lyr’sa fühlte, wie die Berührung durch Mark und Bein ging, wie ein unausgesprochenes Versprechen.

„Unter meinem Netz,“ sagte Jhea schließlich, „wirst du nicht fallen. Nicht, solange du dich erinnerst, wem du dienst.“

Dann wandte sie sich wieder ab, als wäre nichts geschehen. Doch Lyr’sa blieb zurück, die Stirn heiß von der Berührung, unfähig zu sprechen – und wissend, dass dies der Augenblick war, in dem ihr Schicksal an die Ilharess geknüpft worden war.

Und während Vhyl’zyrr fortgezerrt wurde, ihre Ketten schleifend über den Boden, erhob sich das Geschrei aus dem Hof wie ein Choral – das Sterben eines Hauses, das unterging.

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Das Beben und der Sturm

von Jhea'kryna Ky'Alur » 20 Aug 2025, 22:45

𝔇er erste Riß ging fast unbemerkt unter im Donnern der Schlacht. Bolzen zischten über die Mauern, Magier entluden gleißende Blitze in die Reihen der Ky’Alur-Krieger, und die Reiter der Zauviir preschten in ihrer verzweifelten Wucht immer wieder hinaus, nur um vom Hagel aus Pfeilen und Speeren zerschmettert zu werden. Es war Chaos, Blut, Geschrei – das alte Lied des Krieges. Doch dann bebte der Boden.
Ein dumpfes Grollen fuhr durch die Fundamente der unterirdischen Stadt, wie das Grollen eines uralten, erwachenden Wesens. Die Mauern erzitterten, Staub regnete von den Zinnen, und plötzlich barsten die Steine. Ein Turm, stolz und hart wie Zauviirs Hochmut, neigte sich wie ein betrogener Diener und stürzte in sich zusammen.

Die Schlacht stockte für einen Herzschlag. Alle Augen wandten sich zur Bresche, wo die Mauer nun aufgerissen war wie ein offener Leib.

Von ihrem Beobachtungspunkt aus, auf einem schwarzen Basaltvorsprung, sah Jhea’kryna Ky’Alur das Schauspiel. Die Luft vibrierte, ihre Krieger schrien schon vor Begeisterung. Neben ihr stand Kyrii’linth, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, die Lippen zu einem dünnen Strich gepresst.

„Eure kleine Bastardin hat es also wirklich geschafft,“ murmelte Kyrii, kaum laut genug, daß es jemand außer Jhea hörte. Ihre Augen funkelten wie kaltes Glas.
Jhea reagierte nicht sofort. Sie stand da, die Hände leicht erhoben, und betrachtete, wie der Turm in einem Feuerregen aus Staub und Flammen niederstürzte. Dann, langsam, drehte sie den Kopf zu ihrer Yathallar.
„Sie war schwach,“ sagte Jhea kühl. „Aber selbst Schwäche kann man spannen wie einen Faden im Netz. Wenn er reißt, ist er nutzlos. Doch solange er hält, trägt er Gewicht.“

Kyrii’linth verzog keine Miene. Doch ihr Schweigen war schwer, und Jhea wußte, dass selbst sie innerlich ein Nicken nicht zurückhalten konnte.
Da, unter den Kämpfenden, erhob sich die Stimme eines Hauptmannes, laut wie der Schlag eines Kriegshorns: „Vorwärts! Über die Bresche! Für Ky’Alur!“
Er sprang vor, die Klinge hoch erhoben, und seine Einheit folgte ihm, wie Blut, das aus einer aufgeschlitzten Wunde strömt. Sie stürmten in die Bresche, stießen in die klaffende Leere der Mauer, wo eben noch Stolz gestanden hatte.

Jhea’kryna hob die Hand. Ein stilles Zeichen, doch ihre Leibgarde verstand sofort. Die zwölf besten Krieger ihres Hauses, in schwarzem Adamant mit Spinnenmotiven, formierten sich. Die Priesterinnen, die ihr am nächsten standen, senkten ehrfürchtig die Köpfe, während die Magier in der Ferne ihre Zauber bündelten.

„Es ist Zeit,“ sagte sie leise. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, doch es war der Atem, der Sturm brachte.

Kyrii’linth beugte sich leicht vor, die Augen scharf auf das Getümmel gerichtet. „Ihr wollt wirklich mitten hinein? Der Feind ist noch nicht gebrochen.“
„Ein Netz reißt nicht, weil es zieht,“ erwiderte Jhea. „Es reißt, wenn man ihm nicht vertraut.“

Dann setzte sie sich in Bewegung. Ihr Kleid flatterte wie Schatten, ihre Spangen glitzerten im Licht der Flammen, und ihre Leibgarde folgte. Sie stieg die Basaltstufen hinab, hinein in das Tosen.
Ein Feuerball, geschleudert von den Zauviir-Zinnen, raste auf einige Krieger der Ky’Alur zu. Jhea’kryna hob nur die Hand, flüsterte ein altes Wort, und die Flammen zersprangen wie Glas, zerplatzten in einem Schauer funkelnder Splitter, der auf die Erde regnete. Die Krieger, die eben noch dem Tod entgegengesehen hatten, blickten auf – und sahen ihre Ilharess.

„Vorwärts!“ rief einer. „Die Ilharess ist mit uns!“
Ihre Stimmen wurden lauter, ihre Klingen härter, ihr Blut heißer. Sie stürzten sich erneut in den Kampf, nicht länger dem Untergang geweiht, sondern geblendet vom Feuer einer Hoffnung, die grausam und schön zugleich war.
Jhea war schon weitergegangen.
Sie hatte die Geretteten bereits vergessen, ihre Augen nach vorn gerichtet, dorthin, wo das Herz des Feindes noch schlug.
Neben ihr, im Schutz des Zauberschilds, den zwei Priesterinnen hielten, ging Kyrii’linth. Ihr Blick war schmal, ihre Schritte präzise. „Sie würden für euch sterben, ohne zu zögern,“ sagte sie, fast tonlos.
Jhea antwortete, ohne den Kopf zu wenden: „Dann erfüllen sie endlich ihren Zweck.“

Kyrii'linth schwieg. Doch tief in ihren Augen glomm für den Bruchteil eines Herzschlags etwas, das wie Respekt aussah – und das sie sofort wieder in eisige Abneigung tauchte.
Sie erreichten die Bresche. Steine knirschten unter ihren Stiefeln, Staub legte sich wie Nebel auf die Szene. Durch die klaffende Wunde in der Mauer stürmten Krieger, stießen Klingen in Leiber, wurden selbst niedergemacht, und doch drängte die Welle immer weiter hinein.
„Dies ist das Ende der Zauviir,“ sagte Jhea.
Dann trat sie vor, durch die Bresche, hinein in das Herz des brennenden Qu’ellar.

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Die Bresche war kein Tor, kein Triumphbogen – sie war eine klaffende Wunde, roh und unheilvoll, durch die das Chaos strömte. Blut klebte an den Steinen, Schreie hallten zwischen den Mauern, und das Tosen der Schlacht war hier dichter, schwerer, wie eine Flut, die gegen Mauern brandet. Jhea’kryna trat hindurch, ihre Leibgarde im Halbkreis um sie, Kyrii’linth im Schatten ihrer Präsenz. Der Staub hing noch in der Luft, als die erste Welle von Zauviir-Kriegern heranbrach. Ihre Augen glommen rot, ihre Klingen blitzten – verzweifelt, aber noch nicht gebrochen.
Ein Speer fuhr auf sie zu. Jhea drehte sich nicht einmal zur Seite. Sie hob nur die rechte Hand, und der Schaft zerbarst, als hätte er das Netz selbst berührt. Ihre Stimme erhob sich, kalt und messerscharf:

„Ich bin nicht hier, um nur zuzuschauen!“

Ihre Peitsche zischte aus ihrem Gürtel, fünf lebendige Schlangenköpfe schnellten vor. Sie wand sich um die Kehle eines vorstürmenden Hauptmanns, seine Augen traten hervor, als die Zähne der Schlangen sich in sein Fleisch bohrten. Mit einem einzigen Ruck riß Jhea ihn von den Füßen, schleuderte ihn gegen die Mauer, wo er reglos zusammensackte – ein dunkles Mahnmal für alle, die es sahen. Die Reihen der Ky’Alur-Krieger brüllten auf, wie entfesselt.
Blitze zuckten über den Hof, doch nicht nur von den Zauviir-Mauern. Jhea’kryna hob beide Hände, und aus ihren Fingerspitzen schossen Strahlen reiner, violett glühender Macht. Sie trafen zwei Schützen auf der Zinne, verbrannten ihre Körper zu schwarzen Silhouetten, die taumelnd vom Stein stürzten.

Doch dann, mit einer Geste, die größer war als alles zuvor, hob sie die Arme weit empor.
Die Flammen, die überall aus brennenden Balken, Fässern und Leichen züngelten, gehorchten ihrem Willen. Sie sammelten sich, wurden schwarz wie Pech, verdichteten sich zu einer Gestalt, die aus purer, sengender Vernichtung bestand. Ein Elementar der schwarzen Flamme stand vor ihr, seine Gestalt ständig flackernd, als sei er zugleich Feuer und Schatten. Mit einem unirdischen Brüllen raste er vorwärts, sprang an der Mauer empor, und fuhr direkt in einen der Türme. Für einen Herzschlag war Stille. Dann entlud sich ein Inferno. Schwarze Feuerzungen schossen aus allen Fenstern, der Turm selbst wurde zu einer Fackel, die die Nacht erhellte. Schreie hallten aus seinem Inneren, die Wachen, die dort Schutz gesucht hatten, wurden lebendig verschlungen. Der Stein glühte, Risse durchzogen ihn, bis er in sich zusammenstürzte.

Die Krieger Ky’Alurs brüllten wie rasend, der Hof erbebte von ihrer entfesselten Wut. Selbst gestandene Veteranen, deren Herzen schon lange abgehärtet waren, sahen ihre Ilharess an, als stünde Lloth selbst unter ihnen. Kyrii’linth stand neben Jhea, das Gesicht reglos, nur die Augen verrieten ein glühendes Etwas. Sie neigte kaum merklich den Kopf – ein winziger, stolzer Nicken, das sofort in der Maske aus Kälte erfror.

„Ihr habt mehr als Blut entfesselt,“ sagte sie leise, fast tonlos.
„Nein,“ entgegnete Jhea, während sie die Peitsche erneut hob, „ich habe das Netz nur daran erinnert, wessen Fäden es trägt.“

Und dann schritt sie weiter, über die Leichen, durch den brennenden Hof, hinein in das Herz des Zauviir-Qu’ellars.

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Unter der Erde

von Lyr'sa Teb'inyon » 20 Aug 2025, 20:44

Eine halbe Stunde zuvor.
Noch ehe das Beben die Mauern erschütterte, noch ehe das Blut wie Regen durch die Straßen floß, kauerte Lyr’sa tief unter der Erde, dort, wo kein Licht sie fand.
Der Tunnel roch nach Schweiß, Schlamm und Angst. Die Stützbalken, aus altem, halb verfaultem Holz, knackten bei jedem Schritt. Tropfen sickerten von der Decke, liefen über ihre Stirn, sammelten sich kalt an ihrem Hals. Sie hielt die Fackel dicht, das Öl darauf knisterte leise, doch es war das einzige Licht, das die Finsternis zurückdrängte.

„Oh nau …“, murmelte sie, fast tonlos. Ihre Stimme wurde von den feuchten Wänden geschluckt, als hätten sie schon genug von ihren Zweifeln gehört.

Sie ließ sich gegen eine der Balkenlehnen sinken, das Eisen ihres Werkzeugs schwer in der Hand. Ein Stück Stützwerk musste noch gelöst werden, nur noch eins, und dann würde die ganze Konstruktion kollabieren. Sie wußte es – und doch nagte der Zweifel.
Was, wenn die Mauer nicht stürzte?
Was, wenn alles, was folgte, nur Staub und ein paar Risse wären?
Was, wenn Jhea’kryna Ky’Alur, die Ilharess, die ihr diese letzte Chance gegeben hatte, dann nur Spott für sie übrig hätte?


Der Gedanke schnitt tiefer als jeder Dolch.

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Ein paar Tage zuvor.
Sie kniete im großen Saal des Qu’ellar Ky’Alur, den Kopf gesenkt, die Lippen trocken. Jhea’kryna saß hoch oben, der Blick wie geschliffener Obsidian. Lyr’sas Stimme war gebrochen, als sie sprach:

„Malla Ilharess … ich habe versagt. Die Melee Magthere wollte mich nicht. Ich habe mein Haus beschämt. Ich …“

Ein Zischen durchfuhr die Halle – Kyrii’linths Spott, das Kichern einer Yathrin, das Schweigen der Wachen, die nicht einmal den Kopf hoben.

Doch Jhea’kryna sprach, und ihre Stimme schnitt alles andere hinweg.
„Du hast versagt, ja. Doch Lloth liebt es, aus den Schwachen Waffen zu machen, die keiner erwartet. Bring mir einen Sieg, Lyr’sa. Einen Sieg, den Zauviir nicht kommen sieht. Und dann will ich sehen, ob du mehr bist als Schrott im Feuer.“

Lyr’sa hatte den Kopf so tief geneigt, daß ihre Stirn fast den Boden berührte. „Ja … malla Ilharess. Ich werde euch nicht enttäuschen.“

Doch in ihrem Inneren, damals wie heute, gähnte das Loch der Furcht.

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Nun, hier, im Tunnel, schüttelte sie den Kopf, als könne sie diese Erinnerung abstreifen. Sie hob das Werkzeug – eine Eisenstange, verbeult, aber stark – und stieß es zwischen Balken und Fels. Holz splitterte, Staub rieselte.

„Es muss reichen,“ murmelte sie. „Es muss einfach … reichen.“

Sie hörte Schritte hinter sich, ihre kleinen Helfer – Sklaven, armselige Gestalten, deren Namen sie nicht mehr wußte. Sie hatten die Ölfässer getragen, die Brandranken gespannt, alles so vorbereitet, wie sie es befohlen hatte. Ihre Gesichter waren grau vor Angst. Einer fragte mit brüchiger Stimme: „Wird … wird das wirklich halten?“
Lyr’sa fuhr ihn an, schärfer, als sie eigentlich wollte. „Es wird halten. Halt den Mund!“

Doch in Wahrheit fragte sie sich dasselbe.
Sie griff nach dem Fackelstock, zündete mit zitternder Hand den ersten Docht der vorbereiteten Seile. Es fraß sich langsam, knisternd, durch die Schwärze, ein roter Faden im endlosen Dunkel.
Sie lehnte die Stirn an den Balken, der nun nur noch von wenigen Splittern gehalten wurde. Ihre Lippen formten stumme Worte: ein Fluch, ein Gebet, vielleicht beides.
„Wenn dies nicht reicht, dann … Qu’ar Valsharess … mögest du mich holen, bevor die Ilharess es tut.“

Ein Rumpeln. Erst weit weg, dann immer näher. Der Boden bebte, als die Flammen die Fässer erreichten. Ein grollendes Fauchen, dann der Knall. Hitze raste durch den Tunnel, Wände erzitterten, Gestein löste sich. Lyr’sa stolperte rückwärts, das Gesicht in den Arm gedrückt, als eine Druckwelle sie fast von den Beinen riß. Schreie gellten – einer der Sklaven wurde von einem einstürzenden Balken zerquetscht, ein anderer stolperte in die Glut und war sofort nur noch Rauch.
Doch Lyr’sa blickte nach oben, durch eine Ritze im Fels, und sah den ersten Riß im Mauerwerk. Staub fiel wie Regen, dann splitterten Steine, und schließlich brach die Wand. Ein Turm neigte sich, erst langsam, dann immer schneller, bis er mit einem Krachen in sich zusammenstürzte.

Sie atmete keuchend, hustete Staub, Blut schmeckte metallisch auf ihrer Zunge. Doch ein Lächeln, klein und unsicher, schlich sich in ihre Züge.
„Es … es hat funktioniert.“

Dann, leise, fast nur für sich:
„Malla Ilharess … ich habe es getan.“

Über ihr, an der Oberfläche, bebte die Erde. Türme fielen, Mauern barsten. Und im gleichen Moment, in der Ferne, erhob sich der Ruf der Ky’Alur-Krieger: „Vorwärts! Für Ky’Alur!“

Lyr’sa blieb noch einen Augenblick in der Dunkelheit stehen. Ihre Hände zitterten, ihre Knie wollten sie nicht mehr tragen. Doch sie wußte: die Schlacht hatte sich in diesem Moment gewendet. Sie hatte Lloths Prüfung bestanden – oder wenigstens einen Schritt darin getan. Sie wischte sich den Staub aus dem Gesicht, richtete sich auf, und ging zurück in Richtung der Stadt – dorthin, wo Jhea’kryna Ky’Alur nun die Bresche nutzen würde, um das Schicksal der Zauviir zu besiegeln.

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Vor den Mauern des Qu'ellar Zauviir

von Jhea'kryna Ky'Alur » 20 Aug 2025, 19:34

𝔇ie Tore des Hauses Zauviir sprangen auf wie der Rachen eines Untiers, das nur darauf gewartet hatte, sein Maul in die Feinde zu schlagen. Dunkle Reitechsen, jede so groß wie ein ausgewachsenes Schlachtross der Oberwelt, brachen hervor, die Nüstern dampfend, die Panzerplatten ihrer Schuppen von Eisenbändern überzogen. Die Reiter, gehüllt in Rüstungen aus schwarzem Adamant, führten ihre Lanzen so tief gesenkt, dass sie wie eine Wand aus Dornen auf die wartenden Reihen von Ky’Alur zurasten.
Ein Donnern erfüllte den Boden, jeder Hufschlag ließ Staub und Splitter der gepflasterten Straße hochspringen. Die Krieger in den vorderen Reihen Ky’Alurs senkten ihre Schilde, bildeten eine geschlossene Front, doch der Anblick der heranrasenden Masse ließ selbst den Mutigsten den Atem stocken.

Dann kam die Antwort: Ein Befehl, heiser gebrüllt, und über die gesamte Linie hinweg schnellten die Armbrusthebel nach vorn. Ein Hagel aus Bolzen stürzte sich auf die Reiter, hunderte Spitzen durchbrachen den Dunst, surrten wie ein tödlicher Schwarm. Das Aufprallen klang wie prasselnder Regen auf Eisen. Manche Bolzen prallten wirkungslos ab, andere fanden Ritzen in Schuppen und Gelenken. Dunkle Echsen bäumten sich brüllend auf, manche brachen mitten im Lauf zusammen, überschütteten die Straße mit Leibern, die nachfolgenden Reiter zum Straucheln zwingend.
Doch viele brachen durch. Sie rissen Lücken in die Schilde, Lanzen zerfetzten Brustplatten, rissen Körper auf wie Pergament. Schreie hallten, Blut spritzte, der Gestank nach Eisen und Tod legte sich wie ein Schleier über die Straße. Ky’Alurs Front bebte – aber sie hielt.

Von den Mauern des Qu’ellar Zauviir herab blitzte Magie. Priesterinnen und Magier, in Purpur und Schwarz, ließen Bannkreise aufleuchten, spien Feuer und Blitze in die Reihen. Ein einziger Feuerball, groß wie ein Streitwagen, stürzte in die Mitte der Ky’Alur-Formation, riss Dutzende Krieger zu Boden. Die Druckwelle ließ Schilde splittern, Schleudern flogen fort, Rüstungen wurden mit einem Schlag glühend heiß.
Doch die Antwort blieb nicht aus. Ein Summen, tief und mächtig, rollte über das Schlachtfeld. Die Reihen Ky’Alurs öffneten sich, und ein Gestaltwandler, ein Erzmagus namens Shar'tym, trat nach vorn. Er war alt, das sah man an den Runen, die in seine Haut eingebrannt waren – jede ein Siegel von Jahrhunderten gelebter Magie. Doch nun glühten diese Runen, als brenne ein inneres Feuer. Sein Leib wuchs, Knochen dehnten sich, Haut wurde zu Schuppen, Arme zu Schwingen. In einem Bogen erhob sich der Magus, und wo eben noch ein Mann gestanden hatte, bäumte sich nun ein Drache, geschwärzte Schuppen glänzten im Widerschein der Magie.

Mit einem einzigen Schlag seiner Flügel hob er sich in die Luft. Sein Odem – kein gewöhnliches Feuer, sondern flüssiges Pech – ergoß sich über die Mauer. Bannkreise, die seit Generationen dort eingraviert waren, knackten, platzten, zerbrachen wie Glas. Schreiend stürzten Zauviir-Schützen in die Tiefe, ihre Körper in klebriges kochendes Pech gehüllt.
Die Ky’Alur-Krieger brüllten auf, als hätten sie selbst Flügel bekommen. Schilde wurden erhoben, Speere vorwärts gestoßen, und die Front schob sich wie eine lebende Mauer vorwärts.

Auf einer Anhöhe, leicht abseits des Getümmels, stand Jhea’kryna. Ihre Silhouette, im Licht der brennenden Zauber und der geisterhaften Spinnenlaternen, wirkte wie eine Figur aus Erz und Schatten. Ihr Kleid, von Silberfäden durchzogen, schimmerte bei jeder Bewegung wie ein Netz, das unsichtbar die Schlacht umspannte.
Neben ihr Kyrii’linth, die Yathallar. Ihr Blick war scharf, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht eine Maske aus stolzer Verachtung. Doch wer genau hinsah, konnte erkennen, wie ihr Auge dem Drachen folgte, wie sie den Atem anhielt, als der Odem die Mauer sprengte.

„Sie werfen alles in die erste Welle,“ sagte sie leise, die Stimme seidig, aber mit einem Stachel darunter. „Wie ein Tier, das in die Enge getrieben ist.“
Jhea’kryna wandte den Kopf, musterte das Schlachtfeld mit kühlem Blick. „Ein sterbendes Tier beißt am wildesten. Aber es stirbt trotzdem.“
Kyrii’linths Mundwinkel verzogen sich, ein Lächeln, das weder warm noch freundlich war. „Vielleicht. Doch manchmal reißt es noch ein Stück Fleisch aus, bevor es fällt.“
Für einen Augenblick schwiegen sie. Unter ihnen dröhnten die Lanzenstöße, Bolzen surrten, Magie riss den Boden auf. Staub und Blut mischten sich, das Schlachtfeld war ein einziges Chaos aus Stahl, Haut und Feuer.
„Sieh sie dir an,“ sagte Jhea schließlich, die Hand leicht erhoben, als könnte sie mit einer einzigen Geste die Schlacht lenken. „Die Zauviir glauben noch, dass sie den Atem behalten. Sie irren.“
Kyrii’linth nickte – kaum merklich, fast so, als hätte sie es im selben Atemzug wieder bereut. „Wir werden sehen.“

Dann bebte der Boden. Zuerst kaum spürbar, ein Zittern, das durch die Stiefel kroch. Doch es wuchs, wurde zu einem Grollen, als würde der Untergrund selbst aufbrechen. Ein Krachen hallte, tief, unheilvoll. Staub schoss in die Höhe, Mauerwerk splitterte. Einer der Türme des Zauviir-Qu’ellars neigte sich, ächzte, und stürzte krachend in die Tiefe. Die Mauer daneben barst, riss auf wie ein aufgeschnittener Leib. Schreie hallten, sowohl von Verteidigern als auch Angreifern.

Jhea’kryna ließ die Hand sinken, und ein kaltes, hartes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Lyr’sa hat geliefert.“
Kyrii’linth zog eine Augenbraue hoch, ihr Blick bohrte sich in Jhea, scharf wie ein Dolch. „So also sieht deine Strategie aus – nicht nur mit Klinge und Zauber, sondern mit dem Bauch der Erde selbst.“
„Wer in den Tiefen lebt,“ erwiderte Jhea leise, „sollte nie vergessen, dass die Tiefe selbst meine Waffe ist.“

Ein Ky'orl Ky’Alurs stürmte nach vorn, hob sein Schwert, das im Licht der Feuer zu flammen schien. „Vorwärts! Durch die Bresche! Für Ky’Alur!“
Ein einziger Ruf, doch er wurde zum Chor, zum Beben selbst. Hunderte Stimmen verschmolzen zu einem Gebrüll, das die Felsen erzittern ließ. Die Ky’Alur-Krieger warfen sich nach vorn, kletterten über Trümmer, rissen ihre Waffen hoch, und das Blutbad begann von Neuem – diesmal mitten im Herzen des Qu’ellar Zauviir.

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Ich darf nicht davonlaufen

von Lyr'sa Teb'inyon » 18 Aug 2025, 21:45

Die Schmiede roch nach Eisen und Ruß, nach einem Halt, den sie nicht mehr festhalten konnte. Noch immer brannte die Erinnerung an die Fangzähne in ihren Gedanken, dieser Moment, in dem das kalte Maul des Vampirs sich an ihr genährt hatte, ohne sie zu töten. Es war schlimmer als der Tod selbst gewesen – ein Gefühl, als hätte er ihr die letzte Spur von Mut aus den Adern gezogen. Sie war nicht gestorben, aber ein Teil von ihr war zerfallen. Seitdem fühlte sie sich leerer. Schwächer. Ein Gefäß, das nicht mehr ganz dicht war.

Und nun, kaum Tage später, stand sie im Schatten des Hofes. Waffen wurden verteilt, Rüstungen angelegt, Befehle gebrüllt. Sie hörte die Stimmen wie durch Wasser, dumpf, verzerrt, zu laut und doch nicht richtig zu verstehen. Die Ilharess stand erhöht, ihre Präsenz scharf wie eine Klinge. Jeder Laut aus ihrem Mund ließ die Krieger straffer stehen. Befehle, die keinen Zweifel kannten. Es ging in den Krieg. Es gab keine Fragen.

Lyr’sa aber spürte nur das Zittern in ihren Fingern. Metall gegen Haut, als sie versuchte, die Armschiene richtig zu verschließen. Sie hatte es gelernt, tausendmal getan. Heute griffen die Finger nicht richtig. Als wäre ihre eigene Hand nicht mehr ihr Werkzeug. Oh nau … warum ich?

Die Melee Magthere hatte sie ausgestoßen – sie, die Techniken kannte, die mit Waffen umgehen konnte, aber nicht genügte. Kein Wille, hatten sie gesagt. Kein Biss. Kein Feuer. Ein Schlag ins Gesicht, der sie getroffen hatte wie ein Urteil. Und jetzt – jetzt sollte sie an der Seite jener marschieren, die sie für unfähig hielten?

Sie wagte einen Blick nach oben, zu der Ilharess. Anthrazitene Haut, silbernes Haar, eine Stimme, die keine Schwäche duldete. Jeder in diesem Hof glaubte, dass sie recht hatte, dass dieser Krieg notwendig war, dass Lloth es so wollte. Aber Lyr’sa spürte nur die Leere in sich, die klaffende Wunde, die der Vampir zurückgelassen hatte.

Ich kann das nicht … ich kann das nicht … Ihre Lippen bewegten sich kaum, ein kaum hörbares Wimmern. Wenn ich hinausgehe, sterbe ich. Wenn ich kneife, bin ich tot. Wenn ich bleibe, hasst sie mich. Oh shu … ich will nicht … aber ich muss …

Um sie herum spannten die Krieger die Sehnen ihrer Armbrüste, die Priesterinnen murmelten Litaneien. Alles war Bewegung, alles war Vorbereitung. Und sie – sie war ein Riss in der Formation. Ein Schatten, der nicht passte.

„Lyr’sa.“ Die Stimme schnitt durch den Lärm, und sie zuckte zusammen. Jhea’kryna hatte sie gesehen, mitten unter all den anderen. Ihre Augen waren wie Spinnenaugen, kalt, unbeirrbar, und Lyr’sa fühlte sich gefangen, als hätte sie ein Netz um ihre Kehle. „Du wirst mitgehen. Du wirst zeigen, dass du das Adamant wert bist, das du trägst.“

Ihr Atem ging stoßweise. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Aber ihre Beine bewegten sich, als wären sie nicht mehr ihre eigenen. Ein Schritt. Noch einer. Die Rüstung klapperte leise. Sie fügte sich in die Reihe, ohne zu wissen, wie. Ohne zu glauben, dass sie es schaffen würde.

Und in ihrem Kopf hallte nur ein einziger Gedanke, verzweifelt, zerbrochen:
Ich darf nicht davonlaufen. Ich darf nicht davonlaufen. Ich darf nicht davonlaufen.


Die Halle leerte sich nur langsam. Die Krieger strömten hinaus, in Formation, laut klirrend, die Priesterinnen hinterher, ein Wispern von Gebeten wie ein Kranz aus Spinnenfäden. Zurück blieb sie, Lyr’sa, die Hände an den Riemen ihrer Armschienen, unfähig, sie festzuziehen. Als hätte das Leder selbst begriffen, dass es sie nicht halten wollte.

Ein Schatten fiel auf sie. Er war nicht laut, er war nicht schwer, und doch ließ er ihr Herz hämmern. Die Ilharess stand dicht vor ihr, so nah, dass sie den metallischen Duft ihres Schmucks und den kalten Rauch der Opferfeuer wahrnahm. Jhea’krynas Augen waren zwei Spiegel, die nichts zurückgaben – sie nahmen nur.

„Warum zögerst du?“ Keine Frage. Ein Schnitt, glatt, unerbittlich.

Lyr’sa versuchte zu antworten, aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Ich … ich …“ Ihre Lippen zitterten. Die Bilder des Vampirs flackerten auf – die Zähne, das Blut, das Gefühl, leergetrunken zu sein, ohne sterben zu dürfen. „Ich kann nicht …“

Die Ilharess legte den Kopf leicht schräg, wie eine Spinne, die ihre Beute mustert. „Nicht können?“ Das Wort war ein Fanghaken, scharf, kalt. „Du wirst. Es ist nicht deine Entscheidung, Kind.“

Lyr’sa wollte schreien, wollte sagen, dass sie gebrochen war, dass die Melee Magthere sie verstoßen hatte, dass sie nichts war als ein Fehler im Gefüge. Doch kein Laut kam über ihre Lippen. Stattdessen sickerte Schweiß in den Kragen ihrer Rüstung, und sie fühlte sich kleiner, als sie es jemals gewesen war.

„Schau mich an.“ Jhea’krynas Stimme war weich geworden – nicht warm, aber weich, wie ein Spinnfaden, der sich um den Hals legt. Zögernd hob Lyr’sa den Blick. Silber traf auf Silber, und sie konnte nicht wegsehen.

„Du gehörst dem Netz“, sprach die Ilharess, und jedes Wort war ein Urteil. „Dein Blut, dein Atem, deine Angst – sie sind Fäden. Ziehst du dich zurück, reißt das Muster. Und was geschieht mit einer Spinne, wenn ihr Netz reißt?“

Lyr’sa flüsterte, kaum hörbar: „Sie … verhungert.“

Ein Nicken, sanft, gnadenlos. „Genau so. Also wirst du hinausgehen. Du wirst kämpfen. Du wirst sterben, wenn es Lloth gefällt. Aber du wirst nicht weglaufen. Nicht... einen... Schritt.“

Die Worte gruben sich tiefer in sie ein als jede Klinge. Es war kein Schrei, kein Befehl. Es war das kalte Gewicht einer Wahrheit, der sie nicht entkommen konnte. Ihr ganzer Körper wollte fliehen, aber ihre Beine standen fest, als hätte man sie mit Spinnenseide an den Boden geheftet.

Und so nickte sie, stumm, gebrochen, aber gefangen.
Ich darf nicht davonlaufen … ich darf nicht davonlaufen …

Die Ilharess drehte sich ab, lautlos, wie ein Schatten, der zurück in die Dunkelheit glitt. Zurück blieb nur Lyr’sa – zitternd, mit angezogenen Schultern, als wäre sie zu klein für die Rüstung, die sie trug. Sie wusste, sie würde hinausgehen. Nicht aus Mut. Nicht aus Stärke. Sondern weil sie keine Wahl hatte.

Im Namen der Göttin

von Jhea'kryna Ky'Alur » 18 Aug 2025, 12:01

𝔇ie Luft im Hof des Hauses Ky’Alur war schwer wie eine gespannte Sehne. Fackeln warfen flackerndes Licht über die glänzenden Klingen der Krieger, über die polierten Platten der Rüstungen, auf deren Stahl die Gravuren von Spinnenmustern wie lebendig schimmerten. Magier standen am Rand, ihre Stäbe leise summend, während Funken über die Spitzen krochen, als könnten sie kaum erwarten, entfesselt zu werden. Die Priesterinnen hatten sich nah um den erhobenen Platz versammelt, von dem die Ilharess zu ihnen sprechen würde, ihre Gesichter im Schatten ihrer Kapuzen verborgen, die Lippen bewegten sich unaufhörlich im Flüstern von Gebeten.

Dann öffneten sich die Tore, und Jhea’kryna Ky’Alur trat auf den Podest. Sie wirkte nicht, als ginge sie – es war, als würde sie schweben, getragen von der Gewissheit ihrer Macht, vom Netz selbst, das unter jedem Schritt gespannt war. Ihr Kleid, silbrig durchzogen, funkelte wie die Nacht selbst, wenn das Spinnennetz den Tau einfängt, und ihre Augen brannten in karmesinrotem Glanz. Für einen Herzschlag regte sich nichts – dann senkten die Krieger im Chor die Helme, als hätte eine unsichtbare Hand ihnen den Nacken gebeugt.

„Kinder des Hauses Ky’Alur,“ begann sie, und ihre Stimme war kühl, getragen, wie der erste Schnitt einer Klinge durch Seide. „Der Tag ist gekommen, an dem das Schwert nicht länger in der Scheide ruhen darf.“

Ein Murmeln lief durch die Reihen, dumpf und ehrfürchtig. Ein Krieger schlug die Faust gegen die Brustplatte, dumpf hallte der Schlag. Andere folgten, ein einzelnes Pochen, das sich wie ein Herzschlag über den Hof legte.

„Zu lange,“ fuhr Jhea fort, „haben die Verräter des Hauses Zauviir geglaubt, sie könnten Gift in unsere Adern träufeln, ohne den Zorn der Göttin zu spüren. Zu lange haben sie geglaubt, Intrigen und Messer im Dunkeln könnten das Netz der Lloth zerreißen.“

Die Priesterinnen hinter ihr erhoben die Hände, ein leises Raunen in der Dunkelheit, die Worte ihrer Gebete schwollen an, bis sie wie ein Unterton in Jheas Stimme lagen.

„Doch Lloth duldet keine Schwäche,“ rief sie, ihre Stimme schärfer nun, messerscharf. „So sage ich euch: Wir tragen das Schwert nicht länger in der Scheide.
Wir ziehen es im Namen der Göttin, und wir werden es erst zurücklegen, wenn unsere Feinde gefallen sind. Wir dulden keine Beleidigung. Heute stehen wir hier – nicht, um zu verhandeln, nicht, um zu warnen, sondern um auszulöschen!“


Ein Aufraunen ging durch die Reihen. Krieger trommelten mit den Knöcheln gegen die Platten, dumpfe Schläge wie Donnerschläge hallten durch die Halle. Magierinnen richteten die Stäbe höher, Lichtspitzen zuckten über ihren Köpfen.

„Wenn die Tiefen unserer Welt vom Schmutz der der Zauiir verdunkelt würden, wenn Elashinn in den Netzen der Verräter erstickte, wenn die Hallen der Stadt unter der Hand der Zauviir zerbrächen – so sage ich euch: Wir werden weder wanken noch weichen. Wir werden nicht zerbrechen. Wir werden diesen Weg bis zum Ende gehen. Wir werden nicht wanken. Wir werden nicht weichen,“ sprach Jhea, und jetzt legte sie all ihr Feuer in die Stimme, „wir werden kämpfen in den Gassen Elashinns, wir werden kämpfen unter den Bögen und Türmen, wir werden kämpfen in den Hallen und auf den Mauern, wir werden kämpfen in den Tiefen des Underdark. Wir werden kämpfen mit Stahl, mit Zauber, mit Gift und mit Schatten. Wir werden kämpfen, bis der letzte Zauviir ausgelöscht ist, bis ihr Name nichts mehr bedeutet als ein Fluch, den niemand mehr auszusprechen wagt.“

Die Rufe schwollen an, ein Chor aus Stahl und Stimmen, Priesterinnen schrien den Namen der Göttin, Magier ließen einige Funken in die Luft schnellen, und Krieger stampften so hart, dass die Steine unter ihren Stiefeln erzitterten.

Und in diesem Tosen, für einen Augenblick, war Kyrii’linth zu sehen. Die Yathallar stand seitlich hinter den Priesterinnen, ihr Gesicht im Halbschatten, die Lippen zu einem schmalen Lächeln verzogen. Sie nickte kaum sichtbar, ein winziges, beinahe widerwilliges Zeichen von Anerkennung. Es war nicht Zustimmung, nicht Loyalität – aber ein stummes Eingeständnis, dass Jhea’kryna hier und heute etwas entfachte, das auch sie selbst nicht hätte besser formen können.

Jhea'kryna hob die Hände, und die Stille fiel wie ein Tuch über den Hof. Ihre Stimme senkte sich, eisig, kalt, schneidend: „Und wenn unsere Hallen brennen, wenn unsere Netze reißen, wenn wir bis zum letzten Tropfen unseres Blutes kämpfen müssen – so werden wir nicht aufhören. Denn Ky’Alur ist stark. Denn Lloth sieht uns. Denn es ist besser, brennend unterzugehen, als schwach in Ketten zu leben.“

Ein letzter Schlag, ein dumpfer Chor von Metall auf Brust, von Stäben auf Stein, hallte durch die Nacht.

„Also marschiert,“ rief Jhea, und ihr Blick war jetzt wie der einer Göttin selbst. „Marschiert in die Dunkelheit. Marschiert in ihr Herz. Und reißt es heraus!“

Der Hof bebte, das Tosen schwoll an, bis die Luft selbst zu zittern schien. Krieger schrien, Priesterinnen sangen, Magierinnen riefen den Donner – und inmitten all dessen stand Jhea, das Kleid wie ein Netz aus Licht und Schatten, und wusste: Der Krieg hatte begonnen.

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Wenn Schatten Waffen schmieden

von Jhea'kryna Ky'Alur » 18 Aug 2025, 11:11

𝔇ie Hallen des Hauses Ky’Alur lagen im Zwielicht der Spinnenlaternen. Dünne Rauchschwaden zogen sich über den schwarzen Basaltboden, als hätten selbst die Fackeln den Atem angehalten. Kein Laut durchbrach die Stille, außer dem Wispern von Dienern, dem gedämpften Klirren von Stahl, dem fernen Tropfen von Wasser in den Tiefen. Es war kein friedliches Schweigen. Es war das gespannte, vibrierende Schweigen vor einem Sturm.

Jhea’kryna Ky’Alur saß auf dem hohen Stuhl im Audienzsaal. Ihre Hände lagen locker auf den Armlehnen, die langen Finger mit den silbernen Ringen ruhten scheinbar entspannt, doch der Blick ihrer karmesinroten Augen brannte unbewegt in die Dunkelheit. Kein Muskel in ihrem Gesicht verriet die Glut, die unter dieser Maske aus Ruhe loderte. Doch in ihrem Inneren spannte sich das Netz aus Zorn und Entschlossenheit immer enger.

Seit jener Nacht in der Gasse, seit dem Blut, das nicht hätte fließen dürfen, war in ihr kein Zweifel mehr übriggeblieben. Reyviira hing noch immer in ihrem Blickfeld – entstellt, geschändet, gefoltert bis an den Rand des Todes und darüber hinaus, am Rad der Zauviir wie ein düsteres Schauspiel zur Schau gestellt. Jhea'kryna hatte sich selbst gezwungen, jede Linie dieses Bildes einzuprägen, nicht um daran zu zerbrechen, sondern um daraus eine Waffe zu schmieden. Aus dieser Schande würde nur eine einzige Antwort folgen: Blut, das Schuldige schwemmte, Blut, das keine Ausnahmen kannte, Blut, das von den Straßen gespült werden musste, bis die Steine selbst rot glänzten.

Und so begann sie zu weben. Nicht mit Spinnenseide, sondern mit Befehl und Planung.

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𝔇ie Halle war erfüllt von gedämpftem Stimmengewirr, doch als Kyrii’linth eintrat, ebbte es ab wie ein Atemzug, der den Raum verließ. Sie ging erhobenen Hauptes, das schwarze und purpurne Gewand knapp über dem Boden schleifend, die Augen von dem kalten Glanz erfüllt, der selbst unter ihresgleichen Ehrfurcht und Widerwillen zugleich hervorrief.

Jhea wartete bereits auf dem erhöhten Podest, den Körper in der Haltung einer Königin, die keiner Krone bedarf. Als ihre Blicke sich trafen, war es, als berührten sich zwei Netze – jede Faser gespannt, jede Linie ein möglicher Schlag.

„Du rufst mich zu später Stunde“, sagte Kyrii'linth, ihre Stimme schmeckte nach samtigem Gift. „Ist es so dringend, dass du die Nacht der Ruhe raubst?“

Jhea’krynas Lippen verzogen sich zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. „Ruhe ist ein Luxus für die, die nichts verlieren können. Wir beide wissen, dass wir ihn uns nicht leisten dürfen.“

Kyrii'linth neigte den Kopf, eine Geste, die weder Zustimmung noch Spott ausschloss. „Und doch: Du willst in Schatten marschieren, statt im Donner der Klingen. Unsere Krieger sind stark. Warum verbirgst du sie wie Diebe?“

Ein kurzes, gefährliches Schweigen entstand. Die Fackeln knackten, als hätten sie etwas zu sagen, wagten es aber nicht.

„Weil Stärke nicht im Lärm liegt“, antwortete Jhea schließlich, jede Silbe messerscharf. „Die Zauviir erwarten einen Sturm. Sie sollen kein Gewitter hören, bis der Blitz in ihrem Herzen einschlägt.“

Kyrii’linth ließ ein leises Lachen hören, seidenweich und verletzend zugleich. „Ein schöner Gedanke. Aber was, wenn der Blitz fehlgeht? Was, wenn du im Dunkeln zündest und nur Rauch hervorbringst?“

Die Ilharess beugte sich leicht vor, ihre karmesinroten Augen glühten wie Fäden geschmolzenen Metalls. „Dann wird Lloth selbst entscheiden, ob mein Schlag genügt. Aber wenn du glaubst, dass du es besser kannst, Kyrii’linth – so sag es laut. Vor mir. Vor der Göttin. Vor allen hier.“

Die Worte hingen wie ein Spinnenseil über dem Abgrund. Für einen Augenblick schien Kyrii tatsächlich darüber nachzudenken. Ihre Finger spielten mit den Perlen an ihrem Gewand, als prüfe sie das Gewicht einer Antwort. Dann senkte sie den Blick, nicht in Unterwerfung, sondern wie jemand, der eine andere Falle im Dunkeln vorbereitet.

„Ich diene dem Haus“, sagte sie leise. „Auch wenn ich es nicht immer in deiner Hand sehe.“

„Dann diene schweigend,“ erwiderte Jhea kühl, „bis der letzte Zauviir gefallen ist.“

Ein Murmeln lief durch die Halle, kaum hörbar, aber spürbar. Die Spannung zwischen den beiden war nicht gelöst – sie war nur verschoben, wie eine Klinge, die man wieder in die Scheide schiebt, wissend, dass sie jederzeit gezogen werden könnte.

Kyrii'linth trat zurück, verneigte sich knapp und ließ den Blick ein letztes Mal an Jhea'kryna haften. In diesem Blick lag keine Loyalität – nur Berechnung. Doch Jhea wusste: Berechnung genügte. Für jetzt.

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𝔍n den unteren Hallen rüsteten sich die Krieger. Schmiede hämmerten auf Platten, bis die schwarzen Rüstungen mit eingeätzten Spinnenmotiven wie in sich selbst geborene Schatten glänzten. Priesterinnen und Maiger zeichneten Kreise aus Blut und Obsidian, webten Bannzeichen auf Pergament, die an den Türen der Zauviir explodieren würden wie Schläge von Lloths eigener Hand.

Überall huschten Spinnen, unruhig, als spürten sie den Hunger der Göttin. Manche webten Muster in den Winkeln der Halle, Muster, die wie Vorzeichen wirkten: Spiralen, Netze, Knoten, die sich enger zogen.

Jhea ließ sich jeden Plan vorlegen:
- Die Aufstellung der Hauptmacht in den Nebengassen, unsichtbar, bis die Tore der Zauviir unter Druck gerieten.
- Die geheimen Durchgänge, die das Haus Ky’Alur seit Generationen unter Elashinn kannte.
- Die Zauber, die wie Ketten um die Mauern der Verräter gelegt werden sollten, damit kein Entkommen möglich war.

Nichts entging ihrem Blick. Sie sprach wenig, doch wenn sie sprach, war es wie ein Messer: kurz, scharf, endgültig.

Und zuletzt, fast unscheinbar, lag der gefährlichste Faden im Netz.

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𝔏yr’sa Teb’inyon arbeitete seit Tagen unter der Erde, tiefer noch als die tiefsten Tunnel der Stadt. Ihre Hände waren zerschunden, ihre Lungen voller Staub, doch sie arbeitete mit einer Besessenheit, die selbst ihre Angst überdeckte. Stütze um Stütze wurde gesetzt, Mauer um Mauer angebrannt, bis ein Tunnel direkt unter die Hallen der Zauviir führte.

„Es ist wie ein Herzschlag,“ hatte Lyr’sa geflüstert, als Jhea'kryna sie einmal im Halbdunkel der Tunnel aufsuchte. „Man spürt das Gewicht über sich… und man weiß, dass es nur einen Schlag braucht, und alles fällt.“

Jhea hatte nicht geantwortet. Sie hatte nur die Hand über die rauen Wände gelegt und das Beben gespürt. Ein einziger Befehl, und der Tunnel würde sich schließen wie ein Maul. Stein und Feuer würden hochschlagen, Mauern brechen, Schreie hallen.

„Sei bereit“, sagte sie schließlich zu Lyr’sa. „Wenn der Moment kommt, darf es kein Zögern geben.“

Lyr’sa hatte geschluckt, genickt, und weitergearbeitet.

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𝔍n der großen Halle, zurück auf ihrem Stuhl, ließ Jhea den Blick durch die Reihen ihrer Krieger und Priesterinnen gleiten. Jede war gerüstet, jede bereit. Kein Lächeln huschte über ihr Gesicht, kein Funken von Zorn loderte auf ihren Zügen. Nur diese Kälte, die wie eine zweite Haut über ihr lag.

„Seid geduldig,“ sagte sie leise, so dass nur die nächsten Reihen es hörten. „Wir werden nicht rasen. Wir werden nicht wie Orks blind stürmen. Wir schlagen, wenn jedes Netz gespannt ist. Wir schlagen, wenn jede Tür sich gegen sie kehrt. Wir schlagen, wenn der erste Schrei einsam verhallt, und dann folgen alle anderen.“

Und dann, kaum hörbar, wie ein Schwur in die Finsternis:
„Und wir hören nicht auf, bis kein Zauviir mehr lebt.“

Kapitel 6 - Zwischen Seide und Gift

von Jhea'kryna Ky'Alur » 17 Aug 2025, 10:55

𝔇ie Tage, die auf die Versammlung im Ratssaal folgten, lagen über Elashinn wie eine drückende Decke aus Staub und Spinnweben. Die Stadt ging ihrem Alltag nach, doch jeder Schritt klang ein wenig härter auf dem Pflaster, jede Stimme sprach ein wenig gedämpfter, und jeder Schatten schien länger zu verweilen, als er es hätte tun sollen. Für die Häuser Noquar, Zauviir und Ky'Alur bedeutete das Schweigen keinen Frieden – sondern eine Form von Krieg, der mit Pergament und Feder geführt wurde.

Jhea’kryna Ky’Alur saß in den inneren Gemächern ihres Qu’ellars, das Licht der Kerze warf flackernde Muster auf die schwarze Tischplatte. Vor ihr lagen mehrere aufgerollte Schriftstücke, jedes Siegel gebrochen, jedes Pergament ein Stich in die Geduld. Sie hatte sie mehrfach gelesen – nicht, weil sie den Inhalt nicht begriffen hätte, sondern weil sie jedes Wort auf der Zunge schmecken wollte. Die Botschaften des Hauses Zauviir waren Honig voller Gift, geschickt genug, dass ein Ungeübter sie als Höflichkeit hätte abtun können. Doch für Jhea'kryna war jeder höfische Schwung der Feder eine gezielte Kränkung.

„Euer Eifer im Tempelbau ist bemerkenswert,“ hatte eine der Botschaften begonnen, „doch seid ihr nicht zu jung, um in solchen Dingen Führungsanspruch zu erheben? Lasst das Alter sprechen, nicht die Ungeduld.“ Ein anderer Brief sprach von „bedauerlichen Missverständnissen“, die zwischen den Häusern entstanden seien, und versicherte in der gleichen Zeile, dass man selbstverständlich „alle angemessenen Opferungen und Segnungen“ vor Baubeginn einbeziehen werde – Worte, die nichts anderes bedeuteten als: Wir werden euch übergehen, sobald sich die Gelegenheit bietet.

Jhea'kryna hatte nicht geschwiegen. Ihre Antworten waren von derselben Kälte, aber anders geschliffen. Wo Zauviir giftige Seide spann, ließ Ky’Alur Klingen zwischen den Zeilen blitzen. „Die Jugend ist das Werkzeug der Göttin,“ hatte sie in einer Antwort geschrieben, „und die Schwäche des Alters ist es, wenn man sich daran klammert, die Fäden der Vergangenheit nicht loslassen zu wollen.“ Ein anderes Schreiben endete mit den Worten: „Wenn der Tempel fallen sollte, so wird niemand nach eurem Alter fragen, sondern nach eurer Schuld.“

So ging es seit Tagen. Pergament gegen Pergament, Siegel gegen Siegel. Die Höflichkeit war nur noch ein dünnes Tuch über der nackten Feindschaft.

Im Qu’ellar Ky’Alur herrschte unterdessen gespannte Ruhe. Die Krieger schärften ihre Waffen öfter, als es nötig war, die Novizinnen im Tempel rezitierten ihre Gebete lauter, als ob die Wände selbst sie hören sollten. Kyrii’linth, die Yathallar des Hauses, bewegte sich durch die Hallen wie ein Messer durch Fleisch – jeder Blick von ihr ein stiller Vorwurf, jede Geste ein Hinweis darauf, dass sie den Krieg kommen sah. Jhea ließ es zu. Spannung konnte nützlich sein. Angst konnte zu Stahl gehämmert werden.

Reyviira, ihre Tochter, war in diesen Tagen unruhig gewesen. Sie war jung, voller Glanz und Feuer, und in ihr spiegelte sich das, was Jhea einst selbst gewesen war, bevor die Jahre sie geschärft hatten. „Malla Ilharess,“ hatte sie gesagt, „Zauviir spielt mit uns. Wieso lasst ihr es zu? Lasst mich handeln.“

Doch Jhea hatte nur den Kopf geschüttelt, und ihre Augen waren kalt geblieben. „Geduld ist auch eine Waffe. Wer zuerst schlägt, schlägt nicht immer am klügsten. Lerne das.“

Die Worte waren hart gewesen, und sie wusste, dass Reyviira darunter gelitten hatte. Doch es war nötig. Denn Zauviir wartete nur auf einen Fehler, und Fehler machten die Jungen schneller als die Alten.

So floss die Zeit in diesen Tagen wie dickflüssiges Harz, zäh, schwer, und voller verborgener Funken. Jhea spürte, dass etwas kommen musste. Aber wann, und in welcher Form – das ließ die Dunkelheit offen.

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𝔇er Abend, an dem es begann, war stiller als die vorangegangenen. Das Licht der Pilze, die in den Gewölben wuchsen, glomm gedämpft, und der Rhythmus der Stadt schien wie gebremst. Jhea saß allein in einem ihrer inneren Gemächer, vor ihr ein Kelch aus schwarzem Kristall, gefüllt mit tiefrotem Jhinrae, einem Wein, der wie geronnenes Blut schimmerte. Auf dem Tisch lag ein einziges Pergament, ungeöffnet. Das Siegel zeigte das Spinnensymbol Zauviirs, ein dunkler Abdruck auf hellem Wachs.

Sie hatte es absichtlich nicht gebrochen. Nicht heute. Nicht jetzt. Sie wollte den Geschmack des Abends nicht verderben mit noch mehr vergifteter Höflichkeit. Ihre Gedanken schweiften zurück zu den letzten Wochen – die Ratsversammlung, die Blicke, die scharfen Worte. Sie hatte gewonnen, oder zumindest nicht verloren. Doch sie spürte, wie Zauviir arbeitete, wie das Netz enger gezogen wurde. Das Spiel war alt, und sie kannte jede Masche. Sie hob den Kelch, drehte ihn leicht, sodass das Licht der Laternen sich in den Reflexen des Weines fing. Gerade, als sie den ersten Schluck nahm, war es da.

Ein Laut.

Nicht laut genug, um sofort Gewissheit zu bringen. Aber scharf genug, dass ihr Kopf sich erhob. Es war kein Geräusch der Stadt, kein klirrendes Metall, kein Marktgeschrei. Es war… etwas anderes.
Ein zweiter Laut folgte. Klarer. Heller.
Ein Schrei.

Jhea stellte den Kelch ab, ohne hinzusehen, und das Kristall klirrte gegen den Stein. Sie stand auf, der Stoff ihres Gewandes raschelte, und sie ging zum Fenster. Ihr Herz schlug schneller, aber nicht wie in Angst – es war der Schlag einer Trommel, der Krieg ankündigte.

Der dritte Schrei war unmissverständlich. Er schnitt durch die Luft, getragen von den steinernen Wänden der Stadt, als ob Elashinn selbst ihn weitertrug. Hoch, klar, voller Schmerz.

Reyviira.

Jhea spürte, wie ihre Finger sich in den Fenstersims gruben, bis die Nägel gegen den Stein kratzten. Für einen Herzschlag lang war da nur Stille in ihr. Dann Zorn.
Sie wandte sich um, rief ohne Laut zu werden. Die Wachen kamen sofort, als hätten sie schon gewusst. „Mit mir,“ sagte sie, und ihre Stimme war leise, aber sie trug wie Donner.

Die Halle des Qu’ellars füllte sich mit Bewegung, Rüstungen klirrten, Klingen wurden gezogen. Doch Jhea hörte nur weiter die Schreie, die von draußen durch die Dunkelheit hallten. Jeder von ihnen war ein Dolch in ihrer Brust, und jeder Dolch formte ihren Entschluss.

Sie verließ das Haus, um selbst zu sehen, was geschehen war.

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𝔇ie Tore des Qu’ellars schwangen auf, und mit ihnen trat Jhea’kryna hinaus in die Gassen von Elashinn. Hinter ihr bewegte sich die Eskorte – zwölf Krieger, gerüstet in mattem Schwarz, ihre Schritte im Gleichschritt wie ein Echo ihres Zorns. Die Laternen warfen Netze aus Licht über den Boden, doch die Schatten dazwischen wirkten tiefer als sonst, dichter, fast lebendig.

Die Schreie waren verstummt. Doch die Stille war schlimmer. Es war jene Stille, die jeder in Elashinn kannte – die eines Raubtieres, nachdem es zugeschlagen hatte, die Stille, in der Blut tropfte.

Jhea’kryna ging nicht hastig. Jeder Schritt war gemessen, jeder Schwung ihres Gewandes berechnet. Doch in ihr brannte ein Feuer, das kaum zurückzuhalten war. Ihre Finger ruhten auf dem Griff ihrer Schlangenpeitsche, nicht um sie zu ziehen, sondern um sich selbst zu vergewissern, dass sie die Macht noch in der Hand hielt.

Der Weg führte durch die Hauptstraße hin zu einer der Seitengassen, schmal, steil, wie ein Schlund in den Fels geschnitten. Dort, wo der Klang hergekommen war. Dort, wo Elashinn heute Nacht ein Gesicht sehen sollte, das es nicht vergessen würde.

Sie fand sie.

𝔇as Rad stand in der Mitte der Gasse, schief an eine der Mauern gelehnt, als hätte jemand es absichtlich so platziert, dass jeder, der den Weg entlangging, es sehen musste. Auf den Speichen hing Reyviira – ihr Körper verdreht, die Haut von Fesseln und Stacheln gezeichnet, das weiße Haar wie verschüttetes Licht über Schulter und Brust gefallen.
Ihre Kleidung war zerrissen, fast gänzlich fortgerissen, als hätte man ihr nicht nur den Körper, sondern auch ihre Würde nehmen wollen. Auf ihrer Haut zeichneten sich Muster ab, Wunden, die in Linien gesetzt worden waren – nicht planlos, sondern wie von einer kalten Hand geführt, die ein Werk vollenden wollte. Spinnenbeine, grob und grausam, eingeritzt in Fleisch.
In ihrer Brust steckte noch der Speer – schwarzes Metall, die kunstvolle Gravuren glommen im Licht der Laternen. Und auf der Stirn klebte ein kleines Ornament aus schwarzem Glas, geformt wie eine Spinne, wie ein Siegel.

Ihre Augen waren geschlossen, doch der Ausdruck ihres Gesichts war nicht der des Friedens. Es war ein eingefrorener Schrei, der die Züge verzerrte, eine letzte Spur dessen, was die Mauern getragen hatten. Um das Rad herum standen Schaulustige. Drow aus den unteren Häusern, Händler, Diener, Soldaten – sie hatten Abstand genommen, wagten aber nicht fortzugehen. Niemand sprach. Niemand rührte sich. Jeder wusste, dass dies kein Mord war. Es war ein Urteil. Ein Schauspiel. Eine Botschaft.

Und die Empfängerin war Jhea’kryna.

𝔖ie trat näher, die Menge wich wie Wasser zur Seite. Kein Wort fiel, kein Atem wagte, laut zu sein. Sie stand vor dem Rad, sah den Körper ihrer Tochter, und in ihr spannte sich ein Netz aus Schmerz und Zorn, das jeden Verstand durchdrang. Reyviira war tot. Das war unausweichlich, sichtbar, endgültig. Doch was Jhea’kryna sah, war nicht nur der Tod. Es war die Handschrift einer Feindin, die den Mut gehabt hatte, ihre Botschaft mitten in die Stadt zu schreiben, mit Fleisch und Blut als Pergament.
Langsam hob Jhea ihre Hand und legte sie auf den Speer, der noch immer in Reyviiras Brust steckte. Sie ließ ihn nicht los. Nicht, um ihn zu ziehen, nicht, um ihn zu halten – sondern um den Schwur in Stein zu ritzen, der sich in ihr formte.

„Zauviir,“ flüsterte sie, und obwohl es nur ein Atem war, klang es wie ein Fluch, der die ganze Gasse erfüllte.

Sie wandte sich nicht an die Umstehenden, sie brauchte keine Zuschauer. Ihr Blick war nach innen gerichtet, auf die Göttin, auf das Netz, das sie spann. Und sie wusste, dass dieser Abend der letzte gewesen war, an dem Haus Zauviir geglaubt hatte, sie könnten mit Gift und Intrige allein herrschen. Von nun an würde es Blut sein – Blut, das durch die Gassen floss, bis kein Spinnennetz mehr stark genug war, es zu halten.

Jhea’kryna ließ den Speer los, trat zurück, und wandte sich an ihre Eskorte. Ihre Stimme war glatt, beinahe ruhig, doch in ihrer Ruhe lag das Beben eines Krieges:
„Brecht es los. Bringt sie heim. Einen Moment später fügte sie an, „So soll es Krieg sein – vom trügerischen Licht der Oberwelt bis in die finstersten Tiefen des Underdarks. Mögen die Meere aus Blut kochen, mögen die Sterne erlöschen und zu Asche verfallen. Und selbst wenn es den letzten Tropfen meines Blutes fordert – ich werde siegen. Und wenn ich diese Welt nicht von dem Schmutz der Zauviir befreien kann, dann soll sie selbst in Flammen vergehen!“

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Kapitel 5 - Seide über Klingen

von Jhea'kryna Ky'Alur » 15 Aug 2025, 13:16

Der Ratssaal von Elashinn lag wie ein stilles Herz im innersten Teil des Tempels der Lloth. Die Luft dort unten war kühl, schwer und trug den Geruch von altem Stein, vermischt mit dem schwachen, süßlichen Hauch des Harzes, das in den Spinnenlaternen verbrannte und das Licht in fahlen, flackernden Kreisen auf den polierten Basalt warf. Der Raum war halbkreisförmig angelegt, so dass die drei erhöhten Sitze der Matriarchinnen das Zentrum beherrschten und jeder im Saal gezwungen war, seinen Blick dorthin zu richten. Zwischen den Sitzen lag genügend Abstand, dass man dem anderen nicht zu nahe kam, aber nicht genug, um sich aus den Blicken stehlen zu können.

Jhea’kryna betrat den Saal in jenem Maß an Pomp, das jeder Anwesende als unvermeidlich erwartete. Reyviira und Kyrii’linth schritten an ihrer Seite, flankiert von der ausgewählten Ehrengarde, die sich vor der Treppe zu ihrem Platz formierte. Ihr Kleid aus schwarzem Spinnengarn und Silberfäden glitt um ihre Gestalt wie ein lebendiger Schatten, und bei jedem Schritt funkelten die eingewebten Fäden, als wären sie Tautropfen, die sich weigerten, den Morgen zu sehen. Die Luft im Saal veränderte sich kaum merklich – nicht, weil sie den Raum betrat, sondern weil jeder, der sich ihres Eintretens bewusst war, einen Atemzug länger innehielt, um den Eindruck festzuhalten.

Felyndiira Noquar war bereits da. Sie saß aufrecht, in einer Haltung, die weder Anstrengung noch Nachlässigkeit verriet, sondern die Gewohnheit, seit Jahrhunderten über Dinge zu entscheiden, die das Schicksal anderer bestimmten. Ihr Gesicht war ein Spiegel aus ruhiger Macht, ihre Augen dunkel und aufmerksam, aber ohne Hast. Sie stand nicht auf, als Jhea'kryna den Saal betrat – und sie musste es auch nicht. Es war die Art der Alten, ihre Dominanz durch das zu zeigen, was sie nicht taten.

Shinayna Zauviir dagegen lehnte sich zurück, ein Bein über das andere geschlagen, die Finger an einem schmalen goldenen Becher, der in dem fahlen Licht aufblitzte. Sie wirkte wie eine Katze, die sich in einer fremden Höhle eingerichtet hatte – unruhig genug, um jederzeit aufspringen zu können, aber sicher genug, um den Eindruck zu erwecken, dass sie jeden Winkel bereits kannte. Ihr Blick wanderte über Jhea’kryna, nicht hastig, nicht respektlos offen – sondern in diesem kalkulierten Maß, das wie eine höfische Geste wirkte, aber doch jedes Detail prüfte.

„Willkommen, Jhea’kryna Ky’Alur. Willkommen, Shinayna Zauviir.“
Felyndiiras Stimme war tief und klar, ohne jedes Zittern. Sie sprach die Namen in der Reihenfolge, die Tradition und Rang vorgaben – und doch lag in dem kaum wahrnehmbaren Zögern zwischen ihnen ein feiner Faden von Gewicht. „Möge dieser Rat der Stadt zur Ehre der Herrin sprechen.“

Shinayna neigte den Kopf, ihre Lippen formten ein Lächeln, das nie den Augen erreichte. „Es ist… bemerkenswert, euch beide hier zu sehen,“ sagte sie, und die leichte Betonung auf dem Wort „bemerkenswert“ ließ genug Raum für Deutungen, die weit über die wörtliche hinausgingen. „Manche Steine liegen so lange in der Tiefe, dass man vergisst, sie überhaupt noch zu wenden.“ Ihr Blick glitt wie ein Dolchstoß zu Jhea – und hielt dort für einen Herzschlag zu lange inne.

Jhea'kryna erwiderte diesen Blick ohne jede Regung. Sie ging die Stufen zu ihrem Platz hinauf, drehte sich erst, als sie die Armlehnen ihres Sitzes berührte, und sprach mit jener kontrollierten Kälte, die weder Eile noch Unsicherheit kannte: „Und doch finden sich manche Steine genau dann im Weg, wenn ein neues Fundament gelegt wird.“ Die Worte waren höflich genug, um als Erwiderung zu gelten – und scharf genug, um zu schneiden, wenn man ihre Schichtungen verstand.

Felyndiira ließ ihren Blick zwischen beiden hin und her gleiten. Sie sprach nicht sofort, und in der Stille lag mehr Gewicht als in jedem Wort. „Wir sind hier, weil die Stadt uns ruft. Nicht für alte Rechnungen, sondern für das, was vor uns liegt.“ Es war ein Satz, der wie eine Mahnung klang, aber zugleich die Erinnerung trug, dass sie als Ilharess des Ust’Qu’ellar derzeit über beiden stand.

Shinayna hob leicht eine Braue, das Lächeln blieb. „Oh, gewiss. Und doch…“ Sie ließ den Satz einen Moment schweben, drehte den Becher in der Hand, so dass das Licht darin brach. „Man könnte meinen, wer sich lange aus den Hallen der Stadt fernhält, kehrt nur zurück, wenn es gilt, den Platz am Tisch zu sichern.“ Der Tonfall war samtweich, doch der Stachel darin war unüberhörbar.

Reyviira, an Jhea'krynas Seite, bewegte sich kaum, doch in ihren Augen blitzte ein Funke auf. Kyrii’linth hingegen ließ ein kaum hörbares, kehliges Laut entweichen – nicht Zustimmung, nicht Missbilligung, eher ein Kommentar, der nur in ihrem Kopf wirklich klangvoll war.

Jhea'kryna neigte den Kopf, und ein Hauch von Lächeln spielte um ihre Lippen. „Es ist klug, den Platz am Tisch zu sichern, Shinayna. Vor allem, wenn man weiß, wie leicht andere von ihm fallen können.“ Die Anspielung lag schwer im Raum – jeder wusste, dass Ky’Alur einst etwas ergriffen hatte, was Zauviir so sehr begehrte, dass sein Verlust noch immer wie ein Dorn im Fleisch saß.

Felyndiira hob leicht die Hand, nicht als Befehl, sondern als Geste, die jede Antwort bremste. „Wir sind Töchter der Herrin, nicht ihre Widersacher. Lasst uns die Schärfe für das verwenden, was Elashinn wirklich bedroht.“ Ihre Stimme schnitt den Raum in zwei Hälften – und für einen Moment schien es, als würde dieser Rat tatsächlich von Höflichkeit getragen. Doch unter den Worten floss ein anderes Gespräch weiter, still und unausgesprochen, zwischen Blicken, Betonungen und jenen Lücken, die nur gefüllt werden konnten, wenn man den Faden kannte, der sie verband.

„Wir sind hier,“ begann sie, „weil das Herz der Stadt in Gefahr ist. Der Tempel der Herrin steht noch, doch er atmet schwer.“

Die Worte hallten in dem steinernen Raum nach, und für einen Moment schien es, als lausche selbst das schwache Flackern der Spinnenlaternen dem Klang. „Die Beben der vergangenen Zyklen haben nicht nur die Gänge zu den unteren Schreinen verwundet,“ fuhr sie fort, „sie haben Risse in den Hauptsäulen geöffnet, so tief, dass die Wärme der Tiefe selbst den Altarraum berührt. Manche sehen darin ein Werk der Natur. Andere…“ Sie ließ den Satz hängen, und der Blick, den sie über den Tisch gleiten ließ, machte klar, dass sie wusste, wer „die anderen“ waren.

Shinayna war die Erste, die den Faden aufnahm. „Vielleicht,“ sagte sie mit einer Stimme, die schmeichelte, ohne weich zu sein, „liegt der Riss nicht nur im Stein.“ Sie lehnte sich leicht vor, den goldenen Becher nun mit beiden Händen haltend. „Manche sagen, die Herrin entzieht ihren Segen nicht ohne Grund. Dass sie Zeichen setzt, wenn jene, die ihren Tempel führen, ihren Blick von ihr abwenden.“

Sie sprach nicht laut, doch in der Stille des Saales trugen ihre Worte wie ein Dolch, der langsam, fast sanft, in weiches Fleisch drang. Kein Name fiel, und doch wusste jeder, wessen Hand gemeint war.

Jhea’kryna bewegte sich nicht sofort. Sie ließ die Worte zwischen ihnen sinken, wie man ein Netz sinken lässt, um zu sehen, ob es sich füllt. Dann richtete sie sich ein wenig auf, und in der Art, wie sie die Hände auf die Armlehnen legte, lag ein Besitzanspruch, der keiner Erklärung bedurfte. „Die Hand der Herrin,“ erwiderte sie, „hat mich vor aller Augen berührt. Es war nicht in der Stille eines Hinterzimmers, nicht in den Schatten, wo nur wenige sehen. Es war im Licht des Altars, und es war für alle sichtbar.“ Ihre Stimme wurde nicht lauter, doch das Gewicht in ihr verdichtete sich. „Wenn ihr ein Zeichen sucht, wem sie dieses Werk anvertraut, so habt ihr es bereits gesehen.“

Ein kurzes, kaum merkliches Zucken ging durch Shinaynas Miene, wie ein Haar­riss in einer polierten Oberfläche. „Zeichen,“ wiederholte sie, als koste sie das Wort. „Zeichen können viel bedeuten. Manchmal sind sie Warnung, manchmal sind sie Prüfung. Nicht jede Berührung ist ein Segen.“

Felyndiira ließ sie nicht weiterreden. „Was es auch sei – Segen oder Prüfung – der Tempel muss gerettet werden.“ Sie verschränkte die Hände, die langen, schmalen Finger ruhten ineinander wie Ranken. „Und wir müssen entscheiden, wer diese Aufgabe führt.“

„Die Antwort ist einfach,“ sagte Jhea ohne Zögern. „Man baut kein Netz, indem man die Fäden den Ungeübten überlässt. Ky’Alur wird den Tempel nicht nur reparieren – wir werden ihn neu errichten. Größer, stärker, ein Werk, das die Herrin stolz macht und jeden daran erinnert, wem diese Stadt gehört.“

Shinayna lachte nicht – aber ihr Blick tat es für sie. „Größer, stärker… und natürlich in den Händen derer, die am meisten zu gewinnen hat.“ Sie drehte den Becher in der Hand, als sei es ein zufälliger Gedanke. „Doch wer lange fern war, muss sich erst erinnern, wie die Hallen klingen. Vielleicht wäre es klüger, das Werk denen zu überlassen, die noch die Stimmen der Mauern kennen.“

„Ihr meint euch selbst,“ erwiderte Jhea'kryna leise, fast freundlich. „Die Mauern, von denen ihr sprecht, haben schon lange keine Stimme mehr. Sie wurden euch genommen – nicht, weil sie schwach waren, sondern weil ihr sie nicht halten konntet.“

Es war ein Satz, der keine erhobene Stimme brauchte, um zu treffen. In der Luft zwischen ihnen lag ein Gewicht, das schwerer war als jeder Stein des Tempels.
Felyndiira unterbrach, bevor die Stille zu scharf wurde. „Neutralität,“ sagte sie, und das Wort klang aus ihrem Mund wie ein Befehl. „Der Tempel ist nicht nur ein Symbol für uns drei Häuser, er ist das Symbol für ganz Elashinn. Wer ihn führt, muss im Namen aller handeln – nicht im eigenen.“

Jhea wandte den Blick zu ihr. „Neutralität ist ein schönes Wort, Felyndiira. Aber ein Tempel, der im Namen aller gebaut wird, gehört am Ende niemandem – und das ist eine Einladung für jeden, ihn zu beanspruchen.“

„Und das wollt ihr verhindern, indem ihr ihn gleich zu Beginn für euch beansprucht?“ fragte Shinayna, und ihr Tonfall war süß wie vergorener Wein.

„Ich will verhindern,“ sagte Jhea, „dass er schwach beginnt. Und Schwäche kann man sich nicht leisten – nicht in Stein, nicht in Blut.“


Ein Moment der Stille legte sich über den Saal, so dicht, dass man das Knacken des Harzes in den Laternen hören konnte. Shinaynas Blick blieb noch einen Herzschlag lang auf Jhea ruhen, dann senkte sie den Becher, den sie in den Händen hielt, und lehnte sich zurück. Mehr musste sie nicht sagen – das Gift war gesetzt, und jeder im Raum wusste es.

Felyndiira erhob sich nicht vollständig von ihrem Platz; sie richtete sich nur ein Stück auf, so dass das Licht der Spinnenlaternen über ihre Gesichtszüge glitt und sie im Halbschatten fast wie eine geschnitzte Figur wirkte. Ihre Stimme, als sie sprach, war nicht laut, aber so getragen, dass jedes Wort wie eine gezielt gesetzte Perle in den Raum fiel.

„Ein Tempel ist nicht nur Stein und Symbol. Er ist Erinnerung. Jeder Pfeiler, jede Gravur, jeder Riss erzählt von den Zyklen, die wir überstanden haben. Ich habe Hallen gesehen, die älter sind als jedes Bündnis, das wir drei heute an diesem Tisch vertreten. Sie standen, weil ihre Erbauer nicht nur an Macht dachten, sondern an Bestand.“

Sie verschränkte die Hände auf der Lehne ihres Stuhles, und der Blick, den sie in den Saal warf, schloss Jhea und Shinayna gleichermaßen ein. „Die Beben haben die Mauern verwundet, ja. Aber sie haben auch etwas offengelegt: Wir haben den Tempel zu einem Werkzeug im Spiel der Häuser gemacht. Er war ein Ort der Herrin – und wir haben ihn zu einer Bühne für uns selbst geformt. Das mag uns kurzfristig dienen. Langfristig aber schwächt es uns alle.“

Ihr Blick verharrte auf einem Punkt über den Köpfen der Zuhörer, als würde sie das Gewicht alter Erinnerungen messen. „Ich will einen Tempel, der nicht einem Haus gehört. Einen Tempel, der die Zyklen überdauert, weil er nicht in den Rivalitäten der Stunde verstrickt ist. Die Führung des Wiederaufbaus muss in neutralen Händen liegen – und ja, ich zähle Noquar zu diesen Händen, weil wir seit jeher das Gleichgewicht wahren.“

Sie hob eine Hand, bevor jemand einwenden konnte. „Nicht weil wir schwach sind. Sondern weil wir stark genug sind, nicht alles an uns zu ziehen, was wir greifen könnten. Ich will einen Tempel, der in hundert Zyklen noch steht – und nicht bei jedem Machtwechsel neu beansprucht wird.“

Shinayna saß noch immer zurückgelehnt, doch sie löste eine Hand vom Becher und ließ die Fingerspitzen über die Armlehne gleiten, als würde sie die Maserung des Basalts studieren. Ihre Stimme war glatter als zuvor, fast schmeichelnd, doch jeder Laut trug einen feinen Haken.

„Ein Tempel, der allen gehört, gehört am Ende niemandem. Und was niemandem gehört, wird von allen vernachlässigt.“ Sie richtete sich ein Stück auf, und das Licht fing in den Ringen an ihren Händen. „Die Herrin verlangt nicht nur Bestand – sie verlangt Kraft. Sie prüft uns, und wenn sie einen Riss sendet, dann ist das keine Einladung, in der Vergangenheit zu verharren. Es ist ein Befehl, zu erneuern.“

Ihr Blick glitt zu Jhea, nicht lange, aber lange genug, dass der Tonfall ihrer nächsten Worte nicht als Zufall gelten konnte. „Und Erneuerung braucht frische Hände. Hände, die den Staub der alten Hallen nicht schon seit Jahrhunderten einatmen. Hände, die nicht nur wissen, wie man Steine setzt, sondern wie man Mauern so baut, dass sie nicht wieder bröckeln.“

Sie beugte sich leicht vor. „Zauviir kann diesen Tempel zu einem Ort machen, der nicht nur der Herrin dient, sondern auch der Stadt als Ganzes – als Zeichen, dass wir nicht nur bewahren, sondern wachsen. Wir können die Handelsadern mit dem Bau verbinden, neue Künste einführen, Handwerker aus entfernten Enklaven einbinden. So wird der Tempel nicht nur ein Heiligtum, sondern ein Zentrum, das Wohlstand bringt.“

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte ihre Lippen. „Natürlich braucht es dazu die Bereitschaft, jenen die Führung zu geben, die bereit sind, den Preis zu zahlen – in Arbeit, in Ressourcen, in Hingabe. Wer diesen Preis nicht tragen will, sollte sich nicht um den Thron des Altars bemühen.“

Jhea rührte sich erst, als das Schweigen nach Shinaynas Worten lang genug geworden war, dass jeder im Raum wusste, sie würde es brechen. Sie erhob sich langsam, so dass das Silber in ihrem Kleid bei der Bewegung aufflackerte, als hätte das Licht selbst entschieden, ihr zu folgen.

„Ein Tempel ist kein bloßes Bauwerk. Er ist der sichtbare Arm der Herrin in dieser Stadt. Wer ihn betritt, soll ihre Macht fühlen, nicht nur ihre Worte hören.“ Ihre Stimme war fest, doch nicht laut – sie sprach nicht, um zu übertönen, sondern um jeden dazu zu zwingen, sich zu neigen, um sie zu hören.

„Die Beben haben den alten Tempel verwundet, und ja – vielleicht war es ein Zeichen. Aber Zeichen sind nur so stark, wie unsere Antwort darauf.“ Ihr Blick ging erst zu Felyndiira, dann zu Shinayna. „Ky’Alur hat die Antwort bereits gegeben. Die Herrin hat mich vor aller Augen berührt, und dieses Zeichen war kein leeres Spiel. Es war eine Wahl. Ich werde diesen Tempel nicht flicken. Ich werde ihn neu weben – Stein für Stein, Faden für Faden – zu einem Werk, das nicht nur hier, sondern in den ganzen Tiefen bekannt sein wird.“

Sie ging einen Schritt vor, die Hände locker an den Seiten. „Er wird größer sein als jeder, den diese Stadt bisher gesehen hat. Seine Türme werden den Rauch der Tiefe fangen, seine Hallen werden das Licht der Spinnenlaternen so tragen, dass kein Schatten leer bleibt. Jeder, der den Namen Elashinn hört, soll auch den Tempel sehen – und wissen, dass er von Ky’Alur errichtet wurde.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen, gefährlichen Lächeln. „Das ist keine Anmaßung. Es ist die Pflicht der Erwählten. Wer dieses Werk führt, führt nicht nur Steinmetze und Baumeister – er führt die Gläubigen selbst. Und ich sage euch: Nur wer den Blick der Herrin kennt, kann diese Führung tragen."

Die Luft im Saal hatte sich verdichtet. Die Worte der drei Matriarchinnen hingen wie fein gesponnene Fäden zwischen ihnen – glänzend, verlockend, aber unter Spannung. Jeder wusste, dass ein falsches Wort einen Riss reißen konnte, der weit tiefer ging als jede Baunarbe im Tempel.

Felyndiira saß wieder so reglos wie zu Beginn, die Finger verschränkt, das Gesicht undurchdringlich. Ihre Worte hatten den Mantel der Neutralität getragen, doch in den Augen lag ein Funkeln, das verriet, wie sorgfältig sie jede Regung der beiden anderen maß.

Shinayna hingegen wirkte wie eine Klinge, die knapp in der Scheide ruht – glänzend, gefährlich und bereit, sich zu bewegen, wenn der richtige Druck kam. Ihr Blick ruhte zu oft auf Jhea, um Zufall zu sein, und jedes Mal lag darin diese unausgesprochene Erinnerung an das, was Ky’Alur ihr Haus einst gekostet hatte.

Jhea spürte es. Und sie wusste, dass der Kampf um den Tempel kein Streit über Stein oder Baupläne war.

„Ich will verhindern,“ sagte Jhea, „dass er schwach beginnt. Und Schwäche kann man sich nicht leisten – nicht in Stein, nicht in Blut.“

Die Worte hingen in der Luft, schwer wie ein gespanntes Netz. Shinayna neigte den Kopf leicht, als koste sie den Klang noch einmal aus, und ihre Lippen verzogen sich zu diesem halben Lächeln, das weder Freude noch Zustimmung war.

„Stärke ist ein schönes Wort,“ erwiderte sie, weich wie ein Samtband, das einen Dolch umwickelt. „Doch zu viel davon zur falschen Zeit – und selbst der stärkste Stein bricht.“

Ein leises Knistern ging durch die Flammen der Spinnenlaternen, als Jhea den Blick hielt. „Besser, er bricht an meiner Hand, als dass er in eurer verrottet.“ Die Worte waren kühl, fast freundlich, aber jeder im Saal hörte den Unterton.

Felyndiira erhob sich nicht ganz, richtete sich aber so weit auf, dass das Licht ihre Züge streifte. „Genug. Wir sind nicht hier, um Metaphern zu zerlegen, sondern um den Willen der Herrin zu erfüllen. Der Tempel braucht eine Entscheidung, keine Poesie.“

„Dann sollen wir abstimmen,“ schlug Shinayna vor, die den Blick nicht von Jhea'kryna nahm.

„Wir stimmen nicht über die Wahl der Herrin ab,“ erwiderte Jhea leise. „Wir erkennen sie.“

Ein Murmeln ging durch den Saal. Felyndiira hob die Hand, und die Stille fiel wie ein Messer. „Wir erkennen, dass wir uns heute nicht einigen werden. Aber wir werden den Tempel nicht seinem Schicksal überlassen. Ich werde in den nächsten Zyklen zu einer weiteren Beratung laden.“

Offiziell war das Ende des Rates damit besiegelt. Die Höflichkeiten wurden wieder ausgetauscht, Verneigungen vollzogen, die Eskorte sammelte sich. Doch als Jhea'kryna den Blick ein letztes Mal zu Shinayna wandte, war kein höfischer Schleier mehr in ihren Augen.

In diesem Moment fasste sie den Entschluss.
Zauviir hatte sie im Rat herausgefordert, vor Zeugen. Das war nicht nur eine Beleidigung – es war ein Angriff. Und sie würde ihn beantworten. Nicht sofort, nicht mit Worten. Sondern so, dass, wenn es vorbei war, jeder in Elashinn wusste, wer das stärkste Haus war und wem der Tempel gehören würde.

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